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Meister der Rezeptivität
Von den nächtlichen Debatten im Cabi über St.Gallen, Zürich und Berlin bis zur hohen Kunst, Bedeutung zu schaffen: Anekdoten und Reflexionen zu Milo Rau.

Aufnahmen zur Kreuzigungsszene für Das Neue Evangelium, 2019. (Bild: Armin Smailovic / Agentur Focus)
Mitarbeiter:innen von Milo Rau, die die unzähligen Recherchereisen in Rumänien, Russland, im Kongo, im Irak, Syrien und im Amazonas mitgemacht haben, könnten erzählen von Verhandlungen mit Diktatoren und Rebellenführern, von Gerangel mit Kosaken und verweigerten Einreisen, hastig verbotenen Aufführungen, langen Gerichtsprozessen, Übernachtungen im kurdischen Hauptquartier an der IS-Front usw. Das wäre sehr aufregend. Aber ich war dort leider nicht dabei. Quasi als Ersatz hier einige andere Bemerkungen zu Milo und meinem Verhältnis zu ihm und seiner Arbeit.
Gjomse Primeln, Hammerfrühstück, Debatten im Pool
Unsere Freundschaft und Zusammenarbeit begann als praktische Schwärmerei bei der Gruppe Gjomse Primeln im Cabi, dem Antirassismus-Treff im St.Galler Linsebühlquartier. Milo war 20 und ich 26. Wir verstanden uns gut, nicht zuletzt, weil wir dieselben marxistischen Bücher gelesen hatten. Er schon mit 14 und ich mit 20, womit wir in dieser Sache trotz Altersunterschied etwa auf dem gleichen Stand waren.
Bei den Gjomseln trafen sich damals ein paar fröhliche, praxisaffine Theoretiker:innen unter dem Doppel-Motto: «Destruktion und Rekonstruktion statt Dekonstruktion» sowie Lafere-Lifere-Lafere. Die in dieser Zeit virtuos diskutierten und disruptiv ausgeführten Aktionen in St.Gallen und Zürich waren allerdings nicht immer sehr ausgewogen und litten einmal unter zu viel Absicht bei wenig Wirkung und dann wieder unter sehr viel Wirkung ganz ohne Absicht. Ein Missverhältnis, das seit da in Milos Kunst nie mehr zu beobachten war – womit er schon früh eine für sein Schaffen zentrale Lehre gezogen hatte.
Schon bald zog Milo nach Berlin, wo ich ihn gerne besuchte. Die Mischung aus maximalem Trash – beim Wohnen (Steinkohleheizung, laute, aggressive Hinterhofstimmung, in der sich bereits die Nachwende-Regression bei den wirklichen und vermeintlichen Verlierer:innen akzentuierte) und beim Essen (Hammerfrühstück für 1.99, Schawarma für 1.99) – und maximal weitschweifig-hochfahrenden Gesprächen zwischen tausenden von Büchern oder in prä-yuppisierten Kneipen ist mir in bester Erinnerung.
Milo war in Berlin schnell in verschiedene lustige und avantgardistische Projekte verwickelt und schmiedete in verschiedenen realen und virtuellen Kreisen seine Pläne. Die realen bestanden aus Künstler:innen, Kurator:innen, Journalist:innen und Intellektuellen, die virtuellen aus Typen wie mir.
Kulturpreisverleihung an Milo Rau: 17. November, 19 Uhr, Lokremise St.Gallen, mit einer Laudatio von Sibylle Berg
kulturstiftung.sg
Milo Rau: «Warum Kunst?»:
17. November bis 18. Dezember, Kunsthalle St.Gallen,
Vernissage: 17. November 22 Uhr
k9000.ch
Als unsere Kinder noch klein waren, verbrachten wir mit Milos Familie jeweils im Sommer eine Woche in Südfrankreich. Dort gaben wir uns am Morgen masslosen Debattierkaskaden und intellektuellen Scherzen hin – im Pool, in der Küche oder auch oft auf der Treppe des kleinen Rathauses, dem einzigen Ort weit und breit, wo es damals Internet gab –, und nachmittags verbrachten wir die Zeit mit wilden Rodungen im Garten, ungezogenen Nachbarsjungen oder Ausflügen auf der offenen Ladebrücke eines alten Lasters. In diesen Ferien entstanden einige der wichtigen Buchprojekte und Theorie-Gespräche, wie Das ist der Grund, warum es die Kunst gibt, zum «Globalen Realismus» oder Wiederholung und Ekstase.
