, 18. September 2022
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Beethoven und der Ukrainekrieg

Die aus Lemberg stammende Sängern Christina Daletska brilliert in Konzerten und auf Opernbühnen und engagiert sich daneben für Amnesty. Ein Interview über Menschenrechte, den Krieg gegen die Ukraine und Beethovens Missa solemnis, die sie diesen Sonntag in St.Gallen singt.

Christina Daletska. (Bild: pd)

Christina Daletska, wie kam es zu Ihrem Engagement als Menschenrechts-Botschafterin für Amnesty International?

Christina Daletska: Ich bin seit zehn Jahren Amnesty-Botschafterin. Ein Kollege in Salzburg hat mich damals dazu gebracht. Mich für Menschenrechte einzusetzen, ist aus meiner Sicht das selbstverständlichste und naheliegendste Engagement überhaupt. Gerade wenn man ein so unglaublich privilegiertes Leben führen kann wie wir alle hier in Europa, und weiss, wie schlimm die Bedingungen anderswo sind.

In der Klassikszene ist es selten, dass sich Musiker:innen politisch äussern oder positionieren. Wie erleben Sie das?

In der Popmusik sind öffentliche Stellungnahmen gang und gäbe, in der Klassik aber tatsächlich selten. Ich glaube, das liegt zum einen daran, dass Pop ein Massenphänomen ist, wo man als Musikerin die Möglichkeit hat, Botschaften an ein breites Publikum zu bringen. Und zum andern ist es eine Frage der Konventionen. In der Klassik sind wir uns schlicht nicht gewöhnt, uns zu anderen als musikalischen Fragen zu äussern. Viele Musiker:innen konzentrieren sich ganz auf die eigene Karriere und die künstlerische Qualität ihrer Arbeit. Gesellschaftliche Themen fallen dabei weg.

Historisch war das anders: Verdi oder Mozart haben ihre Opern für ihre Zeitgenossen und mit klaren politischen Bezügen geschrieben. Beethoven hatte hohe humanistische Ideale. Klassik war in diesem Sinn nicht von jeher «klassisch», sondern tagesaktuell.

Das trifft für viele Komponisten zu, auch Schostakowitsch könnte man nennen oder Luigi Nono und einige weitere. Aber für viele heutige Interpret:innen steht ihre eigene Karriere im Vordergrund – eine Rolle spielt dabei sicher, dass klassische Musik an ihre Ausführenden gewaltige Ansprüche stellt, denen man gerecht werden muss. Aber das ist keine Ausrede.

Sind Sie für Ihren Einsatz auch schon kritisiert worden?

Es gab solche Situationen, vor allem in den ersten Jahren meines Engagements. Aber heute und insgesamt überwiegen die erfreulichen Reaktionen. Wenn Anfeindungen kommen, hilft nur eines: miteinander reden. Und dranbleiben.

Das Konzert

Ludwig van Beethoven: Missa solemnis. Mit Nathalie de Montmollin (Sopran), Christina Daletska (Alt), Achim Schulz (Tenor), Manuel Walser (Bass), Tablater Konzertchor St.Gallen und Motettenchor Region Basel, Leitung: Ambros Ott.

25. September 17 Uhr Kirche St.Laurenzen St.Gallen

tablater.ch

Wie verknüpft sich für Sie Beethovens Werk und seine Missa solemnis mit dem Thema Menschenrechte?

Beethoven ist d e r Menschenrechts-Komponist schlechthin. Für mich ist sein Werk seit jeher zentral, die Emotionen, die es hervorruft, die Welt, die er uns auftut, das dringt tief in alle Schichten ein und berührt bis heute. Die Missa solemnis ist mein absolutes Lieblingswerk. Vor inzwischen 14 Jahren habe ich sie zum ersten Mal gesungen. Es gibt ja bloss wenige Chöre, die sich an das Werk heranwagen – viele Jahre klappte es daher mit einer Wiederholung nicht. Und dann kam Corona. Entsprechend glücklich bin ich, dass die Aufführungen jetzt zustande kommen – allerdings in einer Situation mit dem Krieg gegen die Ukraine, die sich vor kurzem niemand hätte vorstellen können. Das ist schrecklich, so schrecklich wie nie mehr seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich versuche mit dieser Situation zu leben, aber es ist schwierig.

Was wissen Sie von der Situation der Musiker:innen in der Ukraine?

