, 1. August 2022
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Bauchgefühle

Jetzt ist sie wieder da, die schöne Zeit in der Badi und am See. Doch sie hat ihre Schattenseite: Nackte Haut und Körperformen zu zeigen, geht für viele Menschen mit Scham und anderen negativen Gefühlen einher. Hier nochmal im Detail, warum der Schlankheitswahnsinn Bullshit ist.

«Ach wie schön, ist da etwa was unterwegs?», fragt mich eine eher unbekannte Person und schaut verzückt auf meine Körpermitte. Unter meinem T-Shirt wölbt sich mein Bauch. Da ist mit Sicherheit irgendwas unterwegs, schliesslich nehme ich regelmässig Mahlzeiten zu mir. Diese Antwort erzeugt ein peinliches Schweigen und ich hoffe, dass ein für alle Mal klar ist, dass Schwangerschaften kein gutes Smalltalkthema sind. Klar wird aber durch die Selbstverständlichkeit der Frage, was «falsche» Körperformen sind. Da kicken das gesellschaftliche Schönheitsideal, der Beautywahn und die Fitnessratgeber. Ein sichtbarer Bauch? Gibts nur in einem Fall – da muss ein Baby drin sein!

Für alle, die es nicht wussten, kommen hier breaking news: In einem Bauch sind in erster Linie Organe enthalten. Organe, die sich ausdehnen können, zum Beispiel zur Verdauung oder auch wenn die Menstruation ansteht. Organe, die Platz brauchen. Organe, denen es gar nicht gut tut, wenn sie in enge Hosen eingeklemmt oder in atmungsinaktive Shapewear gequetscht werden. Genauso wie es uns psychisch einschränkt, wenn wir ständig damit beschäftigt sind darüber nachzudenken, wie wir gerade aussehen und wie wir uns am geschicktesten kleiden oder bewegen, damit nicht auffällt, was ganz normal ist: dass unsere Körper Formen haben.

Wenn wir die physikalischen Gesetze ernst nehmen, kann Masse nicht verschwinden, sondern sich nur verändern. Wir dürfen uns also im Hinblick auf unseren Körper überlegen, wo die Grenze sein soll. Wieviel von der Welt möchte ich sein? Wieviel Platz möchte ich beanspruchen? Und was aus dem Aussen darf Teil von mir werden? Damit stellt sich automatisch eine bewusstere Ernährung ein, denn dieser Text soll bitte kein Plädoyer für massloses Fettwerden und hemmungsloses Fressen sein. Im Gegenteil, es geht um eine gesunde und positive Art, den eigenen und auch andere Körper zu betrachten.

Wenn ich mir überlege, ob etwas, das ich verzehre, zu mir gehören soll, dann fallen Fastfood, Billigfleisch, Industriezucker, chemische Farbstoffe und Geschmacksverstärker ganz automatisch aus dem Speiseplan. Wer möchte schon, dass ein gestresstes Schwein, das nur Leid und Qual erfahren hat, Teil von einem wird? Dann doch lieber eine sonnengereifte Tomate vom eigenen Balkon oder eine erdwurzelige Kartoffel vom Bauer nebenan. Aber auch Diäten erübrigen sich durch dieses Denken, denn muss ich wirklich auf etwas verzichten, das ich gerade brauche?

Wem nützen schlanke Körper? Spoiler: Kapitalismus und Patriarchat!

Gesellschaftlich ist es erwünscht, dass Körper (und zwar im Speziellen die von weiblich gelesenen Personen) möglichst schmal sein sollen, zumindest in der Bauchregion. Was haben wir aber von dünnen Frauen, frage ich mich, und finde eine Antwort in dem sehr empfehlenswerten Buch Die Wut, die bleibt der österreichischen Autorin Mareike Fallwickel, in dem sie schonungslos mit dem gesellschaftlichen Anspruch an Frauen abrechnet – der Titel ist dabei Programm.

Einer ihrer Gedanken: Je schlanker eine Person ist, desto weniger Kraft und Ressourcen hat sie. Dünne Menschen sind schmaler und damit auch weniger sichtbar, mit weniger Resonanz. Wenn wir Körperformen ganz wörtlich betrachten, so hat jemand mit mehr Kilos «mehr Gewicht», mehr Standhaftigkeit, nimmt mehr Raum ein, ist «schwerwiegender» und damit auch nicht so leicht zu übersehen oder beiseitezuschieben.

