, 14. Mai 2023
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Die feinen Unterschiede

«Einfache Leute» bringt in Konstanz das Thema Klassismus auf die Bühne und zeigt: Von einer demokratischen Gesellschaft in Freiheit gleicher Bürger:innen sind wir noch weit entfernt. Franziska Spanner war an der Premiere.

Rebellin mit grosser Klappe: Luise Harder als Toni. (Bilder: Ilja Mess)

Mit einem Knall beginnt die Premiere von Einfache Leute am Freitagabend am Theater Konstanz. Elegant in Schwarz gekleidete Personen, die eben noch an den Eingängen zum Zuschauerraum Tickets kontrolliert haben, mit Brillen an goldenen Kettchen auf der Nase, stehen nun innen vor den Türen und richten ihre Stimmen an das noch bei hellstem Licht sitzende Publikum: «Das und nur das ist dein Platz. Wenn du lieber woanders sitzen würdest … Pech gehabt!».

Selbst (oder vielleicht gerade?) im Theater werden gesellschaftliche Ungleichheiten deutlich: Die gut situierten Abonnent:innen sitzen vorne – je günstiger das Ticket, desto weiter von der Bühne entfernt der Sitzplatz.

Aufgestiegen

Alex, die Protagonistin des Stücks, stammt aus einer Arbeiterfamilie und hat «es geschafft». Sie hat Kunstgeschichte studiert und arbeitet als Kuratorin in einem Museum der Grossstadt. Ihre Eltern sieht sie nur mehr selten. «Um weiter zu kommen, muss man Dinge zurücklassen, auch Menschen» – und dennoch, wird sie bei der Besetzung einer höheren Position auch diesmal übergangen, zugunsten von Martin, einem schnöseligen Mitt-Dreissiger, der mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde.

Da lenkt sie eine Postkarte ihrer Jugendfreundin Toni, von der sie seit 20 Jahren nichts mehr gehört hat, von ihrer Enttäuschung ab. In der Erinnerung kehrt sie in ihre Kindheit zurück und reflektiert dabei ihre Gratwanderung zwischen den Klassengrenzen.

Rebellin trifft auf Bubikopf

Immer wieder trifft die 40-Jährige Alex (Jana Alexia Rödiger) auf ihr jüngeres Ich (Ruby Ann Rawson), als stille Beobachterin, Ratgeberin, Kritikerin. Während Luise Harder die junge Toni als Rebellin mit grosser Klappe spielt, verkörpert Anna Eger die erwachsene, gesetztere, aber auch abgekämpfte Antonia. Beide in verwegenen schwarzen Outfits und mit zerzausten Haaren. Der Kontrapunkt zu Alex‘ bravem Bubikopf und ihren samtigen Kleidern.

Die Bühne (Eylien König) wirkt zunächst einfach – schwarz, im Zentrum ein halbhohes Podest, doch fährt dieses Podest empor. So entstehen zwei Ebenen – ein Oben und ein Unten. Unten Alex‘ früheres Zuhause, in dem die Mutter (Anna Eger) Schweineschnitzel mit Kartoffelsalat kocht und Johannes, der Arztsohn (Julian Mantaj) Mathe-Nachhilfe gibt.

Oben das schicke Restaurant, Schauplatz eines Champagner-feuchten Geschäftsessens mit Alex‘ Chef (Burkhard Wolf) und Martin (auch Julian Mantaj). Die beiden Herren schwadronieren darüber, dass «die Avantgarde einem breiten Publikum zugänglich» gemacht werden müsse, den Menschen, die «sonst nicht ins Museum gehen». Die Abscheu vom «Pöbel» schwingt immer mit.

Diese Szenen aus Alex‘ früherem und gegenwärtigem Leben laufen teilweise parallel. So treibt Franziska Autzens Inszenierung die Kontraste zwischen der Kindheit im Arbeitermilieu und dem Erwachsenen-Dasein in der akademisierten Kunstszene in der ersten Hälfte des Stücks geschickt auf die Spitze.

