, 24. April 2023
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Ein Jahr zuhause

Wann fühlt man sich an einem neuen Ort zuhause? Und was haben schlechte Balkan-Playlists damit zu tun? Die April-Flaschenpost von Marguerite Meyer aus Tirana.

Hinter den glitzernden Fassaden und den grossen Boulevards wirkt Tirana fast dörflich: Man kennt sich beim Gemüse-Einkauf und grüsst die Nachbar:innen. (Bilder: Ilir Tsouko)

Wann ist der Moment, in dem man sich an einem neuen Ort zuhause fühlt? Ich meine nicht einfach wohl oder entspannt oder dass es einem ganz gut gefällt. An einem neuen Ort anzukommen, ist aufregend – im besten Fall. Wenn man nicht unter Zwang oder aufgrund fehlender Perspektiven weggehen muss, sondern hingehen darf. Wenn man aus freien Stücken einen Schritt ins Ungewisse macht, die Sorge um Einsamkeit und Enttäuschung im Nacken, halb freudig, halb ängstlich.

Vor einem Jahr packte ich in Zürich den Koffer und landete in Tirana. In die albanische Hauptstadt brachte mich das Schreiben, die Neugier, die Suche nach den eigenen Wurzeln. Ich wollte einige Monate bleiben. Daraus wurde – weil ich es konnte – schlussendlich ein Jahr, mehr oder minder am Stück. In diesen Tagen werde ich zurückreisen, mit meinem Koffer und einem Extrakoffer, wegen der neuen Sommerkleider und wegen den Unmengen albanischen Bergtees, von dem all meine Schweizer Beschenkten stets so angetan waren. Natürlich wird der Koffer auch etwas Rakia beinhalten, den muss ich einfach in diesen Text schmuggeln, zwecks Klischees.

Nein, Albanien ist nicht Kosovo, erklärte ich vor einem Jahr einige Male. Man müsste mehr wissen über ein Land mitten in Europa. (Und ja, der Balkan befindet sich mitten in Europa, so wie die Schweiz mitten in Europa ist, auch wenn sie es manchmal nicht wahrhaben will.)

Marguerite Meyer, 1985, ist freie Journalistin, Autorin und Moderatorin. 2022 wurde sie mit einem Literaturstipendium der Landis & Gyr-Stiftung ausgezeichnet, das sie nach Albanien brachte. Meist ist sie in Zürich zuhause.

Ilir Tsouko, 1990, ist Fotograf. Er lebt und arbeitet zwischen Tirana, Athen und Berlin. Seine Bilder wurden unter anderem in «Republik», NZZ, «Washington Post» und dem «Zeit Magazin» publiziert.

Tirana ist eine Stadt im Umbruch, um es simpel zu sagen. Vor 30 Jahren fiel das Terrorregime des stalinistischen Diktators Enver Hoxha, eines ehemaligen Partisanen, der gegen die italienischen und deutschen Faschisten gekämpft hatte, dem aber irgendwann selbst die Sowjetunion nicht streng genug war. Der das kleine Land danach 45 Jahre lang abriegelte und die Menschen von einem alles durchdringenden Geheimdienst mit Furcht und Misstrauen gegeneinander ausspielen liess, sogenannte Klassenfeind:innen und Künstler:innen in Konzentrationslager steckte und jene an der Grenze erschiessen liess, die das Land verlassen wollten.

Und dann – nach dem Zusammenbruch des Einparteienregimes 1992 und dem Kollaps des Pyramidensystems, in dem ein Grossteil der Bewohner:innen sein hoffnungsvoll angelegtes Geld verlor, und dem darauffolgenden Bürgerkrieg 1997 – verliessen tatsächlich viele das Land. Um zu arbeiten, neu anzufangen, oft ohne Papiere, um die Familien zuhause durchzubringen. Nach Italien oder in die USA. Oder nach Griechenland, wo die Neuankömmlinge gezwungen wurden, ihre Namen zu ändern, um sie griechisch klingen zu lassen.

Heute hat Tirana ein mediterranes Flair, es fühlt sich für Neuankömmlinge an wie eine Mischung aus Neapel, Istanbul und Athen, auch wenn es rund 30 Autominuten vom Meer entfernt liegt. In Bars hört man griechische Musik. In Supermärkten gibt es italienische Waren; mit der einstigen Besatzungsmacht pflegt man heute Wirtschaftsbeziehungen. Den USA gegenüber ist man dankbar, für die Hoffnung damals und die schützende Hand heute, weswegen man Bäckereien findet namens George W. Bush und Plätze, die nach Woodrow Wilson benannt sind.

Dem amerikanischen Traum wird nicht mehr ganz so unrealistisch begegnet, aber die USA stehen immer noch für geopolitischen Schutz und persönliche Hoffnung.

