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Bücherpost I: Der lange Weg zur Zukunfts-Bibliothek
Am Samstag geht die Bibliothek in der St.Galler Hauptpost für das Publikum auf. Ein langer Prozess mündet damit in ein Provisorium. Eingelöst wird das Versprechen einer modernen Publikumsbibliothek. Ein paar Wünsche bleiben indes offen. von Eva Bachmann

Beginnen wir mit dem Berg der Wünsche:
24-Stunden-Bibliothek. Niederschwelligkeit. Greifbare Bücher. Kids-Club mit Bücherrutsche. Dauervorlesungsoase. Eventdock mit Musik, Hörbüchern und Poetry-Slam. Literaturcafé. Begegnungsort, Tauschbörse, Bücherflohmarkt. Schreib- und Medienwerkstätten. Sprachlernzentrum. Gemütliche Sitzgelegenheiten, Leseliegen, Hängematten. Bücherhaufen wie Wühlkisten mit Sitzkissen. Laute und leise Räume…
Der gesamte Wunschzettel umfasste 24 Seiten. Entstanden war er 2006 im KuBi-Workshop, einem Marktplatz der Ideen für ein neues Kunsthaus und eine Bibliothek. Die KuBi-Website war ein offenes Forum und eine anregende, weitverzweigte Dokumentation. Sie ist längst nicht mehr online. Aufwendig gedruckt und archiviert wurde jedoch das Resultat mit dem Namen «Buchgängerzone», das eine Perspektive aufzeigte für eine lustvolle, einladende und gross gedachte Bibliothek am Puls der Stadt – und die Hauptpost als Standort ins Spiel brachte.
Projektstatus seit 2003
«KuBi» und «Buchgängerzone» waren nicht die ersten Namen dieses Kindes. Ende 2003 hatte es noch «Bibliothek der Zukunft» geheissen und war von Regierungsrätin Kathrin Hilber als Neuorientierung der Kantonsbibliothek Vadiana in Kooperation mit Universität und Fachhochschule gedacht. Die «Bibliothek der Zukunft» wurde Teil des Fonds «Zukunft St.Gallen». Nur ein Jahr später wurde diese Zukunft an der Urne abgelehnt.
Die «Buchgängerzone» hatte einen längeren Schnauf. Nach der ersten Ideenrunde wurde 2007 eine hochkarätig besetzte Arbeitsgruppe unter Leitung des ehemaligen Zürcher Stadtpräsidenten Josef Estermann eingesetzt, die 2009 ein fundiertes «Konzept zur Neuen Bibliothek St.Gallen» vorlegte.
Der wilde Berg der Wünsche wurde etwas behauen, aber auch aufgestockt:
Vadiana, Zentrum für das Buch, Freihandbibliothek und Frauenbibliothek Wyborada als Publikumsbibliothek unter einem Dach, organisiert als GmbH. Informationszentrum und Public Library mit einem multimedialen Angebot für die ganze Bevölkerung. Bildungszentrum für Schulen und Weiterbildung. Kultur- und Begegnungszentrum, Literaturhaus. Einladendes Gebäude an einer zentralen Lage.
Das grösste gemeinsame Vielfache war damit skizziert, die Regierung stimmte zu und kaufte die Hauptpost. Doch unter der von rechts forcierten Sparpolitik krebste sie mehr und mehr zurück und verordnete sich im Januar 2011 mindestens zehn Jahre Verzicht auf das ambitiöse 70-Millionen-Projekt. Ein Nullentscheid also nach acht Jahren Planung.
Druck von unten
Diesen Tiefschlaf wollten viele Bildungshungrige im ganzen Kanton nicht hinnehmen. Es brauchte jedoch den Druck aus der Bevölkerung, um das Dornröschen wachzurütteln. Die Volksinitiative «für zeitgemässe Bibliotheken im Kanton St.Gallen» zeigte nicht nur das Bedürfnis, sondern auch einen Weg auf. 2012 wurde die Bibliotheksinitiative mit einer Rekordzahl von 10’700 Unterschriften eingereicht.
Die Bibliotheksinitiative legt neue Wünsche auf die alten obendrauf:
Public Library an zentraler Lage. Breites multimediales Angebot für die ganze Bevölkerung. Förderung öffentlicher Bibliotheken als Informations-, Bildungs- und Begegnungszentren. Gut erreichbare, attraktiv ausgestattete und publikumsfreundlich geöffnete Bibliotheken im ganzen Kanton.
