, 25. Mai 2023
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Ein Platz für Recha Sternbuch

Der Raiffeisenplatz in St.Gallen soll in Recha-Sternbuch-Platz umbenannt werden. Das verlangen Historiker Hans Fässler und sieben weitere Personen. Während Raiffeisen ein Antisemit gewesen sei, habe Sternbuch, die in St.Gallen lebte, während des Zweiten Weltkriegs vielen jüdischen Flüchtlingen das Leben gerettet.

Hans Fässler und Pipilotti Rist mit der symbolischen neuen Tafel für den Recha-Sternbuch-Platz. (Bilder: dag)

Für die meisten Menschen ist es der «Rote Platz», für manche auch die «Stadtlounge». Offiziell heisst die Fläche im Herzen des St.Galler Bleicheli-Quartiers, wo die Raiffeisenbank ihren Schweizer Hauptsitz hat, Raiffeisenplatz. Doch nun soll er einen neuen Namen bekommen: Recha-Sternbuch-Platz. Zumindest, wenn es nach dem Willen des Historikers Hans Fässler und sieben weiterer Personen geht, die seit zwei Jahren für eine Umbenennung kämpfen.

Dieser Platz soll nicht mehr einen Antisemiten ehren, sondern eine Frau mit st.gallischer, europäischer und globalhistorischer Bedeutung, sagt Fässler am Donnerstagvormittag an einer Medienkonferenz vor Ort. Denn Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888), der Gründer der Bank, sei ein «prononcierter Antisemit» gewesen. Das zeige auch die Tatsache, dass ihn die Nazis 1938, anlässlich seines 50. Todestags, als einen der ihren gefeiert hätten. Raiffeisen habe sich in mehreren Publikationen antisemitisch geäussert.

«Die Zeit ist abgelaufen»

Deshalb reichten Fässler und sieben Mitunterzeichnende – darunter der (inzwischen ehemalige) St.Galler Ständerat Paul Rechsteiner, Historiker Stefan Keller und Künstlerin Pipilotti Rist, die die «Stadtlounge» gestaltet hatte – im Juni beim Stadtrat einen Antrag ein, den Raiffeisenplatz in Recha-Sternbuch-Platz umzubenennen. Sternbuch lebte mit ihrer Familie in St.Gallen und rettete, mithilfe anderer Personen wie des Polizeikommandanten Paul Grüninger, zahlreiche Jüdinnen und Juden während des zweiten Weltkriegs vor dem sicheren Tod.

Diesen Antrag machten die Verfasser:innen des Briefes damals nicht öffentlich, um der Stadt und Raiffeisen Zeit zu geben, sich «ohne medialen Druck mit der einerseits komplexen, andererseits aber auch ganz einfachen Materie zu befassen», wie Fässler sagt. Mit der Aktion soll nun also der Druck auf die Verantwortlichen bei der Stadt und der Bank erhöht beziehungsweise verhindert werden, dass diese das Thema weiter verschleppen. Und es soll ein Signal nach aussen sein, dass es den Initiant:innen mit der Umbenennung ernst ist. Die Raiffeisenbank habe bisher sämtliche Gesprächsangebote abgelehnt. Nun müsse sie sich der öffentlichen Diskussion stellen.

Stadt will Aufarbeitung der Bank abwarten

Aus Sicht der Stadt wäre eine Umbenennung «stimmig», sagt Fässler. Die Bank hingegen sei von der Idee «nicht begeistert», würde sich aber nicht wehren, wenn der Stadtrat einen neuen Namen für den Platz beschliessen würde. Sie wolle aber zuvor die Angelegenheit durch historische Fachleute aufarbeiten lassen. Baudirektor Markus Buschor habe den Initianten im August 2022 mitgeteilt, die Stadt werde die Umbenennung erst nach dieser Aufarbeitung sorgfältig prüfen.

Fässler erwartet jedoch nicht, dass diese Aufarbeitung, die aus einer Hauptstudie und zwei Nebenstudien von fünf Historiker:innen bestehen soll, irgendwelche neuen Erkenntnisse bringen werde, zumal sie nur die Raiffeisen-Bewegung in der Schweiz zum Thema haben werde. Die Person Friedrich Wilhelm Raiffeisen sei explizit nicht Teil der Untersuchung, so Fässler.

Nicht bloss Ressentiments, sondern Rassismus

Den Einwand, andere Historiker:innen sähen Raiffeisen in einem anderen Licht, weil er sich unter anderem auch für die Einstellung jüdischer Mitarbeiter:innen eingesetzt habe oder weil seine Aussagen im Kontext des damaligen Zeitgeistes heute anders zu bewerten seien, lässt Hans Fässler nicht gelten. Die Einstellung einiger jüdischer Mitarbeiter:innen wiege seine Gesinnung nicht auf. «Es waren nicht bloss Ressentiments, sondern Rassismus.» Und zu sagen, Raiffeisen sei «ein Kind seiner Zeit» gewesen, sei «verheerend und unhaltbar», sagt der ehemalige SP-Politiker.

