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Er wollte sich selbst überraschen
Seine Haltung gegenüber Kunst war radikal: Die eigene Person zurücknehmen, Parameter festlegen, das Kunstwerk entstehen lassen und jedes Resultat akzeptieren. Wesentliche Treiber waren seine Neugierde. Und die Freude am Unkontrollierbaren. Erinnerungen an Bernard Tagwerker, der im Februar verstorben ist. von Ursula Badrutt

Bernard Tagwerker 25.10.1942–8.2.2024 (Bild: Katalin Deér)
Es war vor fast 30 Jahren, als ich Bernard Tagwerker zum ersten Mal zum Gespräch begegnete. Er zeigte 1995 in der Galerie Susanna Kulli neue Arbeiten. Ich war noch nicht lange in St.Gallen zuhause, kannte sein Schaffen kaum und durfte erstmals als freie Autorin fürs «St.Galler Tagblatt» eine Ausstellung besprechen. Dass es um Zahlensysteme gehe, um Programmieren, Zufall und Computer-Kunst, beunruhigte mich im Vorfeld, ich war unsicher, ob ich mich darauf einzulassen wagen würde.
Doch dann stand da der Künstler, der es gewohnt war, bei 0 und 1 anzufangen. Sein Nachdenken über Zahlensysteme und sein Vorgehen offenzulegen, war ihm ein Anliegen. Wohl auch, so wurde mir später klar, weil er für sich selbst die Überlegungen und das Regelwerk repetieren, die festgelegten Parameter für die Werkentstehung und die Umsetzung mittels Programmierung im Auge und im Kopf behalten wollte. Vor allem aber, weil ihm das Transparentmachen der Vorgänge wichtig war.
Aus Überzeugung, nicht aus Selbstgefälligkeit
Keine Spur von Überlegenheit und Prahlerei, auf keinen Fall Genialität vorgeben. Im Gegenteil, oft wirkte Bernard Tagwerker fast schüchtern, zurückhaltend, bescheiden. Stattdessen war da stets viel scharfes Denken, aber auch Humor, und wenn es sein musste, konnte er sich mit Leidenschaft oder auch Zorn für eine Sache einsetzen. Aus Überzeugung, nicht aus Selbstgefälligkeit.
Ich fühlte mich jedenfalls auf Anhieb und dauerhaft aufgehoben. Bernard Tagwerker beobachtete jeweils sein Gegenüber, dessen Reaktionen, und schritt gleichzeitig immer weiter voran mit seinen Ausführungen, nahm Fahrt auf, schweifte auf eine Zwischenfrage hin ab, mäanderte zurück, flocht zwischendurch eine kritische oder mit ironischer Note unterlegte Bemerkung ein. Ein Lachen auf den Stockzähnen.
So waren die Gespräche mit Bernard Tagwerker bis zuletzt, ob im kleinen Rahmen, bei zufälligen Treffen auf der Strasse oder in öffentlichen Veranstaltungen wie noch vor wenigen Wochen im Visarte-Projektraum Auto und im Kunstmuseum St.Gallen.
Zahlensysteme sind auch Weltsysteme
Im Zentrum der Galerieausstellung 1995 standen grosse Gläser, die Bernard Tagwerker mit überlagernden binären und dezimalen oder binären und hexadezimalen Zahlenfolgen gravierte. Es gehe ihm darum, Systeme zu relativieren, zum Beispiel das uns vertraute Dezimalsystem anderen Systemen gegenüberzustellen. Manchmal sei das eine System praktischer und passender, manchmal ein anderes. Das ist durchaus auch übergeordnet zu verstehen, Zahlensysteme stehen für Weltsysteme.
Immer wieder hat Bernard Tagwerker Stellung bezogen. Dazu gehörte auch sein Engagement für die Verbesserung der rechtlichen Situation der Künstlerinnen und Künstler, etwa als Abgeordneter der internationalen Dachorganisation der Verwertungsgesellschaften. Als Zentralpräsident des Berufsverbands der bildenden Künstlerinnen und Künstler Visarte (anfangs noch GSMBA) zwischen 1996 und 2001 bemühte er sich um die Verbreitung des Wissens zum Urheberrecht. Auch das bis heute in der Schweiz fehlende Folgerecht, das Kunstschaffende am Weiterverkauf ihrer Werke finanziell beteiligen würde, war ihm stets ein grosses Anliegen.
Von Anfang an
Dass er Künstler werden wollte, wusste er schon früh. Aber wie geht das? Und wieso? 1942 in Speicher AR geboren, liess er sich in St.Gallen zum Textilentwerfer ausbilden, nachdem er bei der Kunstgewerbeschule abgewiesen worden war. Danach ging er weg – erst nach München, wo ihm die Kunstakademie aber zu wenig fortschrittlich war, dann weiter nach Paris. Er studierte beim Kubisten André Lhote und in der offenen Académie de la Grande Chaumière und arbeitete in der Druckerwerkstatt von Adrien Maeght.
