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Eine Region fühlt sich vernachlässigt
Für viele Sarganserländerinnen und Sarganserländer ist St.Gallen nicht «ihre» Kulturhauptstadt. Das zeigte sich zuletzt bei der Theaterabstimmung Anfang März. Marion Loher hat sich umgehört.

Grafik: Samuel Bänziger
Das Resultat war knapp, sehr knapp sogar: 50,3 Prozent der Stimmberechtigten im Wahlkreis Sarganserland sagten Nein, als Anfang März über die Sanierung des Theaters St.Gallen abgestimmt wurde. Drei Gemeinden (Sargans, Walenstadt, Bad Ragaz) waren dafür, fünf dagegen (Flums, Mels, Quarten, Pfäfers, Vilters-Wangs). Damit war das Sarganserland der einzige der acht Wahlkreise, der die Vorlage ablehnte. Auswirkungen auf das Gesamtergebnis hatte es keine: Das Theater wird für 48,6 Millionen Franken erneuert. Im St.Galler Oberland hat das Nein aus den eigenen Reihen nicht wirklich überrascht. Auch Hans Bärtsch nicht. Im Gegenteil: «Ich war vielmehr erstaunt, dass das Resultat nicht noch deutlicher ausgefallen ist.»
Hans Bärtsch ist Journalist, lebt und arbeitet im Sarganserland. Er kennt die Menschen und das hiesige Kulturklima. Als stellvertretender Chefredaktor des «Sarganserländer» beobachtet er beides seit Jahren, und als Vizepräsident und Programmkoordinator des Alten Kino Mels gestaltet er das kulturelle Leben in der Region mit. «In unserer ländlich geprägten Gegend hat die SVP eine grosse Wählerschaft, und wie wir wissen, ist ihr Interesse an der Kultur gering», sagt er. «Das Argument der SVP, dass wir für etwas bezahlen sollen, das wir gar nicht nutzen, hat bei vielen gezogen.» Leider, fügt er an, denn für ihn war das Ja zur Theater-Sanierung ein Ja zur Stärkung «unserer Kulturstadt St.Gallen».
Und genau das ist das Problem: Für viele Flumser, Melserinnen oder Quartner ist St.Gallen nicht «ihre» Kulturstadt. Sie fühlen sich mit der Kantonshauptstadt nicht verbunden. St.Gallen ist für viele im Oberland einfach zu weit weg – geografisch, politisch, emotional, was Auswirkungen auf ihr kulturelles Leben hat. Das bestätigt auch Hans Bärtsch: «Ich kenne niemanden aus der Region, der regelmässig ins Theater nach St.Gallen geht oder eine andere kulturelle Veranstaltung in der Stadt besucht. Wir sind mehr nach Zürich, Chur oder Schaan orientiert.» Das habe aber weniger mit der Qualität der Anlässe in der Kantonshauptstadt zu tun, sondern vielmehr mit der Distanz und der Anbindung des öffentlichen Verkehrs. «Von Sargans aus habe ich bessere Zugverbindungen nach Zürich und Chur, und ich bin ausserdem noch schneller dort.» Ein Blick in den SBB-Fahrplan verrät: Nach Chur sind es 19 Minuten, nach Zürich 55 Minuten – und nach St.Gallen 57 Minuten.
Sarganserland: ein Niemandsland?
Einer, der die 57-minütige Zugfahrt nach St.Gallen täglich auf sich nimmt, ist Renato Hobi. Der 28-jährige Melser studiert im fünften Semester Soziale Arbeit an der Fachhochschule St.Gallen. Vor Beginn seines Studiums habe ihn praktisch nichts mit der Kantonshauptstadt verbunden. «Der Bezug war einfach nicht da, St.Gallen zu weit weg, Zürich viel näher», sagt Renato Hobi. Heute schaut er immer noch eher in den Veranstaltungskalender von Zürich oder Chur, ist aber «zwischendurch» auch in der Stadt St.Gallen unterwegs, sei es am Tag oder in der Nacht. «Mir ist bewusst, dass ein solches Theater in die Stadt gehört und nicht aufs Land. Trotzdem darf sich nicht alles in der Stadt konzentrieren.»
Renato Hobi hat vor gut zwei Jahren zusammen mit Freunden in Mels den Verein «MusikKultur» gegründet, um die Musikszene in der Region mit Konzerten unterschiedlicher Stilrichtungen zu beleben. Mit dem Nein zur Sanierung sei es den Menschen im Sarganserland darum gegangen, ein Zeichen zu setzen – sowohl kulturell als auch politisch. «Wir fühlen uns oft nicht wahrgenommen von der kantonalen Politik. Wollen wir etwas, werden wir oft nicht gehört oder es dauert ewig.» Als Beispiel nennt der Student den Vorschlag einiger Kantonsräte aus der Region, eine Passbüro-Zweigstelle im Sarganserland zu eröffnen. «Was passierte? Nichts», ärgert sich Renato Hobi. «Noch heute müssen wir nach St.Gallen fahren, wenn wir einen neuen Pass brauchen.»