Ich werde Anfang Oktober an einem Konzert in der Philharmonie in Lemberg, meiner Heimatstadt singen. Wir planen, als ob alles normal wäre, aber niemand weiss, ob die Philharmonie dann noch steht. Im bisher vom Krieg mehr oder weniger verschonten westlichen Teil des Landes geht das Musikleben weiter, sogar besonders intensiv nach dem Unterbruch durch Corona. Die Menschen bleiben dran, als ob nichts wäre. Es gibt keinen anderen Weg. Und Konzerte können ein bisschen Balsam für die Psyche sein.

Es wird viel über die Frage diskutiert, ob man russische Musiker:innen boykottieren soll. Was ist Ihre Haltung?

Bei Künstlern, die eine Nähe zum Regime haben und sich nicht aktiv gegen den Krieg aussprechen, gibt es für mich nur eine Antwort. Man würde auch nicht mit jemanden zusammenarbeiten, der sich zu Hitler bekennt. Aber russische Kultur insgesamt zu boykottieren, ist falsch und macht es den russischen Künstler:innen, für die dieser Krieg selber herzzerreissend ist, noch schwerer.

Die St.Galler Festspiele haben die Tschaikowski-Oper Orleanskaja Deva abgesagt. Zu recht?

Das ist für mich eine Grauzone. In jedem Fall ist es richtig, genau hinzuschauen, in welchem Kontext ein Werk steht und entstanden ist, und jeden Komponisten einzeln anzuschauen. Im Grunde genommen kann man aber Musik gar nicht von Menschenrechten trennen – Musik zu machen, ist menschlich und bringt Menschen respektvoll zusammen.

Amnesty International hat Anfang August kritisch über Menschenrechtsverletzungen durch die ukrainische Kriegsführung berichtet. Gegen den Bericht gab es lautstarke Proteste. Wie sehen Sie das?

Amnesty hat inzwischen ein offenes Statement dazu publiziert. Und ich kann sagen: Nur die wirklich Grossen sind es, die auch eigene Fehler einräumen und sich dadurch verbessern. Amnesty ist jetzt ein Muster an Krisenmanagement und richtigem Handeln. Im Allgemeinen möchte ich ergänzen: Die althergebrachten Begriffe, die wir für Menschenrechte haben, auch für Neutralität oder für die Regeln des Kriegsrechts, taugen im jetzigen Krieg nicht mehr. Mit einem Beispiel illustriert: Sie werden zuhause überfallen, vergewaltigt, gefoltert. Die Angreifer bleiben, foltern immer weiter. Irgendwann schlagen Sie zurück – und werden danach verurteilt, weil Sie die Menschenrechte verletzt hätten. Genau das passiert mit der Ukraine.

Sie setzen sich mit Benefizkonzerten, auf Podien und mit Hilfsaktionen für die Ukraine ein – haben Sie noch die Kraft dazu nach inzwischen sechs Monaten Krieg?

Ich habe keine andere Wahl, genau wie all die Menschen, die das Land an den Fronten verteidigen. Jetzt – noch viel mehr als vorher – gilt: nicht aufgeben! Die Hilfs- und Spendenbereitschaft sinkt von Tag zu Tag, der Krieg ruft meistens kein Entsetzen mehr hervor – er ist zur Normalität geworden. Man hat genug… aber Russland tötet und verstümmelt und zerstört weiter. Pausenlos. Und ich befürchte, dass der Krieg noch lange dauert und noch katastrophaler werden kann (man denke z.B. an das AKW Saporischschja!), wenn Russland nicht ganz bald gestoppt wird.

Was sind Ihre nächsten musikalischen Projekte?

Ich singe neben der Missa solemnis auch Beethovens «Neunte», in Milano und Torino. In Brüssel, Strassburg, Hamburg, Köln und Dresden führen wir Migrants II des griechischen Komponisten Georges Aperghis auf, die Fortsetzung einer ersten Komposition zum Thema Migration. Die Zusammenarbeit mit ihm ist mir besonders wichtig, weil ihn die selben Themen beschäftigen. Zudem bin ich an einem Projekt unter dem Arbeitstitel «Requiem für die Ukraine» beteiligt. Manourys Vier Lieder aus Kein Licht (für mich arrangiert) singe ich in Paris mit dem Ensemble Intercontemporain, Mahlers Lied von der Erde, inszeniert von Philippe Quesne, in Paris und Dijon. Das Werk ist auf seine Weise auch ein Statement für die Gegenwart. Es freut mich, dass meine musikalischen Aufgaben oft gut zusammenpassen mit meinem Menschenrechts-Engagement.

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