, 20. August 2014
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Prozess um den öffentlichen Raum

In Winterthur hat der erste Prozess nach den Demonstrationen vom letzten Herbst stattgefunden. Das Urteil: 100 Franken Busse für den Angeklagten. Dieser hält eine «Rede gegen Repression». Der Bericht von Sandra Biberstein.

Es ist 7.30 Uhr. Vor dem Bezirksgericht in Winterthur versammeln sich die ersten Medienschaffenden. Es ist der erste Fall aus dem Kontext der «Standortfucktor»-Tanzdemonstration vom 21. September 2013 und der nachfolgenden unbewilligten Kundgebung «Bring Your Noise» am 19. Oktober 2013, der vor Gericht verhandelt wird. Einem 28-jährigen Winterthurer wird vorgeworfen, sich mit der Teilnahme an der zweiten Kundgebung strafbar gemacht zu haben. Das Bussgeld beträgt laut Strafbefehl 300 Franken, hinzukommen 330 Franken Verfahrensgebühren. Er ist einer von mehr als 20 Personen, die einen Strafbefehl erhalten haben. Eine erste Busse von 400 Franken für die Beteiligung an der ersten Tanzdemonstration hat er bereits bezahlt. Laut dem zuständigen Richter Stefan Jaissle liegen mehr als ein Dutzend Verfahren mit dem Vorwurf «Teilnahme an unbewilligter Demonstration» vor, die sowohl die Tanz- als auch die Nachdemonstration betreffen.

7.45 Uhr. Inzwischen haben sich vor dem Bezirksgericht gut 50 Personen versammelt, darunter Betroffene und Personen, die sich mit ihnen solidarisieren. Sie haben ein Transparent mit der Aufschrift «Trotz Sozialabbau, Lofts und Gummischrot – Wir bleiben die Stadt» dabei. Das Interesse an dem Fall ist gross. Das Vorgehen der Polizei ist nicht unumstitten: Kann die Polizei Teilnehmer einer unbewilligten, aber friedlichen Demonstration im Nachhinein und ohne Verwarnung büssen?

Durch eine Sicherheitsschleuse werden knapp 25 Personen zur Verhandlung eingelassen, davon zehn Medienschaffende. Die restlichen Interessierten müssen draussen warten, weil es im Gerichtssaal keinen Platz mehr habe.

«Dazu mache ich keine Aussage»

Der Gerichtsvorsitzende Stefan Jaissle eröffnet die Verhandlung mit persönlichen Fragen an den 28-Jährigen. Schulbildung, Familienverhältnisse, berufliche Tätigkeit: Die Antwort des Angeschuldigten lautete jedesmal «Dazu mache ich keine Aussage». Auch zu den zwei Vorstrafen aus den Jahren 2006 und 2010 will er nichts sagen. (Bei diesen handelte es sich um Sachbeschädigung und Gewalt und Drohung gegen eine Person der Behörden.) Und auch zu den Fragen, ob er tatsächlich an der Kundgebung «Bring your Noise» im letzten Herbst teilgenommen, ob er gewusst habe, dass diese unbewilligt sei und woher er von der Kundgebung wusste, verweigert er die Aussage.

Anwalt Viktor Györffy führt anschliessend in seinem Plädoyer aus, dass die Anklage gegen seinen Mandanten ungenügend formuliert sei. Vieles sei unklar und nur sehr vage. So stehe nichts darüber, was während der Zeit zwischen 15 und 20 Uhr geschehen sei. «Die Demonstration war zwar nicht bewilligt, aber sie stand unter dem Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit», sagt der Verteidiger. Die Videoaufnahmen und Fotos, die die Polizei von der Demo verwendete, seien zudem als Beweismittel nicht brauchbar. Es stelle sich die Frage, inwiefern diese illegal erfolgten. Die Überwachung von Veranstaltungen sei gemäss Polizeigesetz an zwei Bedingungen geknüpft: Entweder muss die Sicherheit gefährdet sein oder die Polizei braucht konkrete Anhaltspunkte für geplante Straftaten. Verläuft die Demonstration wie am 19. Oktober friedlich, müssen die Bilder gelöscht werden.

Dass «Bring your Noise» die öffentliche Sicherheit nicht gefährdet habe, zeige sich auch daran, dass während der Kundgebung keine Polizeipräsenz sichtbar war. «Man hat die Versammlung und den anschliessenden Umzug durch die Altstadt gewähren lassen», sagt der Anwalt. Das Recht, sich zu versammeln, sollte frei von Überwachung und Repression ausgeübt werden können. Diese Voraussetzungen seien aber nicht gegeben und die Überwachung somit rechtswidrig.

Richter unterbricht Schlusswort

Die Versammlung am Oberen Graben stehe zudem in einem grösseren politischen Zusammenhang.  «Wenn der Staat die Ausübung von Grundrechten überwacht, schreckt das ab, seine Grundrechte, also die Meinungs- und Versammlungsfreiheit auszuüben», sagt der Anwalt und fordert einen Freispruch für den 28-Jährigen. Dieser hält als Schlusswort eine «Rede gegen Repression». Darin erläutert er, dass die Kundgebung «Bring Your Noise» eine Aktion war, die sich sowohl «gegen die Stadtaufwertung von oben als auch gegen die massive Polizeigewalt und die scheinheiligen Spaltungsversuche der Stadtregierung» richtete. Die Zurückhaltung der Polizei am 19. Oktober zeige nur «eine weitere Facette der Repression, die schon bei Standortfucktor nur ein Ziel vor Augen hatte: Die Politisierung und die Wiederaneignung des öffentlichen Raumes durch die unzufriedenen Menschen zu verhindern.»

