, 4. Januar 2023
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Da begann es mir zu grauen

Reflexionen zur Rückführung der Mumie Schepenese. von Florian Vetsch

Wer in St.Gallen aufwächst, begegnet der in der Stiftsbibliothek aufgebahrten Mumie Schepenese zum ersten Mal in der Schule. Von da an gehört sie dazu, ist sie internalisiert.

So geschah es auch mir.

Allerdings entwickelte ich bereits als Gymnasiast ein spezifisches Interesse für die altägyptische Kultur: Ich schwelgte in Mika Waltaris epischem Wälzer Sinuhe der Ägypter, las die Totenbücher, bewunderte die Architektur der Tempel und Pyramiden, vertiefte mich in die Symbolik und Mythologie, studierte an der Uni Zürich nach der Matura ein Jahr lang Ägyptologie bei Professor Kaplony und unternahm gar einen Trip von Piräus über die Libysche See nach Alexandria, Kairo, Gizeh, Sakkara:

 

Das Rätsel

Wir hatten uns zu dritt im Sommer 1980 auf der Akropolis
Verabredet, in einem zwielichtigen Hotel in Athen
Übernachtet, Kabinen auf einem Passagierschiff
Über die Libysche See gemietet, am Pool
Auf dem Hauptdeck fing ich mir einen dreitägigen
Sonnenbrand auf den Oberschenkeln ein

In Alexandria wurden wir gleich beim Zoll
Übers Ohr gehauen, irrten darauf durch die Stadt
Zum Glück stiessen wir auf einen hilfsbereiten
Ägypter, der uns zum Busbahnhof
Brachte & drei Gäste im Car dazu
Überredete, uns ihren Platz zu überlassen
Für sie spielte es keine Rolle, ob sie heute
Oder morgen nach Kairo kamen

Die Fahrt im blau ausgekleideten Car peilte
Schnurgerade durchs Nildelta, es war so heiss
Dass wir die Vorhänge zuzogen
Durch die Schlitze bretterte graugelb
Die ausgebrannte Landschaft an uns vorbei

In Gizeh angekommen, bezogen wir einen
Bungalow & schlenderten am nächsten
Morgen zur Cheopspyramide –
Auf dem Weg fiel mir ein Mann
Am Rand eines kleinen Suqs auf
Reglos kauerte er im Schatten

& dann sahen wir ihn, den Sphinx
Den mächtigen steinernen Löwen
Mit der Traumstele zwischen seinen
Ungeheuren Pranken bewachte er
Die Totenstätte seit über 4000 Jahren
Der Sand hatte ihn ab & an zugeschüttet
Bis zum Hals, liest man; das Schlimmste aber
War der Gottesraser, der dem Götzen
Im Mittelalter das Gesicht zerschlug & vom
Lynchmob unverzüglich hingerichtet wurde
Demgegenüber verläuft die Arbeit
Von Regen, Wind & Sand
Ruhig am Rand vom Totenland

Als wir nach mehreren Stunden
Zum Bungalow zurückkehrten
Hungrig wie die Löwen
Bemerkte ich, dass der Mann
Am Rand des kleinen Suqs
Noch immer reglos im Schatten kauerte

Was ist, wie geht Zeit?
So lautet das Rätsel

 

1986 schrieb ich die Erzählung Das Brettspiel, die im alten Ägypten spielt; Rolf Winnewisser hat sie unlängst illustriert und in einem hübschen Privatdruck (Lenzburg, April 2022) herausgegeben. Darin erzählte ich die Entstehung eines Gedichts und verwendete dazu auch Hieroglyphen wie:

(Thot)

 

(erzeugen)

 

Und 1988 nahm ich an einer mir unvergesslichen Bildungsreise teil, die über Kairo und den Sinai nach Ibillin und Jerusalem führte:

