, 10. Dezember 2018
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Menschenrechte: in Scherben und verteidigt

Der Bischof von Chur vermisst die Meinungsfreiheit. Wer so denke wie er, werde diskriminiert, hat er zum heutigen Internationalen Tag der Menschenrechte verlauten lassen. Es gibt zum 70-Jahr-Jubiläum der Deklaration aber auch Ernsthaftes zu lesen.

1948: Eleanor Roosevelt mit einem Ausdruck der Deklaration der Menschenrechte.

Zum Beispiel von Max Lobe, einem Schriftsteller aus Kamerun, der in Genf lebt. Unter dem Titel Eine Babyfläschchen-Geschichte schildert er einen unglücklichen Zusammenprall mit einer jungen Mutter in einer Migros in Genf. Dabei geht die Schoppenflasche ihres Kleinen in Scherben, doch die (teure) Ersatzflasche aus dem Regal lehnt die Frau ab, weil es nicht genau die gleiche sei wie die kaputtgegangene. Nach und nach wird klar, warum: Wegen des «falschen» Fläschchens fürchtet sie Probleme mit ihrer «Chefin», die aus dem selben Dorf in Marokko stammt wie sie, bei der sie als Sklavin angestellt sei und die sie misshandle – aber Polizei, eine Anzeige, nein, auf keinen Fall.

Die Kurzgeschichte steht im Buch Menschenrechte weiterschreiben, das eben im Salis-Verlag erschienen ist. Zu jedem der rund 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte haben Autorinnen und Autoren aller Landessprachen einen «weiterschreibenden» Text beigesteuert. Max Lobes Beitrag antwortet auf Artikel 4: «Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen ihren Formen verboten.» Ein Verbot, das, wie Lobes Geschichte zeigt, so schwer durchzusetzen ist wie viele andere Paragrafen der Deklaration.

Die Menschenrechte und die Rechtlosen

Versammelt sind im Buch bekannte Namen wie Ruth Schweikert, Leo Tuor, Petra Ivanov, Daniel de Roulet, Alberto Nessi, Monique Schwitter, Yusuf Yesilöz usw., daneben auch Stimmen namentlich aus der Romandie, die man, wie Max Lobe, hier weniger kennt. Die ins Deutsche übersetzten Beiträge erscheinen auch in der Originalsprache.

Menschenrechte weiterschreiben, hrsg. von Svenja Herrmann und Ulrike Ulrich, Salis Verlag Zürich 2018, Fr. 32.-

An den 30 Artikeln lassen sich Schicksale ablesen, von Menschen, denen ihre Rechte verwehrt sind. Alberto Nessi, mit Jahrgang 1940 der Senior unter den Autoren, erhebt seine Stimme gegen die Abschiebung von ecuadorianischen Kindern im Tessin. Monique Schwitter prangert am Beispiel der Proteste gegen den G-20-Gipfel in Hamburg 2017 das Fehlen der Versammlungsfreiheit an.  Sascha Batthyany schreibt einen zornigen Brief an einen unbekannten Zuhälter, der die junge Ungarin Viki in den Tod getrieben hat.

Andere Autorinnen und Autoren gehen poetisch an das Thema heran. Zu ihnen zählt Amina Abdulkadir. Die Spoken-Word-Autorin aus Basel, in Mogadischu geboren, schreibt zu Artikel 18, jenem ominösen Artikel zur Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Darin steht der Satz: «Dieses Recht schliesst die Freiheit ein, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.» Es ist der Satz, vor dem sich alle Diskussionen um die Freiheit der Rede und deren Einschränkungen behaupten müssen.

Das kostbare «Es»

Amina Abdulkadir schildert in ihrem kurzen Text ein Kind und seinen Umgang mit einem geheimnisvollen «Es»: Es muss geschützt werden, wie in einem Kelch umsorgt, vor fremden Blicken verborgen, man muss aufpassen und darf es nicht verschwenden, aber es wird auch nie weniger und macht das Kind stolz. Das «Es» ist vielleicht ein Glaube, eine Überzeugung, eine Kostbarkeit jedenfalls, die durch die Erklärung der Menschenrechte geschützt, aber deswegen nicht minder fragil ist.

Die Erklärung der Menschenrechte ist 70 Jahre alt. «Siebzig Jahre, sagst du, was wollt ihr denn feiern, in dieser Zeit der Verächter, der neuen Lenker und der alten Schlächter, der Schreihälse und Tramper», grummelt der alte Nonn im Text von Urs Faes mit dem Titel Unterwegs mit Nonn. Aber der Autor widerspricht: «Siebzig Jahre, Nonn, ist das her, aufgeschrieben, festgeschrieben, ein Recht, auf das einer sich berufen, das er in Anspruch nehmen kann. Wir feiern und erinnern, dass einer sich berufen kann, auf das, was da steht, eine Ordnung, die ihn schützt, ein Umfeld, wo Rechte des Menschen sein können, hier und irgendwo auf der Welt, hier und überall, Nonn, auch auf dem Meer und dem Mond.»

Die Deklaration lesen!

Daran könnte man auch den Bischof von Chur erinnern, wenn er zum heutigen Tag der Menschenrechte klagt: wer die rigide katholische Sexualmoral verteidige, riskiere hierzulande öffentliche Diskriminierung und werde so in seiner Gewissens- und Religionsfreiheit beschnitten. Huonders alttestamentarische Sicht von Homosexualität als «Gräueltat» hat jedenfalls nichts mit Respekt vor Andersdenkenden und -handelnden zu tun. Predigen mag er sie dennoch – aber nicht unwidersprochen.

30 Stimmen zum Jubiläum der Menschenrechtsdeklaration: Das gibt es nicht nur helvetisch zwischen Buchdeckeln, sondern international auch als Film. What Matters ist ein Filmprojekt zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, das vom Internationalen Literaturfestival Berlin initiiert wurde. 30 Autorinnen, Schauspieler, Studentinnen und Schüler aus verschiedenen Ländern lesen jeweils einen Artikel der Deklaration in ihrer Landessprache. Mitgewirkt haben unter anderem Vivienne Westwood, Nina Hoss, Can Dündar, Patti Smith, Simon Rattle, Ai Weiwei, Elfriede Jelinek und David Grossman:

 

 

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