Seither ging es rasch aufwärts: Inzwischen verfügt der Kanton St.Gallen über ein Bibliotheksgesetz sowie eine Strategie für die Bibliotheken im Kanton. Der erste Stock der Hauptpost wurde für 4,2 Millionen umgebaut. Die Kantonsbibliothek vollzieht den Wechsel von der Magazinbibliothek an der Notkerstrasse zur Freihandbibliothek in der Hauptpost. Die Stadt St.Gallen übernimmt vom Verein Freihandbibliothek die Bestände und führt in Zukunft als Stadtbibliothek in der Hauptpost eine Erwachsenen- und in St.Katharinen eine Kinder- und Jugendbibliothek.
Hat das Wünschen geholfen?
Ralph Hug von der Bibliotheksinitiative bewertet die Entwicklung positiv: «Wir haben eine Neuordnung der städtischen Bibliothekslandschaft erreicht. Mit der Hauptpost gibt es jetzt eine gemeinsame Bibliothek an einem zentralen Ort.» Es handle sich aber klar um ein Provisorium, das Spielraum für Entwicklungen lasse. «Der Aufbau fängt an, und er muss weitergehen.»
Die Erkundung am Wunschberg ergibt folgendes Bild:
Einladendes Gebäude an zentraler Lage. Die Hauptpost ist mit dem öffentlichen Verkehr bestens erschlossen, und Parkplätze gibt es im Neumarkt. Das Haus ist wohl kein Gehry oder Botta, aber doch eine Architekturikone aus der Jahrhundertwende (gebaut 1915 von Pfleghard & Haefeli). Zum Attribut «einladend» fehlt allerdings der Kundenkontakt im Erdgeschoss. Den Lift in den 1. Stock erreicht man von der Gutenbergstrasse her über ein paar Stufen, der Treppenlift für Rollstuhlfahrer befindet sich am Hintereingang an der St.Leonhardstrasse.
24-Stunden-Bibliothek. Die Bibliothek in der Hauptpost ist von Montag bis Freitag von 8 bis 19 Uhr geöffnet, am Samstag von 8 bis 17 Uhr. Eine 7/24-Bibliothek wird sie nicht, aber die Schalterstunden sind gegenüber dem Stand heute doch erweitert.
Breites Angebot. Die Kantonsbibliothek bringt 50’000 Medien aus den Bereichen aktuelle und klassische Belletristik (auch fremdsprachige), Sachmedien eher aus dem wissenschaftlichen Bereich und Trouvaillen aus dem Zentrum für das Buch in die Hauptpost. Ausserdem richtet sie ein gediegenes Turmzimmer mit ausgewählten Sangallensien ein. Die übrigen Magazin-Bestände können bestellt werden, ein Kurierdienst liefert zweimal täglich in die Hauptpost. Die Stadtbibliothek trägt 40’000 Medien bei: neben der aktuellen Belletristik vor allem Sachbücher von Lebenshilfe bis angewandte Kunst, Reiseliteratur, Kochbücher etc. Ein wichtiger Bereich ist auch die interkulturelle Bibliothek mit Büchern in 17 Sprachen, dazu Sprachlernmittel und Schweizer Staats- und Landeskunde. Die Bestände der beiden Bibliotheken sind getrennt, teils auch gemeinsam aufgestellt, ein Leitsystem soll helfen, dass man sich zurechtfindet. Für die Nutzerinnen und Nutzer spielt es keine Rolle, ob sie ein Medium der Kantons- oder der Stadtbibliothek ausleihen – der Schalter ist derselbe, dank RFID gibt es auch Selbstausleihe.
Multimedia. Über die Bücher hinaus gibt es Hörbücher, DVDs, CDs, Landkarten und Sprachlernmittel. Es stehen 17 Arbeitsplätze mit Computern zur Verfügung, neben einem Kopiergerät gehören Drucker und Scanner heute zum Standard. Für mobile Geräte gibt es Steckdosen und WLAN, gratis.
Für die ganze Bevölkerung. Die Hauptpost ist eine Erwachsenen-Bibliothek mit Angeboten auch für Jugendliche. Kinder und Jugendliche erhalten zwar ein ausgebautes Angebot in St.Katharinen ganz für sich allein, ein Kritikpunkt dabei bleibt: Familien werden in Zukunft beide Standorte besuchen müssen.