City of (no) Change
Im Jahr 2011 machten wir St.Gallen an der Lokremise zur fröhlichen City of Change. Vorausgegangen war einer der grössten Theaterskandale, mit denen es Milo je zu tun hatte. Geplant war, anhand der politischen Folgen des sogenannten Lehrermords in St.Gallen einen Diskursraum für Fragen der Schweizer Integrationspolitik zu öffnen. Allein die Ankündigung des Vorhabens brachte eine beispiellose Welle der Empörung hervor mit politischen Hearings und Morddrohungen, so dass sich das Theater innert Tagen gezwungen sah, das Projekt zurückzuziehen.
Aus den Trümmern des alten Stücks stieg dann strahlend die City of Change hervor. Sie brachte viel Witz, viel Pathos, viel Medien-Trash, viel Debatte mit kontroverser Prominenz (Karin Keller-Sutter, Cédric Wermuth, Philosoph Robert Pfaller, Integrationspapst Mark Terkessidis, «Weltwoche»-Journalist Philipp Gut usw.), dazu fand die versammelte Musikprominenz zum bisher grössten gemeinsamen Musikprojekt in St.Gallen zusammen, der Einspielung des Songs We are the World, und schliesslich kam mir die Rolle als Minister für Theorie zu, dessen nicht unwichtigste Aufgabe es war, auf dem Klosterplatz selbstgebackene Friedenstäubchen zu verteilen für unsere Petition für ein Ausländer:innenstimmrecht und ein neues St.Galler Wappen.

City of Change auf dem Dach der St.Galler Lokremise, 2011, mit Alexandre Pelichet, Diana Dengler und Andrea Haller. (Bild: Valérie Maerten)
Eines meiner liebsten der vielen wunderschön in Szene gesetzten Fotos der City of Change zeigt unseren Präsidenten mit seiner Crew beim Hissen der neuen Flagge auf dem Dach des Rathauses, eine Reminiszenz an das berühmte Anbringen der Sowjetfahne auf dem Reichstag nach der Befreiung Berlins durch die Rote Armee 1945.
Kein Holocaust im «Grünen Glas»
Zwei Jahre später, 2013, verwandelte Milo Rau das Neumarkt-Theater in einen Gerichtssaal. Die Zürcher Prozesse verhandelten den Fall der rechtspopulistischen «Weltwoche» vor einem Geschworenengericht mit den Anklagepunkten «Rassismus» und «Volksverhetzung». Um im Theater diesen für die Demokratie wichtigen Streit über die Grenzen der Meinungsfreiheit so real wie möglich zu inszenieren, casteten wir uns durch die ganze links- und rechtsintellektuelle Szene der Schweiz.
Dass Roger Köppel und sein Anwalt in letzter Minute ihre Zusage zurückzogen, schadete der Sache aus Ostschweizer Sicht wenig, sprang doch der stets unterhaltsame St.Galler Jurist Valentin Landmann in die Bresche. Weit schwerer wog, dass sich sehr viele Linke entweder aus Angst, in der «Weltwoche» an den Pranger gestellt zu werden, oder aus dem Prinzip, sich mit «denen» nicht auf derselben Bühne zu zeigen, nicht bewegen liessen, bei den Zürcher Prozessen auszusagen.
Für Milo, der gerade zwei Monate vorher bei den Moskauer Prozessen viele Menschen gefunden hatte, die trotz realer Bedrohungen durch Staat und Paramilitärs in den Zeugenstand traten, war das Ganze nicht einfach einzuordnen. Als Ersatz kamen andere zu Wort, zum Beispiel jener Verfassungsrechtsprofessor der Uni Fribourg, der im Vorgespräch vollmundig versicherte, den eindeutigen Beweis für rassistische Hetze in der «Weltwoche» zu führen. Im Zeugenstand aber zu dieser Sache befragt, liess er bloss verlauten: «Das ist Ansichtssache, je nachdem, wie man es betrachtet.»
