, 5. März 2024
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«Feuerspeiende Wurfsterne»

Am Mittwoch ist die Autorin Simone Meier mit ihrem neuen Roman Die Entflammten im Raum für Literatur in der St.Galler Hauptpost zu Gast. Sie erzählt die Geschichte einer Frau, die Kunstgeschichte geschrieben hat. Und jener Frau, die über sie geschrieben hat.

Simone Meier, fotografiert von Ayse Yavas (Bild: pd)

Nach etwa hundert Seiten verschwimmen die Grenzen zwischen Gina und Jo. Gina, die bei ihrem Vater am Meer Zuflucht zum Schreiben sucht, Gina, die Studentin der Kunstgeschichte, die wunderschöne, die sich als «dekorative Banalität» sieht und von sich behauptet, gefühlskalt zu sein. Und Jo, die Schwägerin von Vincent van Gogh, die eigentlich für einen gewissen Eduard brannte, dann aber mit Vincents Bruder Theo glücklich wird, dem Kunsthändler, dessen Symbiose mit Vincent sie gütig erträgt. Jo, die nach Theos Tod ihrem Leben nochmals eine ganz neue Richtung gibt.

Die beiden Frauen trennt mehr als ein Jahrhundert. Gina lebt im Heute, weilt irgendwo an der italienischen Küste, und Johanna van Gogh-Bonger (1862–1925), genannt Jo, lebte in Frankreich und Holland. Eine faszinierende Frau. Das findet auch Gina und schreibt statt dem geplanten wissenschaftlichen Essay einen Roman über Jo, während sie jeden Tag um Nähe und Distanz zu ihrem Vater ringt, einem Schriftsteller, der seit seinem ersten Buch nie wieder eines fertigbrachte, was ihn schliesslich von der Familie weggetrieben hat.

Lesung mit Simone Meier: 6. März, 19:30 Uhr, Raum für Literatur, Hauptpost St.Gallen

wyborada.ch

Aus Ginas anfänglichem Interesse für die van Gogh-Familie wird eine Besessenheit. Für den Maler van Gogh hat sie allerdings recht wenig übrig, abgesehen von ihrer kindlich morbiden Faszination für Verbände und versehrte Männer. «Der Mann ist ekelerregend allgegenwärtig und neben Picasso, Warhol und so weiter einer der Gründe, wieso der Kunstmarkt heute ein völlig perverser Handelsplatz für Milliardäre geworden ist», sagt Gina.

Daran ist Jo nicht ganz unschuldig, wenn auch unbeabsichtigt. Sie war es, die nach dem Tod ihres Mannes Theo die Aufgabe übernommen hat, van Goghs Schaffen bekanntzumachen. Und das mit grossem Erfolg. Ohne Jo wäre die Kunstgeschichte eine andere. Sie hat ihm post mortem zu Weltruhm verholfen. Und anders als Gina wirft sie einen ganz anderen Blick auf die Werke ihres Schwagers: «Vincents Bilder sind feuerspeiende Wurfsterne, die in den Menschen steckenbleiben und dort etwas anrichten», sagt Jo.

Simone Meier: Die Entflammten. Kein & Aber, Zürich 2024, 272 Seiten.

Simone Meiers Erzählstil ähnelt ein wenig van Goghs spät-impressionistischen Bildern. Sie erzählt assoziativ, gefühls- und farbreich, aber nie zu plakativ oder aufgesetzt. Alles liebt und leidet in den schillerndsten Farben, mal saftig und dick aufgetragen wie van Goghs Ölfarben, dann wieder subtil und in zynischen Zwischentönen. Dazu gehören auch allerlei bissige Betrachtungen und exakt gezogene Pinselsätze; vom Elternalltag damals und heute über die Bedeutung von Austern für die Pariser Gesellschaft bis zu Gaugin und seiner Sexotisierung der «Kind-Frauen». Und natürlich die ganzen Künstlerkrämpfe.

Die Erfolgsgeschichte von Johanna van Gogh-Bonger ist mittlerweile weltbekannt. Aber so unterhaltsam, in dieser Mischung aus Roman und Doku-Fiction, war sie bisher noch nicht zu lesen. Das literarische Bild, das Meier von Jo malt, entspricht vermutlich nicht ganz der Realität. Soll es auch nicht. Vielleicht hat sich Meier wie ihre Protagonistin Gina im Fall ihres Vaters ebenfalls gefragt, wie sie beim Schreiben mit dieser Figur und diesem Mensch umgehen soll. Vielleicht auch nicht. Vielleicht beantwortet sie diese Frage ja am Mittwochabend in der Hauptpost St.Gallen, wo sie auf Einladung des Literaturhauses zu Gast ist.

Im Buch pariert Jo ebendiese Frage äusserst souverän und vielsagend: «Ich kann sie dir auch nicht beantworten, ich kann dir nur versichern, dass kein einziger Künstler, den ich gekannt habe, sich angesichts seiner weiblichen Modelle oder Musen jemals diese Frage gestellt hat, keiner.»

 

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