Frei zugänglich. Der Jahresbeitrag für die Bücherausleihe beträgt 30 Franken, neu müssen auch Nutzerinnen und Nutzer der Kantonsbibliothek zahlen.
Arbeits- und Begegnungsort. In der Hauptpost wird es circa 100 Arbeitsplätze geben. Vorne bei der Cafeteria und der zentralen Ausleihtheke wird Betrieb herrschen, doch weiter hinten im Saal soll es ruhiger sein, versichert Thomas Wieland, der stellvertretende Leiter der Kantonsbibliothek. Ausserdem gebe es die Möglichkeit, im Turmzimmer und in den Gruppenräumen still zu arbeiten. Das «Café St Gall» ist öffentlich und bietet auch ein riesiges Angebot an Zeitungen und Zeitschriften. Es ist ein einladender Ort, an dem man gerne sitzt, doch eine Sofalounge ist es nicht geworden.
Kulturzentrum, Literaturhaus. Bereits seit 2011 gibt es im dritten Stock der Hauptpost den Raum für Literatur, der sich mit seinem literarischen Programm etabliert hat. Auch im Café oder im Turmzimmer sollen Veranstaltungen stattfinden können, aber «da sind wir noch in der Planung», sagt Thomas Wieland. Die Stadtbibliothek wird gemäss deren Leiterin Christa Oberholzer ihre bewährten Veranstaltungen wie die Montagsmatinee, Bücherpräsentationen oder «Treffpunkt Buch» in Zukunft in die Hauptpost verlegen. Ausserdem wurde der Verein Pro Stadtbibliothek gegründet, der unter anderem mit Vorträgen zum Buchwesen, Ausstellungen oder literarischen Programmen zum Beleben der Bibliothek beitragen will.
Unter einem Dach. Faktisch handelt es sich um zwei Bibliotheken, die in benachbarte Räume gezogen sind und ihre Bibliothekssysteme, Kataloge und Sammlungsschwerpunkte abgestimmt haben. Organisatorisch wurden sie nicht zusammengeführt, die Idee einer GmbH wurde verworfen – man hat sich hier auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden. Die beiden Trägerschaften haben zum Beispiel zur Folge, dass die Bibliothekarinnen unterschiedliche Arbeitsverträge haben. Und die Leitungen sind parallel bis ganz nach oben: Es gibt je eine zuständige Person für den Betrieb der Kantons- bzw. der Stadtbibliothek (Thomas Wieland bzw. Lorena Ianzito), vorgesetzt sind die beiden Leiterinnen der Bibliotheken (Sonia Abun-Nasr und Christa Oberholzer) und auf der Ebene der Behörden das Amt für Kultur (Katrin Meier) bzw. das Schulamt (Marlis Angehrn).
Vorerst fünf Jahre Zeit
Ein erster Schritt ist gemacht. Für die Verantwortlichen steht zunächst das Anlaufen und Funktionieren des Betriebs im Vordergrund: «Die Umstellung auf den Freihandbetrieb war für die Kantonsbibliothek ein ‹wahnsinniger Lupf›. Wir wollen es gut machen und bei der Bevölkerung ankommen», sagt Thomas Wieland. Auch Christa Oberholzer spricht davon, dass sich das Provisorium jetzt bewähren müsse und es von den Nutzerinnen und Nutzern abhänge, ob und wie das Angebot ausgebaut werde. Für die Zukunft meint sie aber: «Eine Bibliothek für Erwachsene und Kinder am gleichen Ort wäre ein Bedürfnis.»
Von offizieller Seite heisst es, das Provisorium sei auf zehn Jahre ausgelegt. Im Bibliotheksgesetz festgeschrieben ist, dass Kanton und Stadt gemeinsam eine allgemein zugängliche Bibliothek an zentralem Standort führen. Die Regierung muss «innert angemessener Frist» eine Vorlage über Errichtung, Trägerschaft, Organisation und Finanzierung vorlegen. Die diesbezügliche Botschaft nennt als angemessene Frist fünf Jahre. Zeit also, um das Provisorium mit Leben zu füllen, diesen Vorgipfel des Wunschbergs zu beackern und zum Blühen zu bringen, um dannzumal die Kantonsrätinnen und Kantonsräte von einer definitiven Investition in den Bildungsstandort zu überzeugen.
Dieser Beitrag erschien im Februarheft von Saiten. Bilder: Peer Füglistaller
Eröffnung: Samstag 28. Februar 8 – 17 Uhr