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Für ein anderes Stadt-Theater
Milo Raus Konzept eines «City-Theaters der Zukunft» in Gent und in seinem jüngsten Buch – samt einem Seitenblick auf St.Gallen.
«Wie können wir gemeinsam unsere Demokratie retten?» Die Frage stand 2011, mit einigem, auch selbstironischem Pathos, im Programmheft zum Projekt City of Change. Es war Milo Raus bisher einzige grosse Theaterproduktion in seiner Heimatstadt St.Gallen, und sie war bekanntlich die Folge eines Theaterskandals: Das Theater hatte ursprünglich ein Projekt zum St.Galler Lehrermord von Rau angekündigt, heftige Proteste waren die Folge und ein Rückzieher des Theaters – mehr dazu in den Beiträgen von Florian Vetsch und Rolf Bossart im Novemberheft.
Das abgewandelte Projekt hatte dann aber einen nicht minder ernsten Anlauf: St.Gallen sollte mit der Einführung des Stimmrechts für Ausländer:innen zum «Laboratorium einer weltoffenen Gesellschaft» und zum Modell einer «Demokratie der Zukunft» werden. Worauf die von den bürgerlichen Mitwirkungsrechten Ausgeschlossenen, rund ein Drittel der Bevölkerung, allerdings bis heute warten.
Passend und mehr als Zufall, dass Milo Raus jüngstes Buch das Stichwort Demokratie einmal mehr aufnimmt und gleich im Titel trägt: Theatre is Democracy in Small. Er entwirft darin sein Konzept eines «Theaters des Realen», das unhierarchisch, kollektiv und inklusiv möglichst alle einschliesst und gleichwertig am Prozess teilnehmen lässt. Theater als Feier des Formalen interessiere ihn nicht, sagt Rau – vielmehr gehe es in all seinen Projekten um die Verknüpfung von Bühne und Welt, letztlich und vor allem anderen um die Frage: «Wie können wir besser, humaner, nachhaltiger zusammenleben?»
Wenn Theater real wird
Im Interview, das den Hauptteil des neuen, auf Englisch und Holländisch erschienenen Buchs ausmacht, illustriert Rau sein Theaterverständnis unter anderem am Projekt Das Neue Evangelium, das er im süditalienischen Matera realisiert hat. «Ich wollte nicht ‹einfach› ein Stück Kunst machen, das die Aktualität der biblischen Geschichte beweist und zeigt, wie bemitleidenswert die Lebensumstände der dortigen Arbeiter sind, oder das einen Migrations-Aktivisten in der Rolle des Jesus engagiert – und an dieser Stelle aufhört.»
Vielmehr versuchten das Stück, der Film und die begleitend lancierte «Rivolta della Dignità» (Revolution der Würde), die himmelschreienden Lebensumstände in den Tomatenplantagen real zu verbessern, durch die Legalisierung des Aufenthaltsstatus der meist aus Afrika geflüchteten Arbeiter und durch den Aufbau einer eigenen Distribution für die dort geernteten Tomaten. Rau verallgemeinert: Millionen Menschen würden in Westeuropa und auch auf anderen Kontinenten in die Illegalität getrieben. Um dies zu brechen, müsste es gelingen, ihnen Zugang zum Wirtschaftssystem zu verschaffen, neue Infrastrukturen oder Mikro-Ökologien aufzubauen. «Redesigning the whole process from the ground up» heisst die Devise seines «Globalen Realismus» im Buch. Kunst und Tomaten: Beides seien so letztlich nur «Liefersysteme» für menschliche Würde.
Entsprechend allergisch reagiert Rau auf das «old-fashioned» Theaterverständnis, das nach seiner Überzeugung weitherum in den europäischen Staatstheatern herrsche. St.Gallen ist dabei zwar nie genannt – aber es lockt, ein paar Vergleiche zu ziehen.
Radikale Inklusion
«Meistens, wenn ein neuer Direktor mit ‹neuen Ideen› gefeiert wird, handelt es sich um einen oberflächlichen Zugriff, ohne das darunterliegende Grundverständnis zu verändern», sagt Rau im Interview. Trotz ein paar Neuerungen, etwa mehr körperlicher Radikalität oder einiger politischer Statements, bleibe es bei der klaren Trennung: hier die Kunst, dort die Realität.
Kulturpreisverleihung an Milo Rau: 17. November, 19 Uhr, Lokremise St.Gallen, mit einer Laudatio von Sibylle Berg
Milo Rau: «Warum Kunst?»:
17. November bis 18. Dezember, Kunsthalle St.Gallen,
Vernissage: 17. November 22 Uhr
Dies betrifft nach Rau in ausgeprägtem Mass gerade die Diskussionen um Diversität. Das Thema steht bekanntlich auch am Theater St.Gallen unter dem designierten Direktor Jan Henric Bogen zuvorderst auf der Traktandenliste. Er hat dem Theater die drei Leitthemen Inklusion, Partizipation und Nachhaltigkeit auf die Fahne geschrieben. Und mit der Auswahl und der Besetzung von Produktionen erste Signale in diese Richtung gesetzt. So waren in Bogens erster St.Galler Spielzeit als Operndirektor unter dem Motto «Herstory» mehr als bisher Frauen als Regisseurinnen, Dirigentinnen und Komponistinnen am Werk, zudem wurden einzelne Rollen mit People of Color besetzt. Die laufende Spielzeit eröffnete eine Oper des schwarzen Mozart-Zeitgenossen Joseph Bologne. 2023 bringt Bogen eine Oper zu einem queeren Thema zur Uraufführung. Zudem hat er Arbeitsgruppen zu den drei Leitmotiven eingesetzt.