Dass dieses Empfinden, nicht wahrgenommen zu werden, weit verbreitet ist in der Region, glaubt auch Esther Probst, Co-Präsidentin des Kulturkreises Walenstadt. «Und bei einer solchen Abstimmung kommt dies dann eben zum Ausdruck.» Dieses latente Grundgefühl, ein «Niemandsland im Kanton» zu sein, beziehe sich aber nicht nur auf die Kultur, sondern auf die Politik im Allgemeinen. «Insbesondere dann, wenn man Geld vom Kanton will», sagt Esther Probst und spricht dabei aus eigener Erfahrung: «Es war ein langer und mühsamer Weg, bis die Qualität unseres Sinfonieorchesters Concentus rivensis anerkannt wurde und wir finanzielle Unterstützung vom Kanton bekamen.» Sie sieht das Problem aber auch noch anderswo. «Wir Sarganserländerinnen und Sarganserländer sind uns immer noch zu oft uneinig. Würden wir mehr vereint auftreten, würde uns der Kanton auch anders wahrnehmen», sagt sie selbstkritisch.
Gemeinden schliessen sich zusammen
Für Ferdinand Riederer, ehemals Gemeindepräsident von Pfäfers, ist das Gefühl der Vernachlässigung nicht neu. Es stecke tief in der Bevölkerung drin und sei fast nicht mehr wegzubringen, sagt der Stiftungsratspräsident des Alten Bad Pfäfers und Co-Präsident von «Südkultur». «Aber gerade mit dem Engagement in unserem Verein Südkultur zeigt der Kanton doch, dass er gewillt ist, auch die Kultur auf dem Land zu unterstützen.»
«Südkultur» wurde 2006 von 16 Gemeinden der Regionen Sarganserland, Werdenberg und Obertoggenburg sowie der Gemeinde Weesen und dem kantonalen Amt für Kultur gegründet. Mit dem Ziel, gemeinsam nachhaltige Kulturförderung zu betreiben und damit die Region kulturpolitisch zu stärken. Im Zentrum steht die Bündelung und Ausschüttung öffentlicher Förderbeiträge «aus einer Hand». Jede Gemeinde zahlt pro Einwohner 2 Franken 50 in einen Topf, der Kanton gibt einen «ordentlichen» Betrag dazu. «Pro Jahr können wir so rund 300’000 Franken an hiesige Kulturprojekte verteilen», sagt Ferdinand Riederer, der den Verein zusammen mit Katrin Meier, Leiterin des kantonalen Amts für Kultur, präsidiert. Mittlerweile haben sich in fast allen Regionen des Kantons ähnliche Organisationsformen etabliert, die auf der Idee von «Südkultur» basieren. Beispiele sind die Rheintaler Kulturstiftung, Kultur Toggenburg oder Kultur ZürichseeLinth.
Mit Traditionen stark verbunden
Der Co-Präsident von «Südkultur» mag die Klagen seiner Landsleute nicht mehr hören. «Wir dürfen uns nicht ständig mit der Stadt vergleichen», fordert er. «Wir haben ein anderes Kulturverständnis als die Städter. Unsere Stärke ist unsere volkstümliche Kultur. Dementsprechend anders, aber nicht minder vielfältig ist unser Angebot.» Journalist Hans Bärtsch sieht das kulturelle Verständnis der ländlich geprägten Gegend ebenfalls vor allem im Brauchtum und Vereinswesen. «Die Menschen fühlen sich mit Traditionen seit jeher stark verbunden. Sie sind identitätsstiftend und wichtig für das gesellschaftliche Miteinander, nicht umsonst sind Alpabfahrten, die Fasnacht oder Turnerunterhaltungen so gut besucht.»
Was nicht heisst, dass es im Sarganserland keinen Platz für anderes gibt. In den vergangenen Jahren ist das kulturelle Angebot in der Region stark gewachsen und deckt heute eine grosse Bandbreite von Interessen ab: Im Alten Kino Mels gibt es Kleinkunst, Theater und Konzerte, auf der Walenseebühne populäre Musicals, an der Bad Ragartz einen Skulpturenpark, im museumbickel Kunstausstellungen, am Quellrock Open Air Rockmusik, im Schloss Sargans und im Alten Bad Pfäfers viel Geschichtliches und in der alten Spinnerei Murg sowie in der Flumserei eine neue Form von Kultur: Wohnen und Arbeiten unter einem Dach.