Wir erklimmten Masada, durchquerten den Negev, lasen Zeitung im Toten Meer, schauten uns die Kreuzfahrerstadt Akko an der Levante an. Da bot mir Karl Hufenus, einer der Reiseleiter, an, für einen Tag aus der Gruppe auszuscheren und eine palästinensische Familie in Ibillin, bei der er länger gelebt hatte, zu besuchen. Gerne nahm ich an. Ich war völlig übermüdet. Die vielen Eindrücke der letzten Tage wollten verarbeitet werden. Zudem hatte ich am Fuss von Masada, angestachelt von der Nachricht, dass ich bald Vater werden würde, über alle Schnüre geschlagen und bis in die Puppen zu jüdischer Klezmermusik getanzt. Ich war völlig erschöpft, wollte nur noch schlafen. Und so kamen wir in Ibillin an. Schon im Bus war ich trotz der Schlaglöcher weggedämmert. Überschwänglich wurden wir von der Familie Shomaly willkommen geheissen, hereingebeten. Ich sagte ein paar freundliche Worte zu jedem einzelnen Familienmitglied, schwang mich aufs Sofa und sackte weg. Bevor ich in die Zonen des Schlafs eintauchte, spürte ich, wie mir die älteste Schwester des Hauses eine Decke überwarf und mit ihrer sanften Hand über meinen Rücken strich. Ich schlief. Bei jemandem in der Stube, dem ich noch nie zuvor begegnet war. Dann und wann zerrissen Gesprächsfetzen und Gelächter den Vorhang des Schlafs. Irgendwann am Nachmittag kam ich wieder zu mir. Ein grosser Kerl, der 16-jährige Sohn des Hauses, hievte eine riesige Melone aus dem Garten. Kardamon-Kaffee, Tschai, Melonenschnitze, Tom & Jerry am TV, eine gleissende Sonne… Diese Geste der Gastfreundschaft, anzukommen und einfach schlafen zu können, unbefragt, werde ich nicht vergessen, dieses bedingungslose Aufgenommenwerden als Fremder. «Reine und unbedingte Gastfreundschaft, die Gastfreundschaft selbst, öffnet sich, sie ist von vorneherein offen für wen auch immer, der weder erwartet noch eingeladen ist, für jeden, der als absolut fremder Besucher kommt, der ankommt und nicht identifizierbar und nicht vorhersehbar ist», schrieb der Philosoph Jacques Derrida, und ich war glücklich, diese Erfahrung im fernen Palästina zu machen. 

 

1997 drehte der Regisseur Daniel Guthmann, auf meine Anregung hin, den Cut-up Autor Jürgen Ploog in der Stiftsbibliothek neben der Mumie Schepenese beim Zerschneiden von Dokumenten für den Film Cut-up Connection – Die Algebra des Überlebens (Berlin 1998). Die Aufnahmen gehören zu den Schlüsselszenen dieses Autorenporträts. Sie visualisieren Ploog im direkten Bruch mit der Tradition, beim Zerschneiden von Manuskripten, und zwar an dem Ort in der altehrwürdigen Stiftsbibliothek, exakt an der Stelle, an welcher der kulturelle Code des barocken Lesesaals aufbricht und sich in der christlichen «Seelenheilstätte» das eindrückliche Zeichen aus dem altägyptischen Totenkult einrichtet.

Damals entdeckte ich auch Oum Khoulthoum (1898–1975), eine Art ägyptische Maria Callas oder eine Cecilia Bartoli aus dem Nildelta, wenn man so will, auf jeden Fall bis heute die charismatischste klassische Sängerin aus dem arabischen Raum. Sie bewegte mit ihren Liedern die Herzen der Ober- wie der Unterschicht und schlug im Verlauf ihrer Karriere mehr Tonträger als Elvis und die Beatles zusammen (sic!) los. Ich verschlang zwei Biografien, las ihre Liedtexte in einer französischen Übersetzung und hielt 2010 in der mit der Fotografin Amsél herausgegebenen Tanger Trance diese kleine marokkanische Erinnerung fest:

 

Oum in der Taxe

Um 17 Uhr sollte ich mich wieder in Tanger einfinden, und so hatte ich, um hinreichend Zeit zu haben, eine weisse Taxe so gegen 15 Uhr auf dem grossen Platz vor dem Eingang zur Medina von Asilah genommen und tuckerte jetzt auf der Autostrasse, der alten, den Atlantik entlang. Aus dem Radio schepperte arabische Musik, klassische, ein Intro mit Akkordeon, einer mit viel Hall gespielten Gitarre, mit Trommeln und schliesslich dem ganzen orgiastischen Orchester – eine Pause – dann setzte eine tiefe Frauenstimme ein: «We marret el ayam…» – «Ist das Oum Khoulthoum?», fragte ich. – «Ja, das ist Oum Khoulthoum, die grösste arabische Sängerin.» Wie der Fahrer spürte, dass ich mich für Oums Lied begeisterte, lenkte er den Wagen an den Strassenrand, stellte den Motor ab und die Musik lauter. Wir lauschten. – Als ein neues Stück von einem anderen Interpreten angesagt wurde, ging die Fahrt weiter.