Der Beweis, dass die Gerichtsprojekte von Milo nicht vorgeskriptet sind und der Ausgang offen, war damit erbracht, der Sache aber nicht wirklich geholfen, und folgerichtig kam es auch zum Freispruch für die «Weltwoche». Dafür ging es dann abends hoch her. Mit Entsetzen sahen wir, dass im Restaurant «Zum grünen Glas» nach dem vierten roten Glas die Witze des «Weltwoche»-Journalisten und das Lachen des Verfassungsrechtsprofessors im rosa Hemd immer dreister wurden, bis sie schliesslich unter unserem (ungehörten) Protest bei der sonst nur aus Dokus über Neonazis bekannten Holocaust-Spass-Leugnung landeten.
Kittel kaufen mit dem Menschenrechtsanwalt
In Milos Leben sind die Angelegenheiten meist in zwei Abteilungen eingeordnet. In der einen sind die Dinge, für die seine ungeteilte Aufmerksamkeit, seine Intelligenz, seine Kreativität, seine Vorstellungskraft und Akribie zuständig sind, und in der anderen jene, die auf geheimnisvolle und unbewusste Weise immer wieder aus dem Bereich seiner Aufmerksamkeit herausfallen. Persönliche Utensilien wie Handys oder Koffer dämmern meistens in der zweiten Abteilung vor sich hin.
Einmal, es war bei den Berlin-Hearings zum Kongo Tribunal, stellte Milo fest, dass er am Abend einen TV-Auftritt hatte und sein verschwitztes Hemd irgendwie nicht mehr für die Kamera geeignet schien. Er rief mich an und bat mich, ihm ein Hemd und einen Kittel zu besorgen. Da ich vergessen hatte, nach der Grösse zu fragen, und gerade mit dem Untersuchungsleiter des Kongo Tribunals, dem kongolesischen Menschenrechtsanwalt Sylvestre Bisimwa, in der Berliner City auf einer sehr unterhaltsamen Shopping Tour war, stand dieser mir gerne mit Rat und als Modell zur Seite.
Schliesslich kauften wir einen Sakko in wunderschönem Blau, der Sylvestre wie angegossen passte, nur leider Milo zwei Nummern zu gross war, was ihm nichts ausmachte, weil es ja seiner Arbeitsweise entspricht, Dinge, die anfangs zu gross erscheinen, zur perfekten Passung zu bringen.
Reale Bedeutsamkeit
Was ist nun – nebst der alten Freundschaft – das Faszinosum Milo Rau für mich, was ist mein spezifisches Interesse, seine Arbeit zu verfolgen und immer mal wieder daran mitzuwirken?
Schon oft habe ich in Essays, Vor- und Nachwörtern zu den vielen Büchern versucht, verschiedene Aspekte davon zu beschreiben, und möchte hier einen weiteren Aspekt hinzufügen: den Aufbau von Bedeutsamkeit. Denn etwas, was mich als Autor, Lehrer oder Religionsphilosoph immer beschäftigt, ist die Frage, wie etwas für eine bestimmte Gruppe von Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeinsam als bedeutsam erkannt wird.
Wenn man im digitalen Zeitalter, wo Aufmerksamkeit oft nur im Zustand des Zerfalls erlebt werden kann, in einem Stück von Milo Rau hunderte von Leuten konzentriert einem ereignisarmen Geschehen beiwohnen sieht, ist das genug Anlass zur Frage, wie er das hinbekommt. Ohne all die vielen anderen Faktoren zu erwähnen, die es dafür braucht und die andernorts schon vielfach ausgeführt wurden, möchte ich hier nun einmal von den Proben ausgehen.
Warum Kunst? Zürcher Poetikvorlesung von Milo Rau:
Teil II: 10. November, Literaturhaus Zürich
Teil III: 16. November, Kunsthaus Zürich.
Teil I kann auf republik.ch nachgehört werden.
Bei den Proben zu Stücken wie Lenin an der Berliner Schaubühne, Die 120 Tage von Sodom oder Wilhelm Tell am Zürcher Schauspielhaus wird anfangs viel diskutiert. Experten:innen werden eingeladen, Orte werden besucht, Interviews geführt, Filme geschaut. Für Milo geht es dabei darum, aus den zusammengewürfelten Haufen von Profis und Laien-Darsteller:innen und allen anderen unterschiedlichen Berufsgruppen am Theater eine Projektgemeinschaft zu formen, einen für alle spürbaren Resonanzkörper zu haben und von daher dann die Szenen zu formen. Das heisst, es gibt lange keinen Text, es gibt lange keine üblichen Regieanweisungen, es gibt eine lange Phase von unterschiedlich grosser Unsicherheit bei allen.