«Wir bekommen hier wirklich sehr viel geboten», sagt auch Esther Probst vom Kulturkreis Walenstadt, «und müssen nicht unbedingt nach St.Gallen.» Nicht einmal mehr für ein klassisches Konzert. Dafür war der Kulturkreis selber besorgt. Co-Präsident, Komponist und Dirigent Enrico Lavarini hat vor über 40 Jahren das Sinfonieorchester Concentus rivensis gegründet und aus einem Laien- ein professionelles Orchester gemacht, das mittlerweile in der ganzen Deutschschweiz (und im Mai in der St.Galler Lokremise) zu hören und zu sehen ist. «Der Kulturkreis Walenstadt stellt abseits der Massen regelmässig ein feines Programm auf die Beine», sagt Hans Bärtsch. «Kulturell ist es sehr wertvoll für die Region.»
Von wegen abgelöschte Gegend
Auch Helene Sperandio schwimmt nicht mit der Masse mit. Vor gut zwei Jahren hat sie ihr Atelier von der Stadt Zürich aufs Land, nach Walenstadtberg gezügelt. Die Malerin und Objektkünstlerin ist eine von acht Kunstschaffenden, die derzeit im museumbickel in Walenstadt in der jurierten Gruppenausstellung «Kunst Sarganserland-Walensee VI» ihre Werke zeigen. Für Helene Sperandio ist es die erste Ausstellung in der Region – und sie ist begeistert. «Die Leute sind sehr offen, interessiert und neugierig», erzählt sie. So wie sie es im vergangenen Jahr schon waren, als die Kunstschaffende ihr Atelier für die Bevölkerung öffnete. «Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass es eine abgelöschte Gegend ist. Im Gegenteil: Ich finde, es läuft hier einiges.» Ausserdem schätze sie es sehr, dass für den Wettbewerb im museumbickel mit Fanni Fetzer vom Kunstmuseum Luzern und Gabrielle Obrist von der Kunsthalle Wil eine so «tolle und prominente Jury» eingesetzt wurde. «Das Sarganserland holt spannende Leute und misst sich mit deren Kunstverständnis – was auch gut für die Vernetzung ist.»
Wo sieht sie, als Zugezogene, die Gründe für das Nein zur Theatersanierung? «Ich kann es mir nur mit der Distanz erklären. Die Stadt St.Gallen ist schon ziemlich weit weg, und das Sarganserland liegt abgeschottet hinter dem Berg. Da ist es schwierig, Nähe aufzubauen.»
Irgendwie scheinen sich das Sarganserland und St.Gallen respektive das Theater aber doch ein bisschen näher gekommen zu sein. Vergleicht man das Abstimmungsergebnis vom März dieses Jahres mit jenem vom September 2009, als es um das «Gesetz über Beiträge an Konzert und Theater St.Gallen» ging, zeigt sich: Vor neun Jahren lehnten alle acht Gemeinden im Sarganserland die Vorlage klar ab. Dieses Mal waren es noch fünf, die Nein sagten – und so deutlich wie damals waren die Resultate in den fünf Gemeinden nicht mehr.
270’000 Franken aus dem Fördertopf Aus dem St.Galler Lotteriefonds fliessen jedes Jahr rund 5,5 Millionen Franken in über 100 Kulturinstitutionen und -organisationen im ganzen Kanton. Hinzu kommt der Jahresbeitrag von 19,8 Millionen Franken an Konzert und Theater St.Gallen. Aus dem Fördertopf von 5,5 Millionen Franken gehen etwa 2 Millionen in die Kantonshauptstadt und 3 Millionen in die Regionen. Im Sarganserland erhalten das museumbickel, das Alte Bad Pfäfers, das Alte Kino Mels, der Kulturkreis Walenstadt respektive der Concentus rivensis sowie das alle zwei Jahre stattfindende Dixie- und Jazzfestival Sargans und die Bad Ragartz, die alle drei Jahre durchgeführt wird, regelmässig grössere Beiträge.
Insgesamt erhält das Sarganserland laut Katrin Meier, Leiterin des Amts für Kultur, pro Jahr regelmässige Beiträge von rund 270’000 Franken, pro Institution zwischen 20’000 und 75’000 Franken. Hinzu kommen grössere Projektbeiträge aus dem Lotteriefonds, beispielsweise an ein Konzertprojekt des CantiChor Sargans. «Diese Beiträge schwanken allerdings von Jahr zu Jahr stark, da sie davon abhängig sind, welche Projekte in der Region durchgeführt werden», sagt Katrin Meier. «Die kantonalen Kulturbeiträge, die ins Sarganserland fliessen, sind insgesamt sehr gut vergleichbar mit den Beiträgen an andere Regionen – sicherlich nicht weniger.»
Dieser Beitrag erschien im Maiheft von Saiten.