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Jung, reich, eingesperrt
Aus 1000 Seiten Weltliteratur werden zwei Stunden lebhaftes Schauspiel: Am Theater St.Gallen spielt ein umwerfendes Ensemble Tolstois Anna Karenina in der Fassung von Regisseurin Mirja Biel. Die Inszenierung macht allerdings ein paar seltsame Kapriolen.

Kurzes Glück: Anna (Anna Blumer) und Wronski (Fabian Müller). (Bilder: Tanja Dorendorf)
Sie, jung, quirlig, erzählt von ihren Träumen, zweifelt am Heiraten, wägt Liebe gegen Sich-Verknallen ab. Er, ganz moderner Vater, hütet sein Kind und muss feststellen, dass es mit der Gleichberechtigung auch für den Mann noch nicht zum Besten steht. Links und rechts der Bühnenrampe stehen sie, Tabea Buser und Fabian Müller, zwei Menschen von heute, und berichten vom alltäglichen Beziehungsgnusch und -glück. Im Hintergrund spielt die Musik.
Dann geht der Sturm los, die bühnenfüllende Plane knattert und bläht sich im Ventilatorenwind und wirft die Figuren beinah um. Wenn er abflaut, sind wir bei Tolstoi in der Moskauer und Petersburger Aristokratie des 19. Jahrhunderts.
Frauen ohne Rechte
«Ich bin Anna – d i e Anna» stellt sich Anna Karenina (Anna Blumer), unglücklich mit Karenin verheiratet und Mutter eines Buben, dem Grafen Wronski (Fabian Müller) vor. Gleich wird sie sich unsterblich und am Ende tödlich in ihn verlieben.
Ihre Schwägerin Dasha (Pascale Pfeuti) wird von ihrem Mann, dem Schwerenöter Oblonski, chronisch betrogen und reibt sich im Kleinfamiliengefängnis auf. Dashas Schwester Kitty (Tabea Buser) ist ihrerseits in Wronski verknallt und gibt dem braven Lewin (Tobias Graupner) fürs erste einen Korb.
Anna Karenina schildert eine grossbürgerliche Gesellschaft, in der die Männer sich alle Rechte herausnehmen, die Frauen als Spielball ihrer Liebeseskapaden ausnutzen und ihnen keinen eigenen Willen zugestehen. Regisseurin Mirja Biel verdichtet und verschlankt den 1000-Seiten-Roman und sein ausuferndes Personal auf diese Thematik. Von den Männern bleiben Wronski und Lewin übrig, den starken schwesterlichen Kern bilden die drei Frauen.
Das interessiert, obwohl die rabiate Diskriminierung der Frauen, wie sie Tolstoi schildert und kritisiert, zum Glück der Vergangenheit angehört. Gut, dass die Annas von heute kaum mehr zwischen Liebhaber und Sohn zerrissen werden und keine Kitty mehr zitternd darauf warten muss, von ihrem Angehimmelten zum Tanz geholt zu werden. Es interessiert, weil es glaubwürdig gespielt ist von einem in allen fünf Figuren ideal besetzten Ensemble.
Zum Beispiel gerade da: Kitty hat alles auf den Ball gesetzt, auf dem ihr Wronski den ersten Walzer versprochen hat. Statt dessen hat er nur Augen und Küsse für eine andere, für d i e Anna. Da steht sie dann, Tabea Buser, im rosa Ballkleid, zitternd vor – Scham. Scham darüber, verschmäht worden zu sein. Und dann heult alles in ihr los, ein nicht enden wollendes, kindlich trotziges Heulen, das elend und zugleich in allem Jammer zum Lachen ist.
Umwerfende Präsenz
Ein Herz in Trümmern: Da blitzen zeitlose Emotionen auf, bauschen sich hoch wie die riesige Plastikplane, die Bühnenbildnerin Frauke Löffel entwickelt hat. Allerdings: Nach dem ersten Sturm verliert die Plane rasch an Kraft. Sie wird mit viel Aufwand mal hochgezogen, mal zu unterschiedlichen Formen gezurrt, lässt Projektionen zu (Video Norbert Wobring) oder flattert im Ventilatorenwind – doch fürs Spiel ist dabei nichts gewonnen.
