, 15. Juni 2023
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Die Pointe im slutty outfit

Menschen sind mehrdimensional und können ganz vieles gleichzeitig sein, sagt Saiten-Kolumnistin Anna Rosenwasser. Darum können Physikerinnen auch Stipperinnen sein. Ihr Beitrag aus dem Juniheft.

An einem Mittwochabend sass ich mit meisterinnenhaft leicht Bekleideten in einer Lesbenbar. Es war die Stunde vor einer Talkshow, die ich moderierte, zu Gast war eine Stripperin, und diese hatte ihre Freundinnen mitgebracht. In meiner Beschreibung des Anlasses stand «slutty outfits welcome». Jetzt sass ich also da an einem Tisch mit lauter Frauen, die kunstvoll wenig anhatten. Manche von ihnen machten Pole- oder Chairdance als Hobby, manche strippten. Zwei von ihnen, mit denen ich mich gerade unterhielt, schienen sich schon länger zu kennen. «Woher kennt ihr euch eigentlich?», fragte ich, und die eine antwortete: «Ah, aus dem Physikstudium. Wir sind Physikerinnen.»

Das fand ich lustig. Später erzählte ich es meinen Freund:innen, und die fandens auch lustig. Dann hörte ich mal kurz auf zu lachen, um mich zu fragen: Warum finden wirs lustig, dass zwei nette Frauen in slutty outfits Physik studieren?

Einerseits hat das mit unseren Vorstellungen von Arbeit zu tun. Wir gehen davon aus, dass einer Physikerin die Welt offen steht, erst recht, weil Berufe in der Naturwissenschaft, also männlich konnotierte Berufe, tendenziell mehr Status geniessen. Wir glauben, eine Physikerin hat «Besseres zu tun», als halbnackig um einen Stuhl herumtanzen, und da sind wir bei unserem Verhältnis zu Sexarbeit: Wir glauben oft, Sexarbeit sei schlechtere Arbeit. Viele Menschen anerkennen nicht einmal, dass es Arbeit ist (meistens nicht die Menschen, die jemals gelernt haben, sich elegant an einer Poledance-Stange oder auf einem Stuhl zu bewegen). Dass eine Frau mit anerkanntem Beruf auch gerne strippen und tanzen könnte, scheint da abwegig. Unabhängig davon, ob sie damit ihr Geld verdient oder es aus reiner Freude an der Sache macht.

Anna Rosenwasser, 1990, wohnt in Zürich und ist freischaffende Journalistin. Ihre gesammelten Kolumnen erschienen als Rosa Buch im März beim Rotpunkt-Verlag in Kooperation mit Saiten.

Ich glaube, es hat auch viel mit unserem Konzept von Weiblichkeit zu tun. Unsere Gesellschaft ist geprägt von der Ansicht, dass Weiblichkeit – vor allem selbstbestimmte Femininität – eine Form der dümmlichen Oberflächlichkeit ist. «Tussi» war zu meinen Jugendzeiten eine der beliebtesten Beleidigungen für Frauen, gleich nach «Schlampe». Ersteres besagt, dass eine Frau eine zu feminine Ausdrucksweise gewählt hat. Und zweiteres, dass sie die Dreistigkeit hat, ihre Sexualität selbst zu bestimmen.

Dieser Text ist keine Abhandlung über Sexarbeit (ich empfehle hierzu das Buch Ich bin Sexarbeiterin, das 2020 im Limmat-Verlag erschienen ist). Aber er soll eine Erinnerung sein daran, dass Frauen mehrdimensionale Wesen sind, wie alle Menschen. Wir alle haben unterschiedliche Leidenschaften, Interessen und Hobbys, die in ihrer Komplexität stark variieren; und die Komplexität mancher Angelegenheit unterschätzen wir gern, wenn wir wenig Ahnung davon haben. Zum Beispiel vom Briefmarkensammeln oder Joggen oder Tanzen in slutty outfits. Die Geschichten, die uns über Frauen erzählt werden, zeigen eindimensionale Wesen, die wenig unterschiedliche Eigenschaften haben. Und ist eine dieser Eigenschaften Tussigkeit, gibt es daneben vermeintlich keinen Platz für Vielfalt und Tiefe.

Das ist sexistischer Unsinn. Es ist so fest Unsinn, wie es Unsinn ist, dass eine Physikerin nicht auch leicht bekleidet an einen Stripabend kommen kann. Menschen können ganz vieles gleichzeitig sein. Genauso wie ich gleichzeitig lachen kann über die Begegnung und mich fragen, woher dieses Lachen eigentlich kommt.

 

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