 

(Falls Sie das Video beim Autofahren oder in der Taxe schauen, bitte kurz rechts ranfahren.)

In der Oktober-Ausgabe der Entwürfe veröffentlichte ich 2003 ein Gedicht, in dem Schepenese eine Rolle spielt; darin setze ich sie mit der Ortsheiligen Wyborada, der Schutzpatronin der Bücher und ersten von der katholischen Kirche heiliggesprochenen Frau, sowie mit der weltliterarisch relevanten «Mutter der Avantgarde», mit Gertrude Stein, in Verbindung:

 

Nachrichten von Wyboradas Verwandtschaft

Dass ihre Muhme Schepenese heisst, entdeckte man
erst, nachdem sie den Mönchen ein Licht
gesteckt hatte & die Marteraxt aus der Blutlache
beseitigt war. Doch vom Löffel & der Nackenstütz
gab man früh Bescheid / Lettergeistin, harte
Lukenratbrecherin: bete für uns / Käsemesser
werden heute im Zeichen ihrer wundersamen
Buchhüllen gewaschen. Es ist ein grosses Problem dieses
Problem des Waschens, sagte Gertrude,
ihre Schnur.

 

In all dieser Zeit schätzte ich denn Schepeneses Präsenz in unserer alten Stadt der Bücher sehr, besuchte sie auch dann und wann mit der einen oder anderen Schulklasse des Gymnasiums vom Burggraben, zeigte sie Gästen aus dem In- und Ausland… Riss auch mal einen Scherz à la: «Von all meinen Freundinnen aus der Gegend ist Schepenese diejenige, die für ihr Alter einfach noch immer umwerfend gut aussieht!»

Deshalb war mein erster Reflex, als Milo Rau mich Ende September 2022 einlud, dem Komitee zur Rückführung der Schepenese beizutreten: «Ich will sie nicht hergeben!» Doch dann las ich den ersten Entwurf der «St.Galler Erklärung» – und geriet ins Nachdenken…

Was, wenn Schepenese meine Schwester, meine Mutter, meine Tochter, eine liebe Freundin wäre?

Was, wenn sie es gewesen wäre, die mir einmal gastfreundlich die Decke überwarf und deren Hand sanft über meinen Rücken strich?

Da begann es mir zu grauen.

Diese empathische Regung durchdringt alle Zeiten, betrifft das Menschliche schlechthin.

Ein ähnliches Grauen überkam mich, als ich auf die Geschichte von Angelo Soliman (1721–1796) aufmerksam wurde. Soliman, ein Sprössling der Häuptlingslinie der Magumi Kanuri aus Nigeria, geriet bereits als Kind in den Sklavenhandel. Im Alter von zehn Jahren wurde er nach Messina verschifft, wo eine Marquise für seine Ausbildung sorgte. Mit 13 Jahren kam er in den Dienst des österreichischen Fürsten von Lobkowitz, wurde dessen Kammerdiener und Reisebegleiter.

In einer Schlacht rettete er als Soldat das Leben seines Herrn, was seinem Ansehen Flügel verlieh. Soliman stieg in Wien zum Fürstenerzieher auf, verkehrte in den höchsten Kreisen, leistete etwa Kaiser Joseph II. Gesellschaft, wirkte im Beamten-Collegium der elitären Freimaurerloge «Zur wahren Eintracht», die der Intellektuelle Ignaz von Born leitete, in der Joseph Haydn einsass und die Mozart vornehmlich besuchte.