Dass Jesus im Neuen Evangelium mit dem schwarzen Schauspieler Yvan Sagnet besetzt oder ein Teil der Jesus-Jünger Frauen waren, sei zwar wichtig, sagt Rau: Politiken der Repräsentation seien entscheidend, um den Imaginationsraum des Möglichen zu vergrössern – aber sein Anspruch an Inklusion geht darüber hinaus. Das Ziel müssten nicht-hierarchische Kollektive sein, in denen jede und jeder die eigene Perspektive gleichwertig einbringen könne.
In seinem Zürcher Wilhelm Tell spielten PoC-Aktivistinnen oder der St.Galler Rollstuhlfahrer und Inklusionsagent Cem Kirmizitoprak mit, aber auch andere «Expert:innen des Alltags» wie ein Polizeioffizier. Hier oder in den Prozess-Inszenierungen Raus treffen Künstler:innen, Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen oder Arbeiter:innen aufeinander – und eine der grössten Herausforderungen dabei sei es, die Hierarchie zwischen Theaterprofis und Laien zu durchbrechen.
Diversität auf die Bühnen zu bringen, bestehe insbesondere bei den finanziell gut dotierten Schweizer Stadttheatern häufig darin, Direktionen mehrfach zu besetzen oder unterschiedliche Regisseur:innen ihr je eigenes Ding durchziehen zu lassen. Diese Methode laufe darauf hinaus, das Problem mit Geld zu lösen, sagt Rau sarkastisch: «throwing money at the problem until it goes away». Theater funktionierten dann wie Netflix, das Ergebnis sei nicht Inklusion, sondern Segregation, ohne am grundsätzlichen System etwas zu ändern.
Alle Macht dem Kollektiv
Das Theater NTGent, das Milo Rau seit vier Jahren leitet, geht einen anderen Weg. Für Rau sind «die Zeiten eines fixen Ensembles vorbei». Das vormalige zwölfköpfige Ensemble, weiss, sozial und ausbildungsmässig homogen, sei für eine einzige Art, Theater zu machen, gestanden – mit dem entsprechend homogenen Publikum. Sein neues «globales Ensemble» bestehe dagegen aus rund 50 Mitwirkenden, Profis neben Aktivist:innen, Anfänger:innen, Kollektiven und so weiter. Geprobt wird zumindest zum Teil ausserhalb des Theaters, zwingend mindestens zweisprachig, wie es das Genter Manifest (siehe Seite 26 im Novemberheft) vorschreibt, und alle Produktionen müssen für mehrere Länder adaptiert werden.
In seinem neuen Buch rechnet Rau in diesem Zusammenhang mit dem «sozialdemokratischen Realismus» anderer Bühnen ab: Es reiche nicht, «eine PoC als Hamlet zu casten, aber nichts im Text zu ändern, die Produktion von Firmen sponsern zu lassen, die von Kinderarbeit im Kongo profitieren, während alle Mitwirkenden der privilegierten Klasse angehören». Stattdessen gehe es darum, die Macht abzugeben und Theater als Kunst zu betreiben, die der Komplexität einer globalisierten Welt gerecht werde. Solche Produktionen brauchten allerdings genug finanzielle Mittel, genug Zeit und alle Aufmerksamkeit für die Prozesse, die dabei ablaufen – inklusive die Lizenz, scheitern zu dürfen.
Und Voraussetzung dafür wäre, wiederum auf St.Gallen bezogen, von Rau nicht thematisiert, aber sein Konzept konsequent weitergedacht: dass auch an der Spitze der Institution, im Verwaltungsrat der Genossenschaft Konzert und Theater St.Gallen, möglichst viele und diverse Kreise vertreten wären – und nicht, wie es heute der Fall ist, das Gremium von Bankiers und Vertreter:innen des Politestablishments dominiert wird.
Raus «Stadttheater der Zukunft» versteht sich als offene Bühne unter Einbezug aller gesellschaftlichen Gruppen statt als geschlossenes System von Theatermacher:innen. Alle Proben sind offen zugänglich, die Prozesse sind so wichtig wie das Resultat. Das schliesse weder klassische Texte noch klassischere Theaterformen aus – aber öffne die Tür für alle möglichen anderen Zugriffe. Einer der Mitarbeiter am NT Gent, der Schauspieler, Choreograf und Performer Chokri Ben Chikha, sagt es im Schlussteil des Buchs kurz und bündig: «We are all fucking local.»
Dieser Beitrag erschien im Novemberheft von Saiten.