Die Strasse, in der die russische Botschaft steht, wurde kurzerhand nach Kriegsausbruch in der Ukraine in «Rruga Ukraina e lirë» umbenannt, Strasse der freien Ukraine. Grundsätzlich solidarisiert man sich hier mit dem Underdog, man wisse, wie das ist, heisst es oft. Nicht umsonst werden afghanische Geflüchtete gut behandelt und nach dem Zweiten Weltkrieg lebten hier, im einzigen Land in Europa, mehr Jüd:innen als zuvor. Die Menschen hatten sie versteckt, aus der «Besa» heraus, einem Versprechen der Ehre und der Gastfreundschaft.

Das klingt jetzt alles furchtbar romantisierend, ich weiss, und die Albaner:innen kämpfen täglich mit politischem Stillstand, autokratischen Tendenzen, Korruption, massiver Abwanderung von jungen Menschen, auch gut ausgebildeten, und fehlender Infrastruktur. Tirana hat als kleine Grossstadt immer noch keine Kläranlage, unverständlicherweise, schiessen doch die Hochhäuser derzeit wie Pilze aus dem Boden, wer soll da wohnen, fragen sich die Menschen. Tirana werde das neue Dubai oder Tel Aviv, sagen die Politiker:innen, und die Menschen verdrehen die Augen, ja, aber die «Lana», der Kanal durch die Stadt, stinkt im Hochsommer trotzdem.

Der zentrale Skanderbeg-Platz mit Bauwerken aus verschiedenen Jahrhunderten, von der Oper (1953) über Sakralbauten hin zu neusten Bauskeletten.

Aber zurück zur Ausgangsfrage: Wann ist der Moment, in dem man sich so richtig zuhause fühlt? Gut aufgenommen zu werden, hilft. Nach kurzer Zeit Menschen zu finden, die einen gut finden, mitnehmen, vorstellen, «hier, das ist die Nummer von So-und-so, meld dich doch mal». Ich wurde innerhalb von einem Jahr bloss zweimal zurechtgewiesen, ich solle gefälligst Albanisch sprechen. Einmal von einer älteren Dame im Bus (die absolute Ausnahme, ältere Damen sind meistens unfassbar quatschfreudig – und neugierig). Und einmal von einem betrunkenen Mann am Flughafen, der aber alle Menschen in der Schlange individuell beschimpfte, das zählt also nicht.

Ich weiss nicht, ob das umgekehrt so auch passieren würde: Eine albanische Journalistin und Autorin kommt in die Schweiz und beschliesst, eine Weile zu bleiben. Würde sie auch so willkommen geheissen, gelobt für ihre holprigen Sprachversuche, ermuntert? Würde sie ihren Aufenthalt auch verlängern, weil es ihr gefällt? Vermutlich nicht, nur schon aus Visagründen. Ja, das ist unfair.

Ich schweife ab, nochmals zurück zur Ausgangsfrage: Der Moment, in dem man sich irgendwie zuhause fühlt, ist der, in dem man sich so richtig über alltägliche Kleinigkeiten nervt.

Wenn man den Dingen nicht mehr mit Staunen oder einem «Oha, so ist das also!» begegnet. Sondern mit einem «Nicht schon wieder!». Nicht schon wieder so ein verfluchter Smog-Tag. Nicht schon wieder die neugierigen Fragen des Taxifahrers, nein, ich habe keine Kinder, ja, ich komme aus der Schweiz, ja, ich kenne Xherdan Shaqiri, natürlich. (Wobei, Xherdan Shaqiri geht immer, eigentlich.) Nicht schon wieder eine Balkan-Playlist im Bus mit den sechs gleichen Liedern, zu denen man am Anfang noch erheitert gewippt hat. Die grummlige Nachbarin grüsst immer noch nicht, niemand hat das Loch im Asphalt vor dem Haus repariert, und ich habe schon wieder den Fehler gemacht, einen Kaffee dort zu bestellen, wo er nicht gut ist (dabei ist er praktisch überall extrem gut, Tirana ist Kaffeekultur in Reinform).

Ich schreibe diese Zeilen mit leicht wehmütigem Herzen. In der Ecke steht mein Koffer, er wartet darauf, dass ich ihn packe für die Rückreise. Das Packen zögere ich noch ein bisschen hinaus. In einigen Tagen werde ich in der Schweiz landen. Ich weiss ehrlich gesagt noch nicht, wie ich ohne dieses Grundrauschen aus Musik, Autos und Baulärm klarkommen soll. Aber wisst ihr, worauf ich mich bei allem Abschiedsschmerz freue, nebst dem Wiedersehen mit meinen Liebsten? Mich in Zürich so richtig aufregen zu können, über alles Mögliche. Home, sweet home.

Dieser Beitrag erschien im Aprilheft von Saiten.

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