Dennoch wurde nach seinem Tod durch einen Schlaganfall Solimans Leichnam vom Kaiserlichen Naturalienkabinett usurpiert, ausgestopft und ausgestellt, als Prototyp eines Wilden, im Lendenschurz, mit Federbusch und Muschelketten – trotz der Proteste seiner Tochter Josephine von Feuchtersleben, die vergeblich um eine würdevolle Beisetzung ihres Vaters bat. 1848 verbrannte das grässliche Exponat im Zug der Wiener Oktoberrevolte. – Undenkbar eigentlich, dieser brutale rassistische Akt im aufgeklärten Wien, und doch ist er vorgekommen.

Nun stell dir vor, du hättest Schepenese gekannt:

Um 630 v. Chr. – die Geschichte des 3000-jährigen Reiches geht in die Spätzeit über – waten die Füsse der Schepenese, Tochter der Tabes und des Amunpriesters Pestjenef, einer Angehörigen der weithin gerühmten Besenmut-Familie, durch das kühle Nilwasser bei Luxor; ein Nachen erwartet sie. Ihre Hände streifen das Schilf, berühren Papyruspflanzen. Oder ihre Sohlen betreten am Morgen die taufrische grunelnde Feuchte am Rand des Nils. Auf den nahen Feldern befühlen ihre Fingerspitzen die Reife der Gerstenähren.

Schepenese ruht sich gerne im Schatten der Palmen, Tamarisken und Sykomoren aus. Die Zimmer und Kammern ihres Hauses sind hoch, die Mauern dick und stark, sie kühlen während der Hitze des Sommers und geben in der kalten Jahreszeit, unterstützt von Feuer, warm.

Schepense schätzt, wie viele Menschen, das Schöne. Mit ihren Zofen besucht sie dann und wann den Markt der Händler, liebt die Stoffe, die Duftsalben aus den zierlichen Phiolen. Und sie nimmt an esoterischen Ritualen teil, an Mysterien, deren Abglanz noch Platon rund dreihundert Jahre später dazu verführen wird, die Griechen als Kinder im Vergleich zu den Ägyptern zu bezeichnen.

Die Göttinnen der Fruchtbarkeit, der Gerechtigkeit und des Himmelszeltes, Isis, Maat und Nut, sind ihr heilig – sowie Osiris, der Totengott, und Amun, welchen die Griechen Zeus, die Römer Jupiter gleichsetzen werden.

Doch ihr spirituelles Augenmerk liegt auf der sorgfältigen Vorbereitung auf das Leben nach dem Tod; darauf verwendet sie einen grossen Teil ihrer Zeit. In dieses geht sie ein, mumifiziert, einbalsamiert und im Innen- und Aussensarg wohlverwahrt, als sich das Tor zu ihrer Grabkammer in der sogenannten Hathor-Kapelle im südlichen Teil des Tempels der Hatschepsut in Deir al-Bahari  schliesst – für viele, viele Jahrhunderte.

So war Schepenese ein selbstbestimmtes Subjekt über ihren Tod hinaus. Doch als das Tor der Totenkammer aufgebrochen und ihre Grabesruhe gestört wurde, wurde sie zum Objekt, zur Ware. Aus den Händen der vermutlichen Grabräuber, die sehr wohl wussten, dass in Europa eine lukrative Ägyptomanie ausgebrochen war, geriet sie in den Besitz des deutschen Doktors Roux, der sie dem St. Galler Landammann Karl Müller-Friedberg zukommen liess. Dieser verkaufte die Mumie, nachdem er sie 1820 als Leihgabe freigemacht hatte, 1836 für die erkleckliche Summe von 440 Gulden an die katholische Kirche.

Milo Raus Kunst-Aktion zur Rückführung der Schepenese deckte einen blinden Fleck in meiner Wahrnehmung auf. Auf solche Weise hatte ich noch nie über diese Mumie nachgedacht. Durch Milo Raus Anstoss wurde Schepenese für mich wieder zu einem Subjekt.

Dass Kunst dies kann, ist etwas Grossartiges: Tote in Lebendige verwandeln, ein tiefes Mitgefühl wecken, die Wahrnehmung erweitern.

