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Am Rand der Hölle
Wer den «Umbau», das Provisorium des Theaters St.Gallen, noch einmal erleben will, muss sich beeilen. Also nichts wie hin zur vorletzten Produktion, Messa da Requiem. Regisseur Krystian Lada macht Verdis Oratorium zur spektakulären Klang-, Bild- und Sinn-Überwältigung.

Tag des Zorns: Chor, Solisten und Tänzer Samuel Trachsel. (Bilder: Edyta Dufaj)
Stroboskopgewitter, Klangballungen, Schmerz, Schuld und Flehen um Erlösung, alles im Grossformat: Wenn es mit Giuseppe Verdi um die letzten Dinge geht und der «Dies irae», der Tag des göttlichen Zorns beschworen wird, dann scheint der «Umbau» manchmal beinah zu beben. Er hält aber. Und würde auch noch lange halten, wenn…
Eine prächtige Hülle
Das Theater zügelt bekanntlich im Herbst zurück ins renovierte Haus, das 5-Millionen-Provisorium vor der Tonhalle hat ausgedient. Niemand wollte es, ausser der freien Szene, aber die bekommt es nicht. Stadt und Kanton haben, wie diese Woche an der Hauptversammlung der IG Kultur Ost bekannt wurde, deren Gesuch um eine dreijährige Zwischennutzung abgelehnt.
So wird der «Umbau», wenn nicht die irdischen oder himmlischen Mächte noch ein Donnerwort sprechen, wohl abgebrochen, vornehmer gesagt: rückgebaut.
Dass das schade ist, spürt man überall – auf den prunkroten (an der dritten Vorstellung zwar nur zur Hälfte besetzten) Sesseln, auf der ausladenden Bühne, die Platz für Chöre, Orchester und Szenerie bietet, mit Blick auf die mächtigen Balken, die das Gebäude tragen, oder vor und nach der Vorstellung im hochaufragenden Foyer, in dem das Holz noch frisch wie am ersten Tag wirkt.
Ein Verlust, dieses Provisorium. Ein Jammer, ein Trauerspiel – darauf kann man zumindest an diesem Abend gestimmt werden, denn Verdis Werk ist seinerseits ein einziger grosser Klagegesang. Passend, dass die Wachsfiguren, die Tomasz Mroz, ein Landsmann des Regisseurs, für die Inszenierung geschaffen hat, unter dem gleissenden Scheinwerferlicht schmelzen und in die Wanne tropfen. Man sieht, man riecht, man kapiert die Vergänglichkeit alles Irdischen.
Interdisziplinäre Trauergemeinde
Trotz «Umbau»-Abschiedsschmerzen also: Die Produktion ist fast rundum zu loben. Nicht zuletzt, weil diese Messa da Requiem wieder einmal ausspielt, was Mehrspartentheater heisst oder heissen könnte. Zum Orchester, zu den Chören, zu den vier Solopartien kommen Schauspieler:innen und Tänzer:innen hinzu, ein vielschichtiges Trauerpersonal bevölkert die Bühne, Verdis Musik verstärken und befragen nicht nur Klänge, sondern auch Körper und Wörter.
Das ist, in den grossen Solo- und Chorsätzen des ersten Teils, szenisch und choreografisch phänomenal umgesetzt. Der Chor sitzt und steht um ein frisches Grab, Frauen und Männer legen Blumen nieder, murmeln Erinnerungen: So beginnt der Abend, noch bevor die ersten «Requiem»-Anrufe ertönen, weich und innig von Chor und Sinfonieorchester unter Modestas Pitrenas intoniert.
Aus der Trauergemeinde schälen sich die Solist:innen heraus, treten in Dialog, der lateinische Requiemstext wird gegen seine übliche Sperrigkeit wie von selber zum Gespräch. Wie Altistin Martina Belli in höchster Beklemmung ihr «Quid sum miser» fragt und der Chor schlagend sein «Rex» antwortet: Das ist mit höchstem Musikverstand in Szene gesetzt, so wie die gehauchten Todesanrufungen von Bass Kristjan Johannesson oder das schmerzensreiche «Ingemisco» von Tenor Christopher Sokolowski.