Standortfucktor, Winterthur , 21.09.2013

Die Standortfucktor-Demo vom 21. September. Bilder: Coucou

Der Richter unterbricht und ermahnt den Angeklagten, dass er zur Tat Stellung nehmen dürfe, nicht aber zu politischen Themen. Die Rede darf er dennoch beenden, ihr Fazit: «Durch Aktionen im öffentlichen Raum versuchen wir, uns der Kommerzialisierung und Privatisierung dieser Orte entgegenzustellen und den Widerstand gegen eine Stadtentwicklung zu organisieren, welche den Interessen von Macht und Kapital dient.» Die Nutzung des öffentlichen Raumes durch die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt werde nur geduldet, wenn sie kommerziell verwertbar sei. Alles andere werde marginalisiert oder gleich kriminalisiert. Der öffentliche Raum sei der Ort, an dem gesellschaftliche Wiedersprüche sicht- und fassbar gemacht und die Kritik an den Zuständen vermittelt werden könne. Ein Freund skandiert zum Schluss: «Eusi Stadt, eusi Quartier – weg mit dä Yuppies, weg mit de Schmier!»

9.15 Uhr. Der Richter beendet die Anhörung und setzt die Urteilsverkündung auf 10.30 Uhr an. Vor dem Bezirksgericht sitzen Freunde des Angeschuldigten sowie Sympathisanten zusammen und frühstücken. Die Zahl der Personen, die auf die Urteilsverkündung warten, ist zwischenzeitlich auf gut 80 Personen angewachsen. Die Gespräche drehen sich um die von der Stadtpolizei für den Zeitraum von Montagabend bis Donnerstagmorgen angekündigte Überwachung des Platzes vor dem Bezirksgericht, um den Prozess und um die Kundgebungen im letzten Herbst. Während die Sympathisanten vor dem Bezirksgericht warten, werden in der Innenstadt mehrere Einsatzwagen der Polizei gesichtet. Verkehrspolizisten stehen bereit, um den Verkehr zu regeln.

100 Franken Busse

10.30 Uhr. Richter Jaissle lässt das Urteil verlesen. Der 28-jährige wird zu einer Busse von 100 Franken anstatt 300 Franken verurteilt. Die Busse sei eine Zusatzstrafe zu den bereits bezahlten 400 Franken für Teilnahme und Nicht-Befolgen von polizeilichen Anweisungen an der ersten Tanzdemonstration. Ausserdem werden ihm die Gerichtskosten von 1200 Franken auferlegt sowie 680 Franken für das Verfahren beim Stadtrichteramt. Richter Jaissle erläutert, dass aus Sicht des Gerichts die Anklageschrift genüge. Zudem liege neben den Überwachungssequenzen der Polizeirapport vor. Auf den Prints sei der Angeschuldigte klar erkennbar, wie er am Oberen Graben neben Transparenten mit klaren politischen Statements stehe.

Der Richter widerspricht der Argumentation des Anwalts, wonach die Video- und Fotoaufnahmen illegal seien. Eine Gesetzgebung liege vor. Das Videomaterial müsse für die Verwendung aber entpixelt werden. Da die Polizeiermittlungen zum ersten Strafbefehl bereits liefen, sei es zulässig, dass verdeckt ermittelt wurde. Es bestehe zudem kein Grundrecht auf eine unbewilligte Demonstration. Der Anwalt des 28-Jährigen wird nun prüfen, ob er das Urteil weiterzieht.

11 Uhr. Der Prozess ist vorbei. Ein Sympathisant verkündet per Megaphon das Urteil. Ein Polizeiauto fährt vorbei. Die Unterstützer ziehen mit den Transparenten Richtung Oberen Graben, gefolgt von einem Einsatzwagen. Beim Holzmann lassen sie sich nieder und essen Zmittag. Um 11.30 Uhr sind nur noch wenige der Sympathisanten anwesend. Um die Ecke in der Obergasse und an anderen Orten in der Innenstadt warten Polizisten in Einsatzwagen. Ihre Präsenz erinnert daran, dass der Prozess von heute morgen erst der Auftakt war, für einen grösseren Stellvertreter-Prozess, der im Herbst folgen wird. Denn die Fälle von Demonstranten, die sich am «Standortfucktor» härterer Vergehen wie Vermummung oder Körperverletzung strafbar gemacht haben sollen, sind noch nicht verhandelt.

Standortfucktor, Winterthur , 21.09.2013

 

1 Kommentar zu Prozess um den öffentlichen Raum

  • Apostel sagt:

    Als Ergänzung und um die Farce dieser Verhandlung zu illustrieren sei noch der Richter zitiert: „Aus der Presse (!) habe ich vernommen, dass es bei der ‚StandortFUCKtor-Kundgebung‘ noch zu härteren Vergehen seitens der Teilnehmenden kam.“ Damit rechtfertigte er die potentielle Gefahr, die von der ‚Bring-your-noise-Kundgebung‘ hätte ausgehen können.

    Urteil unbedingt weiterziehen, der Kampf geht weiter!

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