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«Das wildelet ganz hyänenmässig»
Es ist wieder Olma, und natürlich Jahrmarkt. Der ist ein unterschätzter Kulturort St.Gallens, schreibt Gastautor Peter Müller.

«Das Jahrmarktleben auf dem untern Brühl bot auch diesen Herbst viel Sehenswertes. Das Gewoge der Menschenmenge, das Schmettern der Trompeten, der Lärm der Geschäftsanpreiser, das Knattern der Gewehre etc. erfreute wieder besonders die junge Welt. Der grössten Anziehungskraft erfreute sich das Theater Variété. Wer hätte den behelmten und beharnischten, vor Frost zähneklappernden Damen widerstehen können, sie mit ihrem Besuche zu beehren.» So stand es am 23. Oktober 1889 im «St.Galler Stadtanzeiger».
Was für eine Welt ist da untergegangen, im Bereich von Tonhalle und Spelterini-Platz, lärmig und bunt, vielfältig und abenteuerlich! Sie hat wenig Spuren hinterlassen, gerade für die Zeit der Stickereiblüte 1865-1914, eine der Glanzzeiten des St.Galler Jahrmarktes.
Die wichtigste Quelle sind die damaligen Lokalzeitungen, Inserate, Tipps und Berichte. Bildmaterial liegt aber nur wenig vor. Die St.Galler Zeitungen kannten damals noch keine Fotos. Viele Jahrmarkt-Unternehmen, die in St.Gallen gastierten, waren jedoch international tätig. Damit sind sie Bibliotheken und Archiven dokumentiert – und im Internet.
Weltreisen für die kleinen Leute
Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein waren der St.Galler Frühlings- und Herbstjahrmarkt Einkaufsorte mit überregionaler Ausstrahlung. An den zahlreichen Markständen konnte man sich mit allem Möglichen und Unmöglichen eindecken. Bei den Publikumsattraktionen dominierten bis in die 1880er-Jahre die Schaustellungen. Die Fahr-, Geschicklichkeits- und Belustigungsgeschäfte gewannen erst nach und nach an Boden.
Um 1900 war das Verhältnis einigermassen ausgeglichen. Danach verloren die Schaugeschäfte weiter an Bedeutung. Die Schaubuden präsentierten eine abenteuerliche Fülle von Themen – von biblischen bis patriotischen. Besonders populär waren das Unbekannte und Exotische, das Neue und Aktuelle: ferne Länder und weltpolitische Ereignisse, technische Erfindungen und wissenschaftliche Erkenntnisse. Das Wissen über die Welt nahm im 19. Jahrhundert stark zu. Der Jahrmarkt vermittelte es auf populäre Weise, machte es erlebbar, ordnete es ein.
Eine wichtige Rolle spielten dabei Bild-Medien, die heute weitgehend vergessen sind. Das Panorama zeigte grossformatige Bilder und simulierte dabei den Blickhorizont des menschlichen Auges. Das Welttheater kombinierte mechanische, bewegliche Figürchen mit gemalten Hintergründen sowie Licht- und Geräusch-Effekten. Sie luden zu imaginären Reisen, die einen Eindruck von der ungeheuren Weite und Buntheit der Welt vermittelten.
Kriege im Jahrmarktskino
Über das Theater Morieux, ein Welttheater, schreibt der «St.Galler Stadtzeiger» am 14. Mai 1887: «Bei den Klängen einer vorzüglichen Musik machen wir eine malerische Reise von Melbourne, Südaustralien, über Kalifornien, Indien bis zu Eisregionen des Nordpolarmeeres.»
Eindrücklich ist bei diesen Welt-Reisen das sozialgeschichtliche Moment. Fernreisen waren damals das Privileg einiger weniger; die breiten Massen konnten sich nur symbolische Fenster in die weite Welt öffnen lassen. Der «Stadtanzeiger» vom 10. Mai 1885 formuliert es pointiert: «Das muss man den Jahrmarktleuten lassen: sie sind höfliche Leute. Es wirkt auf Knechte und Mägde, Sticker und Fädlerinnen immer sehr angenehm, als ‹meine Herrschaften› angeredet und für 20 Rappen zur Besichtigung der sieben Weltwunder zugelassen zu werden.»
Diese Bild-Medien waren zum Teil sehr raffiniert. Ende 19. Jahrhundert erwuchs ihnen allerdings eine Konkurrenz, der sie nicht mehr gewachsen waren: der Film. Auch er fasste zunächst auf dem Jahrmarkt Fuss, als «lebende Photographien». Anfang des 20. Jahrhunderts kamen die festen Kinosäle auf. Zu den Highlights dieser frühen Kinos gehörten Originalaufnahmen von bedeutenden Weltereignissen, die nur einige Wochen oder Monate zurücklagen – oder gar tagesaktuell waren. Besonders beliebt waren Kriege und Beisetzungen von Monarchen und Politikern.
Freakshows
Erstaunlich ist die Vielfalt von mobilen «Museen» auf dem St.Galler Jahrmarkt. Thematisch bewegen sie sich im Bereich Naturkunde-Anatomie-Ethnologie-Geschichte. In der Regel boten sie eine merkwürdige Kombination von Belehrung und Unterhaltung, Seriösem und Boulevard. Das Gruselige und Abstossende war fester Bestandteil. So zeigte Leilichs «Anatomisches Museum» 1872 eine makabre Wachsfigur: einen verstümmelten Soldaten aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Otto Thiele präsentierte 1898 in seinem «anatomisch-wissenschaftlichen» Museum zwei echte ägyptische Mumien.