Man folgt der Selbstkasteiung und dem Flehen um Erbarmen mit Hochspannung bis zum «Salva me» – doch Erlösung gibt es vorläufig keine. Einer weiss das und sieht mit diabolischem Wohlgefallen vom hohen Podest auf das irdische Jammertal hinab: Tänzer Samuel Trachsel, ein androgyner Todesengel und nicht die einzige Figur, an der man sich sinnsuchend abarbeiten kann als Zuschauer.
Vier Schuld-Biographien
Das gilt vorallem für den zweiten Teil. Der Chor ist hinter dem Orchester «nur» noch als Klangkörper hörbar, die geballte Kraft der Szenerie im ersten Teil ist weg, dafür individualisiert sich das Geschehen und spitzt sich zu auf die Sopranistin und ihr vom Regisseur gesetztes alter ego, die Schriftstellerin und Selbstmörderin Virginia Woolf. Libby Sokolowski hat hier ihre grossen Szenen, dramatisch gestaltet und mit einer Kraft gesungen, die nach innen ausstrahlt.
Virginia Woolf ist eine von vier historischen Personen, die Regisseur Krystian Lada je einer der Solostimmen zuordnet. Daneben sind es Herzchirurg Christian Barnaard, die Mutter des Amokschützen von Uvalde, Adriana Reyes, und Thom Gunn, der Partner von Mike, einem der frühesten Aidsopfer. Was sie eint, ist die Schuld und Reue, die sie mit sich schleppen in bester (oder übelster) katholischer Tradition – die Schuld, über die am ominösen «Dies irae» gerichtet werden wird, den keiner so heftig vertont hat wie Verdi.
Die Stories sind nicht minder heftig, es ist Maximalschuld, was die vier Figuren auf sich geladen haben und der sie sich auf der Bühne stellen müssen, verfolgt von den Schatten ihrer Taten. Marcus Schäfer, Christian Hettkamp und Chantal Le Moing vom Schauspielensemble und die Tänzer:innen Swane Küpper, Steven Forster, Samuel Trachsel, Minghao Zhao, Guang-Xuan Chen und Emily Pak verkörpern diese Schatten- oder, wie der Regisseur es nennt, Zwischenwelt zwischen Leben und Tod.
Sie ringen miteinander und finden auch mal zusammen, besonders berührend im Agnus Dei.
Vorstellungen:
21., 26., 30. Mai, 2., 4., 11. Juni
Im langen Mittelteil zwischen den beiden Hälften des Requiems werden die vier Geschichten, unterlegt von pochenden Herztönen, ausgebreitet – eine etwas gar vollbepackte Ladung an Sterbensdramatik, mit deftiger Symbolik überlagert durch die knallgelben Wachskörper.
Rumpf, Herz, Kopf und Ohren schmelzen am Ende dahin, als gebe es Vergebung. Doch ob es die gibt – um diese Frage ringt die Sopranistin und mit ihr das ganze Ensemble und vielleicht auch das Publikum.
Illusionen werden einem rasch ausgetrieben, unter anderem mit Ausschnitten aus Czeslaw Milosz‘ «Lied vom Weltende», das unmissverständlich warnt: Das Ende ist schon da, auch wenn ihr es nicht wahrhaben wollt: «Es gibt kein anderes Ende». Geschrieben hat es der polnische Autor 1943 im Weltkriegs-Warschau, heute tönt es wie ein Orakel für den drohenden Öko-Kollaps.
Oder doch Hoffnung? In Verdis Oratorium bleibt das «Libera me» am Ende in der Schwebe. Auf der St.Galler Bühne gelingt Libby Sokolowski aka Virginia Woolf hingegen mit den letzten Takten doch die Befreiung, zumindest ein Schritt hinaus aus der Unterwerfung unter die kirchliche Höllendrohung. Sie reisst den Vorhang herunter, dahinter ist: Musik.