Wie wäre es also, wenn wir mal umdenken und unser Körpergewicht als Stärke ansehen und nicht als eine Belastung, für die man sich schämen muss? Das würde das gesamte System auf den Kopf stellen. Die vom Kapitalismus und Patriarchat geprägte Schönheitsindustrie würde zusammenbrechen. Herrlich wäre das!

(Bilder: Elaine Fehrenbach)

If you want to change the world, start with the (wo)man in the mirror, sagt ein Sprichwort, und so darf man jetzt die Tage im Badeoutfit als persönliche Challenge sehen. Wie begegne ich anderen Körpern? Denke ich abwertend über sie, wenn sie nicht dem Schönheitsideal entsprechen, oder kann ich etwas Schönes darin entdecken? Bin ich neidisch auf andere Formen, und wenn ja, was verspreche ich mir für Konsequenzen auf meinen Alltag davon?

Denn mal ehrlich: Was passiert, wenn ich den Bauch nicht flach einziehe? Abgesehen von Glückwünschen zur Schwangerschaft nämlich nicht besonders viel. Anderen Personen ist es zumeist relativ egal und die Unsicherheiten spielen sich vorwiegend im eigenen Denken ab.

Hierbei kann es helfen, darüber zu sprechen und für andere sichtbar zu machen, dass viele sich diese Gedanken teilen. «Heute Morgen hab ich dreimal das Outfit gewechselt, weil ich mich in nichts wohlgefühlt habe» wäre doch mal ein anderer Smalltalk-Einstieg als dieses floskelhafte «Gut siehst du aus» – «Oh danke, du auch!».

Und bitte sprich dabei nur von dir, und kommentiere andere Körper nicht ungefragt. Denn auch ein vermeintliches Kompliment wie «Du hast aber toll abgenommen» kann bei deinem Gegenüber Verletzungen oder Unwohlsein hervorrufen. Vielleicht ging das Abnehmen mit grossem Stress oder Trauer einher, dann ist es nicht schön, dafür gelobt zu werden.

Auf das eigene Bauchgefühl hören, die innere Mitte stärken

Wenn wir generell umdenken, würden wir Müttern nach der Geburt eines Kindes nicht mehr erzählen, sie seien «aus der Form gegangen», sondern wir würden anerkennen, was auch de facto passiert ist: Eine Frau hat einen Menschen geformt und ist dadurch gewachsen, über sich selbst hinaus, sie ist grösser geworden, bedeutsamer und (ge-)wichtiger. Sie hat zusätzliches Gewicht erhalten. Sie hat Kraft und Stärke, aber auch Weichheit und Wärme, und zeigt all dies nach aussen. Sie hat gelernt, auf ihr Bauchgefühl zu achten, ihre innere Mitte zu finden und diese zu stärken.

Der Bauch ist das Zentrum des Körpers und ein Ratgeber, dort ist die Intuition zuhause und ein Nervensystem, das ähnlich strukturiert ist, wie das Gehirn. Entscheidungen «aus dem Bauch heraus» sind oftmals die richtigen, von daher ist es doch fantastisch, wenn wir diesen Raum geben, sich zu entfalten. Gerade im Mutter-Sein sind es intuitive Dinge, die uns im Leben weiterhelfen. Ein Neugeborenes muss nonverbal verstanden werden, da hilft nur das Bauchgefühl.

Wir dürfen voluminöse Bäuche also nicht abwerten, sondern müssen Frauenkörper feiern für ihre Leistung, die sie vollbringen, und sie nicht gleich nach dem Wochenbett in die Gymnastik schicken, damit schnell wieder alles wird wie vorher. «Rückbildung» nennt sich das, aber auch hier gibts breaking news: Es wird nichts mehr wie vorher. Das Mutter-Sein kann man nicht wieder ausradieren, ungeschehen machen, die Zeit nicht zurückdrehen.

Und das gilt nicht nur für Frauen, sondern ganz allgemein, denn das Altern an sich lässt sich nicht stoppen. Es geht nur weiter nach vorne – oder im Fall von Körpern halt auch (Schwerkraft sei Dank) bergab. Erwachsene Menschen haben Kurven und Dellen und Falten und Wellen. Und all diese Formen haben schon so viel erlebt und getragen, gehalten und gesehen. Auf jede einzelne dürfen wir mit einem liebevollen Blick schauen und sie als Zeichen unserer Stärke ansehen.

1 Kommentar zu Bauchgefühle

  • Man sehe sich in Italien am Strand um. Alle Körpertypen sind vertreten, und alle sind entspannt. Die Bikinis sind auch im höheren bis sehr hohen Alter knapp, denn sie wollen die Sonne spühren. Vorbildlich! Ich liebe es.

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