keine Kommentare
«Alle sind sie tot»
Wie ein Thriller mit Sequels: Das Schauspiel «Ödipus Stadt» setzt sich aus vier griechischen Tragödien zusammen. Schwere Kost um eine von den Göttern verfluchte Familie – doch packend bis zum Schluss. Stefan Späti hat die Wiederaufnahme des Stücks am Theater St. Gallen gesehen.

In Theben will man nicht sein, auf gar keinen Fall. Nebelschwaden, dunkle Gestalten und eine bedrohliche Geräuschkulisse vermitteln alles andere als einen einladenden Eindruck. Kein Wunder: Die Stadt ist fest in der Hand von Pest und Krieg. Das sind die Rahmenbedingungen, unter denen sich König Ödipus’ persönliches Drama abspielt. Und es ist der erste Teil der Geschichte, die der Autor und Dramaturg John von Düffel aus vier einzelnen griechischen Tragödien nach Sophokles, Aischylos und Euripides zusammengefügt hat und die in St.Gallen als Schweizer Erstaufführung zu sehen ist.
Das Bühnenbild von Hella Prokoph erinnert an eine Baustelle, ein Gerüst mit mehreren Ebenen aus Eisen, Draht und Wellblech. Eine gelungene Konstruktion als Synonym für den Zerfall und die Trostlosigkeit, denen der König und seine Familie ausgesetzt sind.
Noch hält sich Ödipus wacker in seinem tristen Palast, feierlich in Weiss gekleidet, mit goldener Königs-Halskrause. Doch das Schicksal lässt sich nicht aufhalten. Der Seher Teiresias (skurril und mit angemessener Dramatik: Christian Hettkamp) lässt nichts Gutes erahnen, und ein Hirte bringt schliesslich die alten Weissagungen des Orakels erbarmungslos an den Tag. Vatermord und Inzest mit der Mutter lassen sich nun nicht mehr verdrängen.
Oliver Losehand zeigt als Ödipus intensiv die Wandlung vom zornigen Herrscher zum verzweifelten Verstossenen, der an seinem dunklen Geheimnis zerbricht und sich daraufhin selbst blendet. Da steht er nun: splitternackt und zitternd, mit einem blutverschmierten Strumpf über dem Kopf.
Gnadenloser hätte Regisseurin Katja Langenbach des Königs Seelenqualen nicht inszenieren können. Auch seine Frau (und Mutter) Iokaste, von Silvia Rhode glaubhaft als Glucke verkörpert, kann ihn nicht aufhalten. Genauso wenig, wie sie später die gemeinsamen Söhne davor bewahren kann, einander gegenseitig abzuschlachten.
Der Fluch geht weiter
Und schon ist man mittendrin im zweiten Teil des Dramas. Zorn und Machtgier werden weitergetragen in dieser Familie, gegen die der Denver-Clan wie eine Gruppe Sonntagsschüler erscheint. Diesmal ist es der mittlerweile eingesperrte Ödipus, der über seine beiden machtgierigen Söhne Eteokles (Sven Gey) und Polyneikes (Julian Sigl) einen Fluch ausspricht. Beide wollen herrschen und beide sind bereit, alles dafür zu tun. Der Bruderstreit fesselt, die Szene hat Tempo und ist eindrücklich packend gespielt. Immer wieder kommen Schlagzeug und E-Gitarren zum Einsatz (Musik: Roderik Vanderstraeten) – geeignete Instrumente, um Zorn rauszuschreien oder sich mit Adrenalin für den Einzug in den Krieg aufzupumpen.
Und weil es laut Fluch nicht anders kommen kann, hängen die beiden Streithähne samt der resignierten Mutter alsbald an Seilen tot in der obersten Ebene des Baustellen-Palastes. Nicht ohne dass sich davor noch Menoikeus (berührend in seiner jugendlichen Tapferkeit: Luzian Hirzel), der jüngste Sohn von Ödipus’ Schwager Kreon, freiwillig in den Orchestergraben-Tod gestürzt hätte – in der Überzeugung, durch dieses Opfer den Familienfluch zu bannen. Ein hörbarer Seufzer ertönt aus dem Publikum: So viel Sterben ist wahrlich schwer zu ertragen.
Das zornige Gen
Nicht minder dramatisch geht es nach der Pause zu. «Alle sind sie tot, nur wir sind noch am Leben», schreit Ismene (Wendy Michelle Güntensperger), die jüngste Tochter von Ödipus und Iokaste. Sie möchte dem Sterben ein Ende bereiten. Doch die ältere Schwester Antigone (Danielle Green) hat das zornige Gen geerbt und will Gerechtigkeit. Ihr geliebter Bruder Polyneikes soll angemessen begraben werden. Das geht gegen den Willen des intriganten Kreon (fies, dabei aber verstörend sympathisch: Marcus Schäfer), der mittlerweile die goldene Königs-Halskrause trägt. Antigone ist starrköpfig, gibt nicht nach und wird (als wäre die Geschichte nicht schon schrecklich genug) lebendig begraben. Doch auch für Kreon kommt jede Hilfe zu spät – Teiresias prophezeit seinen Tod.
Knapp drei Stunden lang besticht das Familien-Epos auf der grossen Bühne, verliert kaum je an Intensität und bleibt spannend bis zum Schluss. Die Inszenierung ist durchgängig lebendig, die musikalischen Einsätze sind wirkungsvoll eingesetzt und verströmen (teilweise etwas trashige) Film-Atmosphäre. Autor, Team und Darsteller bringen einen Thriller aus der Antike auf die Bühne, der einem heutigen in nichts nachsteht.
Nächste Vorstellungen: 22. Oktober, 27. November, 17. Dezember.
Weitere Infos: www.theatersg.ch
Bilder: Tine Edel