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Spielräume nutzen, ins Handeln kommen
Vergangene Woche haben Menschen mit und ohne Schweizer Pass im «Freiluftparlament» über das zukünftige Zusammenleben diskutiert. Während vier Tagen wurde im Stadtpark St.Gallen mit künstlerischen Mitteln und Diskussionen eine postmigrantische Gesellschaft gelebt und gefeiert. Saiten hat mit zwei Initiatorinnen des Projekts Bilanz gezogen.

Die Freiluftparlament-Gründerinnen Anna Reinhold und Selina Ingold. (Bild: Philipp Bürkler)
Saiten: Wie ist die Idee eines Freiluftparlaments entstanden und was ist vergangene Woche im Stadtpark St.Gallen herausgekommen?
Anna Reinhold: Die Idee dazu ist 2019 entstanden. Beim Freiluftparlament können sich Menschen mit und ohne Migrationsvorsprung zu Themen des Zusammenlebens einbringen. Die Lebenswelten zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen liegen sehr oft weit auseinander.
Selina Ingold: Uns interessieren neue Ansätze, wie ausgeschlossene Menschen mehr partizipieren und an gesellschaftlichen Abläufen besser teilhaben können. Das betrifft vor allem Menschen ohne Schweizer Pass, beispielsweise Geflüchtete. Wir wollen mit künstlerischen Ansätzen eine andere Sprache finden, um solche Menschen abzuholen und gleichzeitig auch ihnen eine Stimme geben. Durch das Freiluftparlament merken diese Menschen, dass sie auch ohne Pass eine Handlungsmacht haben.

Unterschiedlichste Menschen debattieren im Freiluftparlament und fassen gemeinsam Bevölkerungsvorstösse. (Bild: Tesfaldet Gebreamlak)
AR: Letztes Jahr haben wir ein zehntägiges Festival in St.Gallen organisiert, nachdem wir in verschiedenen Quartieren Themen, Wünsche und Ideen der Menschen vor Ort gesammelt hatten. Mit dem Festival letzte Woche haben wir in einigen Dingen direkt an das Festival 2022 angeknüpft.
Was heisst das?
AR: Wir haben an Themen angeknüpft, die 2022 eingebracht wurden und in unserem Manifest «Recht auf Teilhabe» festgehalten wurden. Und wir haben mit denselben Organisationen zusammengearbeitet, zum Beispiel Akin, HEKS Neue Gärten, Solinetz, Solihaus und Sans Papiers Anlaufstelle St.Gallen.
Kannst du ein Beispiel für ein solches wiederkehrendes Thema nennen?
AR: Aufgrund ihres Aufenthaltsstatus dürfen viele Migrant:innen nicht arbeiten und auch keine Freiwilligenarbeit leisten. Dennoch haben viele den Wunsch, sich sportlich zu betätigen. Durch den Verein Akin können mittlerweile rund 150 Menschen, insbesondere Geflüchtete, in der Stadt St.Gallen und Lichtensteig regelmässig Sport machen, in sieben verschiedenen Sportarten. Allerdings teilen sich im Fussballtraining im Winter rund 40 Personen eine einzige, kleine Turnhalle.
Was haben die Migrant:innen dagegen unternommen?
AR: Letztes Jahr haben sie mittels Bevölkerungsvorstoss den Wunsch formuliert, die Stadt St.Gallen solle mehr Turnhallen zur Verfügung zu stellen. Gemäss der Stadt sind die bestehenden Hallen jedoch bereits ausgelastet. Dieses Jahr wurden neue Lösungsansätze diskutiert. Ein weiteres Problem ist die Anreise mit dem ÖV zu den Hallen. Vergangene Woche haben migrantische Teilnehmer:innen am Festival deshalb Velos geputzt. Mit dem Erlös sollen ÖV-Tickets bezahlt werden, um mit dem Zug oder Bus zu den Turnhallen zu fahren. Um aber allen 150 Menschen regelmässig ÖV-Tickets zu finanzieren, wäre viel mehr Geld nötig.
Was ist während der vier Tage im Stadtpark letzte Woche sonst noch entstanden?
AR: Neben Bevölkerungsvorstössen, die sich an die Stadt richten, ist auch Kunst ein wichtiger Teil des Freiluftparlaments, um Menschen zu erreichen und Themen zu verhandeln. Die syrische Künstlerin Shireen Ali beispielsweise hat im Frauenpavillon ihre Bilder gezeigt. Eine Gruppe aus Eritrea hat Kaffee gekocht und während vier Tagen eine Art World-Café betrieben. Kreativ beteiligen konnten sich alle Gäste beim Stick-Projekt der Künstlerin Maria Motyleva. Auf einer weissen Fahne durften die Besucher:innen mit bunten Fäden beliebige Motive hineinsticken. Dadurch entstand eine neue, postmigrantische Fahne, die am letzten Festivaltag gehisst wurde. Gleichzeitig war das gemeinsame Sticken auch eine Art Kommunikation. Entweder, weil das Sticken durch familiäre Erinnerungen geprägt ist – beispielsweise hat die Grossmutter bereits gestickt – oder weil es auch auf der nonverbalen Ebene ein Gefühl von Gemeinsamkeit auslöste, beispielsweise unter Migrant:innen, die kein Deutsch sprechen. Zudem haben Tänzer:innen von Tanzplan Ost zwei Stücke zum Thema Migration und dem Leben zwischen Kulturen gezeigt. Tanzperformances ermöglichen einen anderen Zugang zu solchen Themen, über Sprachen und Landesgrenzen hinaus.