In denselben Horizont gehören die Freaks – Menschen mit einer markanten körperlichen Fehlbildung. Auch sie waren auf dem St.Galler Jahrmarkt öfters anzutreffen – von siamesischen Zwillingen bis zu «Albino-Negern». Noch häufiger traten sie allerdings in St.Galler Beizen auf. Verschiedene Wirte betätigten sich damals als kleine Showunternehmer, um die Umsatz zu steigern. Eine «Bart-Dame» oder ein «Mumien-Mensch» konnte hier durchaus hilfreich sein. Ihre Biographie war vielfach tragisch. Der «Mumien-Mensch» Dominique Castagna zum Beispiel erschoss sich 1905 in einem Hotel in Lüttich, erst zwei Jahre vorher war er in St.Gallen aufgetreten.
Völkerschauen fehlten auf dem St.Galler Jahrmarkt ebenfalls nicht. Die Shows mit Menschen aussereuropäischer Herkunft boten eine Mischung aus realem Alltag, Klischees und Folklore, hatten Elemente von Zirkus und Zoo. Heute werden sie kontrovers beurteilt. Vor allem Voyeurismus, Rassismus und Eurozentrismus werden ihnen vorgeworfen. Über ihr zoologisches Gegenstück – die Menagerien – wird hingegen kaum geredet. Dabei werfen auch diese fahrbaren Kleinzoos Fragen auf. Sie waren im 19. Jahrhundert sehr populär und Vorläufer der heutigen Zoos und Zirkusse.
Die Berichte in den St.Galler Lokalzeitungen zeigen klar: Die Menagerien gingen mit ihren Tieren unterschiedlich um. Ein idealer Lebensort waren die Kleinzoos wohl für die wenigsten Tiere. Die Fülle der gezeigten Tierarten ist allerdings eindrücklich: Da gab es russische Wölfe zu besichtigen, indische Elefanten, Affen und Bären aus aller Welt, Schlangen und Krokodile, Strausse und Papageien… Der Lärm, den diese Tiere produzierten, war offenbar beträchtlich. Dazu kam ein abenteuerlicher Duft: Das «wildelet ganz hyänenmässig», schreibt der «St.Galler Stadtanzeiger» am 20. Oktober 1883 über eine Menagerie.
«Säubert den Brühl!»
Auch grundsätzliche Kritik am Jahrmarkt fehlte nicht – vor allem von Seiten des Bürgertums. Der Jahrmarkt sei zu ordinär und naiv, erfülle seinen Bildungsauftrag schlecht. Die Qualität der Schaustellungen lasse zu wünschen übrig, es gebe zu viel Scharlatanerie und Humbug. «Mit steigendem Widerwillen haben wir in den letzten Jahren gesehen, welchen Charakter unser Jahrmarkt auf dem Brühl nach und nach annimmt. Der gegenwärtige Markt hat dem Fasse unserer Geduld den Boden gründlich ausgeschlagen, und wir fühlen uns geradezu verpflichtet, so laut und nachdrücklich wie wir es vermögen, öffentlich zu protestieren gegen diese Ansammlung von Gemeinheit und Hässlichkeit, die sich mit allerhöchst ‹obrigkeitlicher Bewilligung› vor Jung und Alt auf dem Brühl breit macht», wetterte am 1.Mai 1875 das «St.Galler Tagblatt» und schloss seine Tirade mit der Aufforderung: «Säubert den Brühl!» Ähnlich gedacht haben wohl manche rührige Pädagogen und ängstliche Beamte.
Die Berichterstattung in der damaligen Lokalpresse lässt vermuten, dass diese Vorwürfe nicht einfach aus der Luft gegriffen waren. Andererseits war die Kritik ein klares Plädoyer für das bürgerlich-anständige, volkspädagogisch orientierte Weltbild, das auf «Versittlichung» zielte und auf das Vermitteln von «höheren Werten». Sie verkannte, dass sich hinter dem Volkstümlichen und Skurrilen, Abseitigen und Morbiden auch Wahrheit verbergen kann. Die Welt geht in diesem Weltbild nicht auf – sie ist grösser und tiefer, vielschichtiger und spannender. In den damaligen Lokalzeitungen blitzt gelegentlich etwas davon auf. Die «Ostschweiz» berichtet am 2. Mai 1875 von einem Kasperli-Theater auf dem Frühlingsjahrmarkt. Im Stück triff der Kasperli auf den Tod: «Er wundert sich, wer der gute Freund eigentlich denn sei. Der sagt ihm: ‹Ich bin der Tod, der Menschenfresser› – aber der Kasperli gibt ihm sofort ‹nach den Denkgesetzen der Konsequenz› die Antwort: ‹Friss du Bratwürst, die schmecken viel besser.›»
Und die Jahrmarktbesucher?
Schwierig zu beantworten ist die Frage, wie das Publikum mit alldem umgegangen ist. Was der Jahrmarkt mit den Leuten und was sie mit dem Jahrmarkt gemacht haben: Dazu gibt es praktische keine Quellen.
Zweifellos diente der Jahrmarkt der Horizont-Erweiterung wie der Festigung von Klischees, der Unterhaltung und der Belehrung, der Bestätigung von Normen und ihrer Infrage-Stellung. Für viele war er ein wichtiger Kultur-Ort, wichtiger als das ganze (bildungs-)bürgerliche Angebot von Bibliotheken, Museen, Theater und Konzertsälen.
St.Galler Herbstjahrmarkt: 8. bis 18. Oktober, zwischen Olma-Haupteingang und Spelteriniplatz.
Dieser Text erschien in der Oktober-Ausgabe von Saiten.