Stets intendiert Milo Raus Kunst, in Mikrozellen eine Alternative zu organisieren, eine Gegenwelt ins Leben zu rufen zu der hierarchischen Welt der Macht und der Wirklichkeit, welche die Bestie Kapital schafft. Seine Kunst will einen Orient aufleuchten lassen für die Verbesserung der gebeutelten Welt, in der wir leben. 2016 schloss er die Dankesrede für den ITI-Preis der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin, mit diesen Worten:

«‹Die Fenster des Himmels stehen weit offen›, heisst es in einem religiösen Lied. Das Theater, so denke ich, kann diese Fenster einen Spalt weit öffnen. Und auch wenn sie gleich wieder zugeschlagen werden: Man hat den Himmel kurz gesehen.»

Ja, den Himmel kurz sehen: Schepenese als Subjekt erfahren, einen Austausch mit Ägypten pflegen, in dem Gelehrte und Kulturschaffende von hierzulande Gelehrte und Kulturschaffende aus Ägypten treffen, in dem Vorträge und Symposien gehalten werden über Papyri, Handschriften, Bibel- und Koran-Übersetzungen, christliche und muslimische Legenden, über Jenseitsvorstellungen, das Bild des Ritters im Orient und Okzident, die Stellung der Frau im alten und modernen Ägypten, den Umgang mit Toten etc. pp.

Der senegalesische Philosoph Felwine Sarr hat 2016 den Essay Afrotopia über das utopische Potential Afrikas geschrieben. Afrotopisches Potential birgt denn auch der Fall Schepenese, wenn er den soeben nur in Strichen angedeuteten Himmel aufleuchten lässt.

Wie so oft, wenn sich Milo Rau auf eine Region konzentriert, stösst er auf einen neuralgischen Punkt; so in Moskau, Matera, Mosul, im Kongo, im Amazonas – und so auch hier in St.Gallen. Wo auch immer sprengt die Arbeit dieses Visionärs den White Cube der Kunstwelt und inszeniert eine politisch und sozial relevante Situation.

Doch die Nerven lagen auf Seiten der Stiftsbibliothek blank, als am 17. November 2022 Milo Rau den grossen Kulturpreis der St.Gallischen Kulturstiftung in der Höhe von 30’000 Franken erhielt, nur um ihn in die Rückführung der Mumie Schepenese zu investieren.

Zu Beginn stiess das Anliegen auf inquisitorische Ablehnung. Das überraschte mich. Ich hätte erwartet, dass sich die Leitung der Stiftsbibliothek darüber freuen würde, dass ein international renommierter, ein so wegweisender Avantgardist wie Milo Rau auf sie zukommt und sie zu einer Zusammenarbeit auffordert – zumal namhafte vorangegangene Stiftsbibliothekare die Ausführung der Mumie bereits ins Auge gefasst hatten; auch rückte die Stiftsbibliothek wie seit Jahrzehnten nicht mehr ins öffentliche Rampenlicht – ein Werbeeffekt, den keine gezielte Propaganda je hätte erreichen können.

Apodiktisch reagierte anfangs auch die katholische Kirche auf den Versuch, diesen weiblichen Körper ihrer Obhut zu entreissen. Warum ihre Repräsentanten glaubten, dass kein Mitglied ihrer Gemeinde die Rückführung der Schepenese unterstützen würde, ist mir schleierhaft, denn die jüdisch-christlich-islamische Tradition kennt den Respekt vor den Toten.

Mir fuhren angesichts des als selbstverständlich vorausgesetzten Besitzanspruchs die Verse aus Goethes Faust durch den Kopf:

 

Die Kirche hat einen guten Magen,
Hat ganze Länder aufgefressen
Und doch noch nie sich übergessen;
Die Kirch allein, meine lieben Frauen,
Kann ungerechtes Gut verdauen.

 

Selbst von manchen zumal regionalen Journalist:innen und Dozent:innen bekam man als Kommentar zu Milo Raus Kunst-Aktion lediglich ein hämisches Geschwurbel oder eine intellektuelle Dünnbrettbohrerei zu lesen: Man warf dem Theatermacher vor, dass er Theater mache, dass es ihm nur ums Spektakel, um Effekthascherei, gehe, dass er die Hand beisse, die ihn nähre, ja dass er sich an St.Gallen für den nicht zuerkannten Kulturpreis von 2018 rächen wolle.