SI: Viele Migrant:innen kamen in den Stadtpark, weil sie Teil der Entwicklung waren und mitgestalten konnten, was an den vier Tagen passierte. Sie gaben Workshops, spielten Musik mit Bands oder kochten für die anderen Gäste. Wir erlebten auch dieses Jahr wieder viel Engagement. Die Leute fragten uns, ob sie an der Bar helfen dürfen oder generell, ob wir noch jemanden für den einen oder anderen Einsatz brauchen. Dass Menschen mit Migrationshintergrund nicht erreichbar sind, wie oft zu hören ist, stimmt nicht, es braucht einfach Räume und Brücken – zum Beispiel über gut vernetzte Personen oder Organisationen.
Integration kann nur gelingen, wenn auch Menschen mit einem Schweizer Pass, beziehungsweise solche, die schon lange hier leben, mitwirken. Wie war die Beteiligung unter Schweizer:innen?
AR: Neben zufälligem Durchgangspublikum hatten wir tagsüber viele Familien. An den Abenden besuchten uns dagegen eher kulturaffine Menschen. Es war ganz unterschiedlich.
SI: Am ersten Abend haben auch ein HSG-Student sowie zwei Geflüchtete, die versuchen, ihr Studium in der Schweiz weiterzuführen, an der Diskussion teilgenommen. Dabei wurde darüber diskutiert, dass es zu wenig Überschneidungen zwischen diesen Lebenswelten gibt. Gemeinsam wurden Ideen gesammelt, wie es gelingt, mehr Begegnungen zu schaffen. Das Freiluftparlament bietet einen solchen Ort, um unterschiedlichste Menschen anzuziehen und miteinander ins Gespräch zu bringen. Es brauche aber eine gewisse Regelmässigkeit.
Vier Tage Festival reichen nicht, die Menschen brauchen auch die restlichen 361 Tage im Jahr einen Ort, um sich zu treffen und zu debattieren. Wäre eine Institutionalisierung denkbar?
SI: Ja! Die Forderung nach einem festen Ort in der Stadt, einem Café oder etwas Ähnlichem, brachten viele der Teilnehmer:innen schon ziemlich früh bei den Veranstaltungen 2021 und 2022 ins Spiel. Eine Gruppe von Migrant:innen müsste die Organisation eines solchen Ortes allerdings zusammen mit Menschen, die hier aufgewachsen sind, an die Hand nehmen…
AR: …und auch Leute von Stadt und Kanton müssten dabei sein, damit die Idee möglichst breit abgestimmt ist. Die Idee ist es, einen offenen Raum zu finden, der zum Philosophieren, Kochen oder Musizieren geeignet ist und auch einen grossen Aussenraum hat. Finanziert werden müsste das wohl durch die Stadt, geführt aber nicht von Profis, sondern idealerweise von einer kulturell durchmischten Gruppe, die sich genossenschaftlich organisiert.
SI: Es geht darum, einen Ort zu schaffen für Vernetzung. Wir vom Projekt MOBILE.Freiluftparlament können dabei Verbindungen schaffen und Kontakte ermöglichen.
Der Verein «MOBILE. das Freiluftparlament» etabliert seit 2021 mit künstlerischen Mitteln temporäre Orte, an welchen Erfahrungen geteilt und diskutiert werden können. Im Zentrum steht die Frage «Wie gestalten wir das Zusammenleben mit allen, die hier sind?». Initiiert wurde das Projekt von der Künstlerin Anna Reinhold in Zusammenarbeit mit der Ostschweizer Fachhochschule.
Was wären Ansätze, um auch die alteingesessene Bevölkerung vermehrt für migrantische und postmigrantische Themen zu sensibilisieren und mehr Verständnis aufzubauen?
AR: Während den letzten Tagen ist beispielsweise unter den Festivalgästen ein Bevölkerungsvorstoss entstanden, der explizit eine Weiterbildung zum Thema Rassismus fordert. Die Frage, die sich stellte, war: Wo sollen solche Weiterbildungen stattfinden? Was wären mögliche Multiplikatoren und Vorbilder, um die Menschen auf solche Themen zu sensibilisieren? Sie sind zum Schluss gekommen, dass staatliche Institutionen wie die Stadtpolizei, das Sozialamt, das Arbeitsamt und die Bildungsbehörden gute Multiplikatoren wären, um für dieses Thema zu sensibilisieren.
Mit dem Tag der Demokratie seid ihr ja bereits auf dem Weg zu einer besseren Sensibilisierung unter der Bevölkerung.
AR: Den Tag der Demokratie, der am vergangenen Freitag stattgefunden hat, haben wir vor zwei Jahren in St.Gallen in Zusammenarbeit mit dem Campus für Demokratie eingeführt. Da waren viele alteingesessene St.Galler:innen zu gast, aber auch Menschen aus der Politik.
SI: Auch das Instrument der Bevölkerungsvorstösse im Zusammenhang mit dem 2021 eingeführten Partizipationsreglement der Stadt St.Gallen ist für Menschen, die nicht wählen und abstimmen dürfen, eine Möglichkeit, sich mit ihren Anliegen einzubringen. Peter Bischof vom Amt für Gesellschaftsfragen der Stadt St.Gallen war am Tag der Demokratie dabei und hat einige Möglichkeiten vorgestellt. Wir sind nicht nur ein Kulturfestival, das den Menschen ein paar Tage lang eine gute Zeit beschert, sondern vor allem ein Ort des Diskutierens und der Debatte.
AR: Mit Unbekannten in Kontakt kommen, ist uns wichtig. Wir wollen auch künftig mit künstlerischen Mitteln Bühnen für den Aushandlungsprozess des gesellschaftlichen Zusammenlebens zur Verfügung stellen und dafür sorgen, dass sich Menschen auch ausserhalb ihrer Bubble bewegen.