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Die grosse Chance
Mehr als schlichte Unterhaltung: Warum Videospiele Kunst sind. Von Robin Fürst

Spielen wir uns nichts vor. Videospielen ist als gesellschaftliches Phänomen etabliert und wird als solches auch zunehmend akzeptiert. Doch gerade diese Entwicklung bereitet vielen Unbehagen. Misstrauen und vielleicht sogar Ekel erfasst sie, wenn jemand vom «Gamen» als Kunstform spricht. Ein verständlicher bildungsbürgerlicher Reflex auf die drohende «mediale Überfremdung» des Kulturverständnisses. Doch wie viele Ängste, so ist auch diese unbegründet.
Nicht jeder Roman bewegt uns, nicht jedes Gedicht berührt uns. Ungesättigt verlassen wir die Galerie. Erschreckend oft erheben wir uns aus den Sesseln von Kino, Oper und Theater, ohne dass es uns «gepackt» hat. Trotzdem begegnen wir diesen Formen der Kunst immer wieder mit Wohlwollen und Vertrauen. Es sind selbstverständlich gewordene Rituale der Horizonterweiterung, aber auch der Selbstbestätigung. Regelmässig wollen wir die Welt mit den Augen anderer sehen, uns für einige Stunden auf fremde Lebensentwürfe einlassen, auf die kleinen Dinge aufmerksam gemacht werden, aber auch die grösseren Zusammenhänge verstehen oder zumindest erahnen. Dabei schwingt oftmals die leise Hoffnung mit, wieder einmal richtig überwältigt zu werden.
Rezipienten werden zu Entscheidungsträgern
«Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, Kunst macht sichtbar», sagte einst Paul Klee. In der persönlichen Auseinandersetzung mit Gegenständen der Kunst lernen wir die Welt ein klein wenig besser zu verstehen. Auch von Videospielen darf mit Fug und Recht behauptet werden, dass ihnen ein solches Erkenntnisversprechen innewohnt, auch sie können uns die Welt sichtbarer werden lassen. Gerade bei diesem Allgemeinplatz dürfen wir nun aber nicht stehenbleiben, sondern müssen danach fragen, was die neue Kunstform über das bisher Gesagte hinaus zu leisten vermag.
Zwar trägt ein Leser oder eine Leserin einen gewichtigen Teil zum Gelingen einer Lektüre bei, trotzdem folgen seine Augen fest vorgegebenen Bahnen. Auch im Kino und Theater sind wir nur Zuschauer und damit eigentlich Gefangene der Linearität des Mediums. Videospiele sind hingegen per definitionem nonlineare, interaktive Medien. Die Spieler sind mehr als nur Zaungäste. Wer spielt, nimmt nicht einfach an einem Geschehen teil, sondern gestaltet dieses aktiv mit. Ein Videospiel macht aus einem Rezipienten einen Entscheidungsträger, der verschiedene Pfade einschlagen kann. Zwar hat nicht jede Entscheidung Konsequenzen, aber ohne sie würde das Spiel nicht vorangehen.
Scheitern gehört zum Wesen des Spielens
Bewusste Entscheidungen (mithin aber auch Reaktionen und Reflexe im Sinne weniger bzw. nicht bewusster Entscheidungen) sind essentieller Teil des ästhetischen Motors dieser jungen Kunstform. Aus diesem Grund ist es auch spannend, einen Level nochmals zu spielen, um die zuvor nicht gewählten Alternativen zu erkunden. Das kann tatsächlich eine andere Route sein, in einem Puzzlespiel hingegen ist es eher eine andere Herangehensweise, eine andere Strategie. So oder so bestimmt unser jeweiliges Verhalten das Geschehen mit und ist deshalb integraler Teil des Mediums und auch Teil dessen, was diese Kunstform sichtbar machen kann. Deutlicher als bei anderen Medien wohnt den Videospielen dadurch eine Art Selbsterkenntnisversprechen inne.
Dabei darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass Scheitern auch zum Wesen des Spielens gehört. Wir lernen aus Fehlern, entscheiden uns anders, reagieren plötzlich schneller und bestimmter. Die Meisterung schwieriger Situationen steigert unser Kompetenzerleben und damit unsere Selbstwahrnehmung innerhalb des Spiels. Selbst in einem linear designten Game kriegen wir so den Eindruck, dass es unser eigenes Handeln war, das uns voranbrachte. Reaktion und Rezeption sind in gewissem Sinne untrennbar miteinander verbunden. Der Konsument wird deshalb deutlicher als zuvor zu einer ästhetisch relevanten Komponente.
Kehren wir zurück zu klassischeren Kunstformen und unseren damit verbundenen Erfahrungen und Erwartungen. Erinnern wir uns an das letzte Kunsterlebnis, das uns berührt und überwältigt hat. Treten wir nun einen Schritt zurück und versuchen den Blumenstrauss an Horizonterweiterungen zu fassen, den uns die Kunst bisher geschenkt hat. Und an dieser Stelle erweitern wir dieses Kaleidoskop des Welterlebens gedanklich um die oben erörterte Eigenart des Videospielens und erahnen den Möglichkeitsraum, der sich gerade öffnet und erst langsam abzeichnet… Dort liegt die grosse Chance des Videospiels als Kunst. Und diese Vision wird gerade Wirklichkeit.
Bilder: Aus dem Videospiel The Stanley Parable