1967 kehrte er in die Schweiz und nach St.Gallen zurück. Prozessorientierter Kunst, wie sie 1969 in der Ausstellung «When Attitudes Become Form» in der Kunsthalle Bern zu sehen war, stand er besonders nahe. Gemeinsam mit Künstlerfreund Roman Signer entwickelte er in dieser Zeit einzelne Arbeiten, unter anderem 1975 die ephemere Land-Art-Installation Bodensee und Säntis.
Sein eigener Erfolg mit den als Persiflage gedachten und aus Unbehagen heraus entstandenen Säntis-Arbeiten machte Tagwerker der eigenen Kunst gegenüber so misstrauisch, dass er 1976 sein gesamtes Werk mit weisser Lackfarbe übermalte und nach New York zog.
Die Liebe zum Zufall
Zwar hatte er bereits früher lieber mit Lineal und Schablone als von Hand gezeichnet. Nun aber nahm er seine Person so weit wie möglich zurück, suchte anstelle von persönlichen Befindlichkeiten allgemein gültige Formulierungen. Die künstlerischen Entscheidungen gab er an Zufallsmethoden ab, legte Systeme im Voraus fest, würfelte Zahlen, Farben, Koordinaten und führte gemäss diesen aleatorischen Ergebnissen mit Hilfswerkzeugen die Bilder aus.
Mit Hingabe verfolgte er Präsentationen von Computer-Kunst, belegte Programmierkurse an der Universität und kaufte einen ersten Computer – ein «Schnäppli»-, Tipp des Rapperswiler Videokunst-Pioniers Alexander Hahn, den er als Gleichgesinnten in einer Ausstellung kennengelernt hatte.
1985 war er zurück in St.Gallen. Nun kam der eigene Drucker dazu, ein riesiger und unterdessen längst veralteter vektororientierter Plotter. Seine Robustheit nutzte Bernard Tagwerker bis zuletzt für eigenhändige Modifikationen, baute Druckluft ein, änderte die Köpfe, je nachdem, ob er Stift, Pinsel, Spachtel, Sprühkopf oder Diamantfräse benötigte.
In seiner letzten Ausstellung im Herbst 2023 im Projektraum Auto, angelegt als konzentrierte Retrospektive, war eine neue Arbeit zu sehen, die er, ausgehend von jeweils vier nach Zufallsmethode in Rasterfelder gesetzten Punkten, mittels Laser-Strahlen berührungslos in mehreren Durchgängen auf Karton brennen liess.
Kunst und Bau und Hand aufs Herz
Ein grosses Anliegen war Bernard Tagwerker auch die Kunst am Bau. Aus der Werkserie der gravierten Gläser heraus kam es 1996 zu einer ortsspezifischen Installation in einem UBS-Gebäude in Zürich, die er vor dessen Abbruch zurückerwerben und 2018 in der Fachhochschule OST transformiert neu platzieren konnte.
Unübertroffen bleibt die Fassadengestaltung der Schulanlage Botsberg in Flawil samt der Weiterverwertung der 216 per Los aus 1950 NCS-Farbtönen gewählten Restfarben in den Siebdruck-Blättern der «Flawiler Serie». Oder die mit Texten von Robert Walser in Barcodes übersetzten Holz-Akustikplatten im Psychiatrischen Zentrum in Herisau, wo Walser die letzten 23 Jahre seines Lebens bis 1956 verbracht hatte, als Literat aber verstummt war. Für eine weitere Idee – mit einem sogenannten Planarmotorsystem, das heisst selbstlernenden, autonom über einem Grundelement magnetisch schwebenden Objekten – suchte er noch die geeignete örtliche Umsetzungsmöglichkeit; und Geld.
Seit Ende der 1980er-Jahre interessierte sich Tagwerker für neuronale Netzwerke, besuchte Fachkongresse, hatte die «Technische Rundschau» abonniert und verfolgte die jüngsten Entwicklungen in der wissenschaftlichen Forschung mindestens so interessiert wie in der Kunst. Und dennoch: Seine Leidenschaft galt dem Experiment Kunst.
Bernard Tagwerker hatte eine tiefe Überzeugung von der Kraft der Kunst und ihrem subversiven Wesen, das sich dem Kosten-Nutzen-Denken entzieht und immer dann zum Zug kommt, wenn herkömmliche Wertesysteme wirkungslos sind. Dass die Kunst, auch wenn er die Parameter für ihre Entstehung klar vorgibt, nicht in den Griff zu kriegen ist, hat ihn sein Leben lang auf Trab gehalten. Nicht das Bekannte, auch nicht der Erfolg interessierten ihn, sondern das Unkontrollierbare, die Sprengkraft, das Widersprüchliche und Unerklärliche.