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Ohimè!
Die Alternative zum Sittertobel gabs am Freitagabend an den St.Galler Festspielen: Zum Auftakt der Konzertreihe mit Alter Musik rockte das italienische Ensemble La Venexiana die Kirche St.Laurenzen mit Liebeslust und -leid von Claudio Monteverdi.
«Ohimè dov’è il mio ben» klagen die Sopranistinnen im Duett, schwankend zwischen tiefen Seufzern und höchster Erregung. Emanuela Galli und Vittoria Giacobazzi reissen das Publikum hinein in die Abgründe ihres Liebeskummers, auch wenn vom Text nur Fragmente verständlich sind, «torna torna» etwa, «komm zurück»; später reimt sich «cruda sorte» auf «morte» wie fast immer bei Monteverdis Textdichtern.
Kann sein, dass das Echo aus dem Sittertobel etwa so zurückgekommen wäre: «Passä mir zunenang? bisch glücklech? Wirds mau es glück si? wosch no chli blibä?» – falls Jeans for Jesus diesen Song denn in ihrem Programm hatten. Die fünf Berner standen zur gleichen Zeit unten auf der Sternenbühne wie La Venexiana oben in der Laurenzenkirche. Kurz vorher hätte man mit Patent Ochsner im Tobel die W.Nuss vo Bümpliz anhimmeln können.
Hier oder dort: Von der Liebe singt es sich seit jeher am liebsten und am schwersten zugleich, im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert, als Monteverdi seine neun Libri dei madrigali publiziert, nicht anders als heute.
Saitenzärtlichkeit
Die Instrumentalbegleitung ist exquisit. Gabriele Palomba, der Leiter von La Venexiana, und Franco Pavan legen mit ihren Theorben einen satten roten Teppich, Lorenzo Feder perlt am Cembalo, und Harfenistin Chiara Granata wirft silberne Kaskaden in den Gesang hinein. In wechselnder Kombination loten die vier Instrumentalisten alle Affekt- und Leuchtfarben ihrer Saiteninstrumente aus, zwischen Klage, Wut, Lust und betörender Zärtlichkeit. Unplugged.
Vor dieser elektrisierenden Klangkulisse ziehen die drei Sängerinnen und zwei Sänger grosses Theater ab. Zu den Sopranistinnen kommen Marta Fumagallis eleganter Alt, Tenor Alessio Tosi mit komödiantischem Übermut und fliegenden Notenblättern sowie Salvo Vitales strömender Bass hinzu. Man fühlt sich auf eine italienische Piazza versetzt, wo das ganze Leben und Lieben Commedia ist – ein Klischee, aber hier erfüllt es sich.
Molto espressivo
Das Programm führt quasi im Gegenuhrzeigersinn von der Liebestrauer zum Liebestaumel. Leider liefern die Festspiele kein Textblatt mit – umso bedauerlicher, als für Monteverdi das Wort und dessen affektgeladene musikalische Umsetzung im Zentrum stand, wie das Programmheft selber vermerkt. Allerdings spricht die Musik auch so quasi von Herz zu Herz, zumal wenn sie so espressivo vermittelt wird, wie es das Markenzeichen von La Venexiana ist.
Das kann einem zwischendurch auch zuviel des Guten sein, namentlich dort, wo die Liebesmunterkeit schon in der Musik überquillt, wie in Sfogava con le stelle aus dem vierten Madrigalbuch oder den venezianischen Scherzi musicali. Prächtig passte das Szenen- und Mimenspiel von Sopran und Tenor hingegen zum Schäferduett Bel pastor.
In emotionale Tiefen führte der erste Teil des Programms. Da glaubte man die «lagrime» strömen zu hören, wurde zwischen ersehntem «dolce vita» und erahntem «sepulcro» in wenigen Takten existentiell herumgeschleudert, oder hörte mit stockendem Atem, wie ein bedauernswerter Alceo die wildesten musikalischen Leidenschaften durchlitt. Beglückend auch der Abstecher in die geistliche Liebe (und ins Latein), mit zwei Stücken aus der Marienvesper.
Bach mit Akkordeon, Hildegard auf arabisch
Im Konzertprogramm der diesjährigen Festspiele geht es am 3. Juli weiter mit dem musikalischen Geschichtenerzähler Marco Beasley und seinem «Racconto di mezzanotte». Das französische Ensemble Les inAttendus bringt am Dienstag Bachs Kunst der Fuge in einer in der Tat unerwarteten Fassung für Violine, Gambe und Akkordeon zu Gehör.
St.Galler Festspiele, bis 8. Juli
Am Donnerstag schliesslich prallen in einem Projekt rund um Vertonungen des Hohelieds die Kulturen zusammen: zeitlich vom frühen Mittelalter über den Barock bis zur Gegenwart, geografisch vom arabischen Raum bis Norddeutschland, biografisch von Hildegard von Bingen bis Oum Kalthoum, mit der tunesischen Sängerin Ghalia Benali, dem belgischen Ensemble Zefiro Torna und dem Vocalconsort Berlin.
Die Programme zeigen einmal mehr, wie experimentierfreudig, fusion-erprobt und nicht nur historisch informiert, sondern auch gesellschaftlich engagiert die Alte-Musik-Szene unterwegs ist.