Porzellanfiguren und Baseballschläger

Rasch schreitet die Handlung voran. Es kommt zu hitzigen Schlagabtauschen und zu Momenten, in denen Alex einfach die Stimme versagt. Etwa, wenn Martin flapsig meint, er wünsche sich einen ungradlinigeren Werdegang, weil sich dieser «besser vermarkten» liesse. Unterbrochen werden die Handlungsstränge in Vergangenheit und Gegenwart durch unterschiedlich gelungene Performance-Szenen.

Das verstockte Abendessen bei der Zahnarztfamilie, in dem die Schauspieler:innen als Porzellan-Figürchen in einer Glasvitrine aufeinandertreffen, avanciert zu einem Highlight der Inszenierung. Statisch, geradezu verkrampft stehen die Protagonist:innen auf weissen Sockeln und servieren sich spiessbürgerliche Sätze wie «Kannst Du mir bitte die Sauciere reichen?» auf dem Sprachtablett. Luise Harder verleiht in dieser Szene ihrer Rolle als «Frau vom Arzt» (sic!) mit distinguiertem Schwäbisch eine besonders süffisante Art.

Andere Performance-Szenen mit Baseballschlägern und furchteinflössenden Masken geben dagegen Rätsel auf. Ist Alex‘ Wut darüber, dass sie sich abstrampelt und trotzdem immer wieder gegen eine gläserne Decke schlägt, so gross, dass Gewalt ihr einziger Ausweg ist? Wohl kaum, auch wenn die Inszenierung gegen Ende diesen Schluss zu intendieren scheint.

Die Geschichte macht es sich an dieser Stelle zu einfach: Arbeiter:innen als AfD-Wähler:innen und ihre von der Erfolglosigkeit frustrierten Kinder als Rowdys darzustellen, reproduziert ungewollt ein Underclass-Klischee. Jana Alexia Rödiger transportiert im ganzen Stück, insbesondere mit ihrer Mimik, die bereits im Text klar verankerte Wut und gleichzeitige Ohnmacht von Alex so gekonnt, dass die angedeuteten (?) Gewaltexzesse unnötig sind, um die himmelschreiende Ungerechtigkeit herauszuarbeiten.

Dass die Inszenierung nicht auf diese Szenen verzichtet, unterminiert die eigene Botschaft und stempelt die empörten Chancenlosen zu Aussenseitern der zivilisierten Gesellschaft.

«Du kannst alles erreichen. Bullshit!»

Nichtsdestotrotz ist es Gschnitzer und Autzen zu verdanken, dass das Thema Klassismus endlich einmal auf den Konstanzer Publikumstisch kommt. Obwohl allgegenwärtig, ist die Benachteiligung aufgrund der Klassenherkunft lange nicht so gut erkennbar wie Benachteiligung aufgrund äusserlich markanterer Merkmale wie Hautfarbe oder Geschlecht.

Einfache Leute: bis 10. Juni, Stadttheater Konstanz

theaterkonstanz.de

Die Klassenherkunft zeigt sich eben oft nur in den «feinen Unterschieden», die der französische Soziologe Pierre Bourdieu so schön beschrieben hat. Diese manifestieren sich im sogenannten Habitus einer Person, also zum Beispiel der Art sich zu kleiden oder zu sprechen. So sehr man an sich arbeitet: Eine gewisse Distinktion wird man zeitlebens nicht los. Und diese marginale Differenz reisst in unserer Gesellschaft einen tiefen Graben zwischen denjenigen, welchen die Welt offen steht und denjenigen, die sich ihre Chancen mühevoll erarbeiten (müssen).

Auch «Einfache Leute» zeigt: Von einer demokratischen Gesellschaft in Freiheit gleicher Bürger:innen sind wir noch weit entfernt.

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