Ein Glück, dass das Ensemble diesen Bühnenmakel mit umwerfender Präsenz kompensiert und dass der Text (in einer eigenen Fassung der Regisseurin) dennoch glasklar fliesst, raffiniert und fast unmerklich wechselnd zwischen Spiel- und Erzählperspektiven, befreit auch vom Sprachkorsett älterer Übersetzungen.
Anna Blumer macht glaubhaft, wie ihre Anna Karenina im Normenkorsett des russischen Adels langsam erstickt. Bis in die Mundwinkel ablesbar kämpfen in ihr Depression und Liebeseuphorie, gequälter Stolz, Eifersucht und am Ende tödlicher Freiheitsdrang. Pascale Pfeuti holt die betrogene Dasha mit differenziertem Spiel aus dem Schatten ihrer Schwägerin Anna, Tabea Buser spielt die Wildheit und Verletzlichkeit Kittys prächtig aus. Tobias Graupner ist als langmähniger, scheuer und treuer Lewin so glaubwürdig wie Fabian Müller als der schneidig charmante, selbstbezogene Wronski.
Im Disneyland der Referenzen
Im Hintergrund untermalt Musikerin Réka Csiszér das Geschehen und treibt es voran. Darin steckt soviel Energie, Anspielungsreichtum und atmosphärische Aufladung, dass man auf die Projektionen ganz verzichten könnte, ebenso auf die eingeblendeten Kurztexte, mal ein Zitat, mal eine Regie-Anweisung oder ein Kommentar à la «Und nun?». Das markante Spiel des Ensembles hätte solche optische Geschäftigkeit nicht nötig.
Die eingeblendeten Schriftzüge sind teils im Westernstyle gehalten, irgendwo zwischen Marlboro und Buffalo. Westernstiefel trägt auch Anna, und bei ihrem Freiheits-Fluchtversuch mit Wronski nach Italien müssen Westernhüte mit. Amerika triumphiert auch auf den fantasiesprudelnden Kostümen (von Sophie Reble). «Love me» wirbt Dasha auf ihrem Jupe, «Jeep» steht bei Kitty, Wronskis Trainerhose schmücken die Lettern LUCIRF.
Nach der Pause winkt Mickey Mouse das Publikum zurück auf seine Sitze und animiert einen grotesken Maskenball. Peanuts, Bugs Bunny, Hello Kitty und Coco Chanel tanzen mit bis zur Erschöpfung. Man lacht irritiert über das Intermezzo; Russland hatte zwar von Peter dem Grossen an bis zum Kalten Krieg ein Flair für den Westen, insbesondere für Frankreich – aber Disneyland im zaristischen Moskau?
Da geht unsereins das kulturelle Anything Goes zu weit und wirkt geschichts- und gegenwartsvergessen.
Nächste Vorstellungen:
30. September, 3., 6., 7., 9. Oktober, Umbau Theater St.Gallen
Keine Frage zwar, dass trotz des Kriegs gegen die Ukraine russische Stoffe gespielt werden dürfen, werden sollen – keine Frage, dass Anna Karenina auch oder gerade 2022 auf dem Spielplan stehen und eine Inszenierung auf alle Anspielungen auf den heutigen Krieg verzichten kann.
Aber mit Mickey Mouse tanzt die Regie auf einem fatalen Parkett. Kaum eine andere Figur verkörpert so sehr die kommerziellen und popkulturellen Hegemonie-Ansprüche des American Way of Life. Dass sich Tolstois junge Menschen die Befreiung aus ihren Geschlechterrollen ausgerechnet mit US-Hilfe holen sollen, wirkt so wenig nachvollziehbar wie der tollkühne Verweis auf Walter Benjamins «Engel der Geschichte», von dem ein Textausschnitt vor Beginn des Stücks auf der Leinwand prangt.
Benjamins den Trümmern des Zweiten Weltkriegs abgerungene Forschrittsskepsis und Katastrophenperspektive als Folie für den Freiheitsdrang und die Fortschrittshoffnung der Anna Karenina und ihrer Leidensgenossinnen? Wie das aufgehen soll, bleibt ein bis am Ende des Stücks wohl gehütetes Geheimnis der Regie.