Doch frei von allen Ressentiments bekennt sich Milo Rau bis heute als «Ultra St.Galler»; seine äusserst lesens- und hörenswerte Zürcher Poetik-Vorlesung III vom 16. November 2022 ist gespickt mit Stichen gegen Zürich und mit Lanzen, die er für St.Gallen bricht. Seinem Zugehörigkeitsgefühl zu St.Gallen, wo er Kindheit und Jugend verbracht hat, entspringt auch die grosszügige Geste, den Preis nicht einfach einzuheimsen, sondern für St.Gallen fruchtbar zu machen. Viele Kommentare verkannten diese Grosszügigkeit total.

(ab Minute 34:30 schauen)

Manche Stimmen glaubten, die Flamme der Begeisterung für die Rückführung der Schepenese im kühlen Bad der Wissenschaftlichkeit ersticken zu müssen, warfen Rau und dem Komitee Ungenauigkeit, Unsachlichkeit oder übertriebene Emotionalität vor. Doch Dramatisierung gehört konstitutiv zum Theater.

Und was das wissenschaftliche Gewicht betrifft, sitzt im Komitee zur Rückführung der Schepenese Bénédicte Savoy ein, die mit Felwine Sarr 2018 im Auftrag der Macron-Regierung den Bericht zur Rückgabe französischer Raubkunst nach Afrika vorlegte. Und auf kath.ch gab der Starägyptologe Jan Assmann ein Interview, in welchem er die Ausstellung der Schepenese in der gegenwärtigen Form klar verwarf.

Selbst eine Wokeness, welche die Leute spalte, wurde Rau vorgeworfen, in offensichtlicher Unkenntnis seiner Bemerkung zum allgegenwärtigen Wokeness-Hype im Interview mit der NZZ vom 8. November 2022: «Wenn ich zum Beispiel das Wort ‚woke‘ nur geflüstert höre, schlafe ich ein.»

Und Politiker:innen von der Mitte und der Rechten liessen sich zu postkolonialistischen Äusserungen hinreissen wie: «Diä händ bis gnueg Mumiä döt unä.» Keiner «dort unten» verlange nach Schepenese… Aus der Pressekonferenz erinnere ich mich genau daran, dass Monica Hanna, Ägyptologin und Dekanin der Abteilung für Cultural Heritage der Universität Assuan, auf diesen Vorwurf erwiderte, sie könne nicht für die ägyptische Regierung sprechen, aber für das ägyptische Volk, und dieses wolle die Mumie der Schepenese sehr wohl zurück.

Parenthese: Die Überführung von 22 Mumien aus dem alten Museum am Tahrir-Platz ins neue Museum für Ägyptische Zivilisation vom 3. April 2021 geriet für die Militärregierung unter al-Sisi zu einer pompösen nationalistischen Propangandafeier – auf diesen politischen Kontext gilt es im Fall einer Rückführung der Schepenese wachsam und kritisch zu achten.

Wiederum andere Stimmen bestanden darauf, dass Schepenese nur hier in St.Gallen sorgfältig bzw. auf dem höchsten technischen Stand konserviert und ausgestellt werden könne.

Solche im Grunde unverhohlen eurozentristischen Kommentare ähnelten jenen, die ich gleichzeitig über die marokkanische Fussballmannschaft an der WM in Katar zu hören bekam: Afrikanische Spieler seien zwar laufstark, hätten aber als Mannschaft nicht die Technik, Disziplin und Strategien der grossen Fussballnationen – doch dann schickte Marokko Belgien, Kanada, Spanien und Portugal heim und errang den vierten Platz. Wer hätte das gedacht?

Und wer hätte angesichts dieser zerstrittenen Ausgangslage gedacht, dass die Stiftsbibliothek und die katholische Kirche im Dezember, nach der Lektüre des von über 200 ägyptischen Gelehrten, Ägyptolog:innen, Künstler:innen, Student:innen und Mitgliedern der Zivilgesellschaft unterschriebenen offenen Briefes zur Rückführung der Schepenese, einlenken würden, um das Anliegen «seriös» zu überprüfen? So ist die Debatte um Schepenese in vollem Gang. Man darf gespannt sein, wie sich die Sache weiter entwickelt. Im Stadtparlament ist ein Vorstoss geplant…

 

 

 

 

 

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