, 6. Dezember 2024
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Spiegelnde Wunderkugeln

Mäddel Fuchs hat über Jahre Tautropfen fotografiert. Die Sammlung erscheint jetzt als Buch in prachtvoller Aufmachung. Der in Speicher lebende Fotograf erweist sich einmal mehr als Meister der Bildmeditation.

Manchmal glänzt ein einzelner, gross wie eine Christbaumkugel, manchmal reihen sich dutzende aneinander, Perlenketten an den Fäden eines Spinnennetzes. Manchmal ein geknickter Halm, im Winkel hat sich ein Hauch von Tau gesammelt, hängt und hält. Manchmal ein Gewimmel von Tropfen, in denen sich das Gras spiegelt. Einmal im Tauspiegel eine Kuh, ein Bauernhaus, auf dem Dach stehend.

Immer, Bild für Bild, ein Naturwunder.

Die betörende Welt der Tautropfen hat es Mäddel Fuchs angetan. Über ein Dutzend Jahre hinweg hat er sie mit der Kamera beobachtet, eine Sisyphus-Arbeit, erzählt der im ausserrhodischen Speicher lebende Fotograf. Im Frühling und im Herbst waren die Chancen am besten, im Sommer würde der Tau zu rasch verdunsten. Möglichst windstill musste es sein, kalt war es oft, wenn sich der Fotograf auf die Lauer legte, dick eingepackt im nassen Gras, das Objektiv nur Millimeter von den Tautropfen weg. Jede Bewegung, jeder Atemzug konnte das Bild zerstören.

«Ein langer Lernprozess», schreibt Mäddel Fuchs im Vorwort zu seinem Buch Dewdrops, «mit unzähligen Enttäuschungen. Die Tautropfen gewähren dem Fotografen Zugang zu ihrer Welt, aber nur langsam.» Mit der Zeit wurden ihm die Tropfen zu Wesen, Individuen mit einem «Innenleben», wie er es nennt.

In diese hochempfindliche Welt taucht man in jedem der gegen zweihundert im Buch versammelten Tropfen-Porträts tiefer ein. Die Tropfen wirken auf eine eigentümliche Art belebt, sie sammeln sich zu heiteren Gesellschaften, spiegeln sich ineinander, bilden Girlanden entlang von Spinnenfäden oder kühne Skulpturen im Zusammenspiel mit den Grashalmen. Andere hängen einzeln schwer am Halm, könnten sich jeden Moment ablösen.

Das tun sie aber nicht: «Der glitzernde Tropfen / wird nicht vom Buschklee fallen / so fein er auch schwankt», schreibt Haiku-Meister Bashô sinngemäss in einem der elf Gedichte, die die Fotos durchs Buch begleiten. Der fragile Tropfen als Sinnbild von Vergänglichkeit und Beständigkeit zugleich hat die japanischen Dichter immer wieder beschäftigt – so auch Kobayashi Issa, einen anderen Grossmeister des Kurzgedichts, der uns «Grashüpfer» augenzwinkernd auffordert, die Tau-Perlen seien nicht dazu da, niedergetrampelt zu werden.

Mäddel Fuchs: Dewdrops

178 Schwarzweiss-Fotografien, Texte japanisch/englisch, everyedition Zürich 2024, Fr. 65.-

everyedition.ch

Dass seine Bilder japanisch anmuten, ist Mäddel Fuchs, wie er schreibt, früh schon aufgefallen. Spätestens bei einem Besuch im Zenkloster von Kanazawa stand der Wille fest, seine Bilder «auf japanische Art» zu publizieren. Dass das Buch dann zweisprachig, englisch und japanisch, und in kostbarster Aufmachung realisiert werden konnte, dazu trugen eine private Stifterin und der Zürcher Verleger Sebastian Cremers bei, der es in seine «Everyedition» aufgenommen und erstklassig betreut hat.

Die Dewdrops von Mäddel Fuchs sind, wie schon seine winterlichen Zaunbilder im Buch Hag um Hag (2010), eine Einladung zur Entschleunigung. Beim sorgsamen Blättern im ruhigen Rhythmus der Schwarzweiss-Fotografien rücken nach und nach Alltagswirren und Aufregungen in den Hintergrund. Die Bilder entfalten ihre eigene, stille Ereignishaftigkeit. Und sie erzählen von den Wundern, die die Natur für jene bereithält, die sich ihr so hingebungsvoll zuwenden wie Fotograf Mäddel Fuchs.

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