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«Dass keiner auf einen wartet»
Ostschweizer UMA berichten in einem Buch von ihrer Flucht und vom Leben in der Schweiz. Am Samstag laden Solidaritätsnetz und Wyborada zur Vernissage von «Mutter, mach dir keine Sorgen, das ist eine ganz andere Welt».

Alem. (Bilder: Ahmad Motalaei)
«Wenn du den Weg von Afghanistan in die Schweiz gefunden hast, findest du auch den Weg von Kreuzlingen nach Oberbüren.» Alem ist fünfzehn, als er in der Schweiz ankommt und mit diesen Worten vom Empfangszentrum Kreuzlingen weitergeschickt wird. In Oberbüren im Thurhof bleibt er anderthalb Jahre, dann wird er in die Marienburg (wo es «wie in einem Gefängnis» zu- und herging, sagt Alem) umquartiert, schliesslich findet er eine Wohngemeinschaft und eine Lehrstelle als Treppenbauer.
Von Afghanistan in die Schweiz: Alem flieht aus seinem Dorf, nachdem sein Vater bei einem Angriff der Taliban ermordet worden ist. Mit Brot, Wasser und ein paar Kleidern im Rucksack schlägt er sich nach Kabul durch. Mit anderen Flüchtenden ist er monatelang unterwegs, mit Bussen, zu Fuss, mit Boot und Zug über den Iran und die Türkei nach Griechenland, über Österreich und Deutschland schliesslich in die Schweiz. «Jemand hat mir gesagt, in Zürich ist es gut. Ich habe nicht gewusst, wo Zürich ist und dass es ein Land gibt, das Schweiz heisst.»
Mutter, mach dir keine Sorgen, das ist eine ganz andere Welt. Hrsg. von Ana Paredes und Barbara Weibel, Limmat Verlag Zürich 2021, Fr. 34.-
Alem ist einer von elf UMA, unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden, die in Interviews und Porträts Auskunft geben über ihre Flucht und ihr Leben im fremden neuen Land. Die Ostschweizer Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht und das Solinetz Ostschweiz haben die Publikation, noch initiiert von der verstorbenen Juristin Hannelore Fuchs, realisiert unter dem Titel Mutter, mach dir keine Sorgen, das ist eine ganz andere Welt.
Sieben der Porträtierten stammen aus Afghanistan, zwei aus Somalia, je einer aus Syrien und aus Mali. Dieses Verhältnis entspreche ungefähr den tatsächlichen Flüchtlingszahlen im Jahr 2015, schreibt Mitherausgeberin Ana Paredes – ebenso die Tatsache, dass eine einzige Frau erzählt: die grosse Mehrzahl der Flüchtenden sind Jungen.
Die Ausnahme ist Aamina. Sie will nicht mit ihrem richtigen Namen erscheinen; es sollen nicht alle ihre Geschichte kennen. Aamina flieht aus Somalia als Fünfzehnjährige, weil sie mit einem fremden Mann zwangsverheiratet werden soll. Die Mutter bestärkt sie darin: «Es ist besser, wenn du weggehst.»
Ein Schlepper bringt sie weg, mit ihm gelangt sie über Russland, die Ukraine und die Slowakei unter vielen Strapazen nach Wien und schliesslich in die Schweiz. Aaminas Motto: «Einfach immer fragen.» Dank Englisch und anderen Sprachkenntnissen schlägt sie sich durch, in der Schweiz lernt sie rasch Deutsch und kann eine Lehre machen. Jetzt will sie Biomedizin studieren.
Buchpremiere 25. September, 18.30 Uhr, Raum für Literatur St.Gallen
Anmeldung: literaturhaus@wyborada.ch
«Ich kann Menschen verstehen», sagt Guled, «kann sie sehr gut einschätzen, vom ersten Moment an. Ich kann sagen, ob sie ehrlich sind oder nicht.» Guled ist neun, als er seine Familie in Somalia verlassen muss, nachdem sich seine Eltern getrennt haben. Er wird in einen Bus nach Mogadischu gesetzt, dann weiter nach Kismaayo zu Verwandten – tausendachthundert Kilometer mutterseelenallein.
Gulded behauptet sich, verdient Geld, haut ab, mehrmals, gerät mit 13 oder 14 in Äthiopien in die Hände von Schleppern, wird auf Lastwagen durch die Wüste verfrachtet, kommt in Libyen in ein Flüchtlingslager, überquert in einem Schlauchboot das Mittelmeer, macht sich in Italien allein auf den Weg und landet in Chiasso.
Rund acht Jahre, eine Jugend lang auf der Flucht: Guleds Geschichte ist im Buch eine der schlimmsten, falls sich von solchen Traumata überhaupt in Steigerungsform reden lässt – denn eine oft jahrelange Flucht voller Gefahren und Einsamkeit haben alle UMA hinter sich. «Auch in der Wüste hatte ich Angst. Aber das Wasser war das Schlimmste», sagt Guled.
Es ist das zentrale Verdienst des Buchs, dieser Fluchttragik Namen und Gesichter – mit Fotografien von Ahmad Motalaei – zu geben. Ergänzt sind die Porträts um Fachartikel zur Migrationspolitik (von Kaspar Surber), zu den Kinderrechten (von Klausfranz Rüst) und zur Betreuung von UMA (von Donat Rade).
Bei aller Härte machen die Geschichten von jungen Leuten, die Unglaubliches durchgemacht haben, auch Mut. Mohammed, ebenfalls aus Afghanistan 2015 in die Schweiz geflüchtet, sagt auf die Frage, woran er glaube: «Dass man alles selber machen muss! Dass keiner auf einen wartet. Unabhängigkeit, daran glaube ich.»
Dieser Beitrag erschien im Aprilheft von Saiten.