Erst aus dieser immer wieder neu herzustellenden Doppelstruktur einer sich allmählich deutlich herausbildenden Erfahrungsgemeinschaft auf der einen Seite und einem grossen, ungeordneten Haufen mit von allen zusammengetragenem Material auf der anderen Seite, entsteht jene maximale Spannung, in der Milo selber am produktivsten ist und auch die anderen mit hineinzieht. In diesen langen Phasen der ungeordneten, masslosen Materialanhäufung muss sich herauskristallisieren, was sich für genug bedeutsam erweist, um auf der Bühne ins Licht gerückt zu werden bzw. zur Erscheinung zu kommen. Es gibt dafür keine bestimmte Technik, sondern nur das, was wir im Buch Wiederholung und Ekstase «Rezeptivität» genannt haben.
Die Kunst des Enthüllens
Wenn ich Milo nun einen Meister der Rezeptivität nenne, dann deshalb, weil er wie nur wenige andere verstanden hat, auf welchem Boden allein der Aufbau bzw. die Rekonstruktion von Bedeutung gelingen kann, und dass dieser Prozess sehr viel mehr mit einem konzentriert rezeptiven Einklingen und Einstimmen auf die Atmosphäre oder Sinnlichkeit eines Themas zu tun hat als mit Analyse und Dekonstruktion oder mit Wissen und Fakten.
In einem Gespräch zu diesem Thema sagte er einmal: «Als Künstler interessiert mich Wissen einfach nicht. Es geht mir nicht um das analytische Beherrschen eines thematischen Zusammenhangs, sondern um ein instinktives Können, das auf einem maximalen Sich-Durchdringen-Lassen durch Präsenz besteht.»
Daraus spricht keineswegs eine Geringschätzung von Wissen und Analyse, sondern vielmehr ist ihm das eine wie das andere einfach selbstverständlich. Ja, es macht gerade den Kern seines Genies aus, dass die für die meisten mühsame Arbeit des Verstehens bei Milo eine Art Automatismus ist, so dass er diesem Vorgang kaum Bedeutung beimisst und ein schnelles, umfassendes Verständnis von Situationen, Konstellationen und Konflikten usw. einfach als gegeben ansieht.
Erst hier, also jenseits des Wissens, beginnt sein künstlerisches Interesse, das darin besteht, auf der Basis des von ihm osmotisch Aufgesogenen und automatisch Verstandenen eine Perspektive zu finden, in der eine andere Sicht auf dieses Wissen möglich wird, eine sonst nicht sichtbare Sache erscheinen kann, eine sonst nicht vermisste Position bedeutsam wird.
Wo das gelingt, erscheint auf der Bühne der in der normalen Alltagswahrnehmung fehlende Aspekt der Wirklichkeit: das «Reale». Die Enthüllung des Realen lautet entsprechend der Titel eines frühen gemeinsamen Buches. Denn das Reale in diesem Sinn ist immer das durch die Mächtigen Verhüllte und gleichzeitig durch die Ohnmächtigen Verdrängte, das von diesen Ersehnte und gleichzeitig Abgewehrte, das Vermisste und zugleich Vergessene, das Lustvolle und Ängstigende usw. Wo es im künstlichen Raum des Theaters erscheinen kann, ist Bedeutsamkeit hergestellt, weil die Zuschauenden plötzlich, was vorher einheitlich erschien, nun gespalten oder doppelt sehen: die Herrschaft in der Lust, die Wahrheit im Ressentiment, die Schönheit in der Gewalt, die Zerbrechlichkeit des Ewigen usw.
Über die Bedingungen des Erscheinens des Realen in diesem Sinn und ganz allgemein des Aufbaus von Bedeutung weiss im gegenwärtigen Kunst- und Kulturbetrieb wohl keiner besser Bescheid als Milo Rau.
Rolf Bossart, 1970, ist Publizist und Theologe in St.Gallen und Mitarbeiter von Milo Raus International Institute of Political Murder (IIPM) in den Funktionen Theoriearbeit, Recherche, Herausgeber.
Dieser Beitrag erschien im Novemberheft von Saiten.