Das ganze 19. Jahrhundert sei «ein riesiges ideologisches Schlachtfeld» gewesen zwischen der gesellschaftlichen Eingliederung der Juden und Jüdinnen sowie deren Ausgrenzung. Und schon damals habe es genügend Publikationen dazu gegeben, sodass auch Raiffeisen sich dessen – und somit der Bedeutung seiner Aussagen – durchaus hätte bewusst sein müssen. Er habe jedenfalls nirgends Belege dafür gefunden, dass Raiffeisen seine Meinung zu den Juden jemals geändert habe, sagt Fässler.

Umbenennung als Pflicht, aber auch als Chance

Auch Paul Rechsteiner bezeichnet es als «unerträglich», dass dieser Platz nach Raiffeisen benannt sei. Die Benennung öffentlicher Plätze sei immer mit einer Stellungnahme verbunden: Man gebe einem Ort Bedeutung, sende ein Zeichen aus. Ausserdem sei dieses «Wohnzimmer im öffentlichen Raum» ein Treffpunkt, ein Ort mit Ausstrahlung. Eine Umbenennung sei deshalb überfällig. Sie sei «Pflicht, aber auch Chance» für die Stadt St.Gallen. Diese könne damit ein Zeichen setzen, nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Zukunft. Als Hinweis darauf, wie wichtig mutiges Handeln von Menschen sei. Auch die Raiffeisenbank bekäme die Chance, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und zu zeigen, dass man aus dieser gelernt habe.

Batja Guggenheim-Ami,
Jüdische Gemeinde St.Gallen

Der Ort sei auch deshalb für die Ehrung von Recha Steinbuch passend, weil er sich genau zwischen der 1951 abgebrochenen ostjüdischen Synagoge, der noch bestehenden Synagoge und dem damaligen Betsaal der Familie Sternbuch befinde, sagt Batja Guggenheim-Ami, ehemals Co-Präsidentin der Jüdischen Gemeinde und heute deren GPK-Mitglied. Die neue Namensgebung würde für die jüdische Gemeinde in St.Gallen «Verneigung und Dankbarkeit gegenüber Recha Steinbuch bedeuten».

Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems, und Historiker Stefan Keller heben derweil nochmal das Wirken von Recha Steinbuch hervor. Ihren unermüdlichen Einsatz für die von den Nationalsozialisten verfolgen Jüdinnen und Juden, denen sie auf unterschiedlichste Weise den Grenzübertritt in die Schweiz ermöglichte, viele von ihnen sogar in St.Gallen beherbergte und dazu beitrug, dass sie hier legalisiert wurden.

Wichtig für die Erinnerungskultur

Auch Künstlerin Pipilotti Rist, die den 2005 «eröffneten» Roten Platz zusammen mit dem Architekten Carlos Martinez gestaltet hatte, spart nicht mit deutlichen Worten. Die erinnerungspolitische Debatte gehöre zur geschichtlichen Auseinandersetzung mit Antisemitismus und dem Verhalten der Schweiz im Umgang mit den Verfolgten des Nazi-Regimes. «Es ist mir wichtig, dass ich mich als Schweizerin an die Geschichte des Antisemitismus in meinem Land erinnere und auch daran, wie mein Land damals mit den Opfern des Nationalsozialismus umgegangen ist. Und was ich heute beitragen kann, dass sich das nicht wiederholt.» Denn diese Geschichte dürfe nie in Vergessenheit geraten.

Sie sei überzeugt, dass der Platz mit dem Namen von Recha Sternbuch ein Beitrag dazu sein werde, sich immer daran zu erinnern, was damals passiert sei, und dass Zivilcourage und gesellschaftliches Engagement, wie sie Recha Sternbuch unter schwierigsten Umständen leistete, die wichtigsten Elemente in der Demokratie seien, sagt Pipilotti Rist. «Wir müssen Zivilcourage schützen, pflegen und selbst leisten.»

Nein sagen zum Unrecht

Sie habe sich 2005, als der Platz seinen heutigen Namen erhielt, nicht vertieft mit der Biografie von Friedrich Wilhelm Raiffeisen auseinandergesetzt. Nun sei sie dankbar, sich an der Umbenennung beteiligen zu dürfen. «Mir ist es wichtig, meinen Beitrag zu geben, damit wir als Gesellschaft eine Erinnerungskultur pflegen», sagt Rist. Dazu gehöre für sie, mit dieser Umbenennung klar zu sagen: Sie wolle nicht, dass ein von ihr gestalteter Platz mit einem Antisemiten in Verbindung gebracht werde. «Wir können Unrecht, das geschehen ist, nicht wiedergutmachen. Doch wir können Nein sagen zum Unrecht und mit dieser Umbenennung einen Menschen ehren, der mit grossem Mut andere Menschen vor der Verfolgung durch das verbrecherische Naziregime gerettet und vor dem sicheren Tod bewahrt hat.»

Nur in Kenntnis unserer Geschichte mit all ihren Facetten könnten wir unsere Gegenwart verantwortungsvoll gestalten – und damit verhindern, dass die Ungerechtigkeit von damals weiter bestehe. Gerade in der heutigen Zeit, in der der Antisemitismus zunehme, sei es wichtig aufzuzeigen, was gewesen sei und wohin das führen könne. Sie wünsche sich, dass die Bank bei der Aufarbeitung ihrer Geschichte der erinnerungspolitischen Debatte stelle, wie das heute selbstverständlich sei. «Und vor allem wünsche ich mir ein Denkmal für für eine einzigartige, couragierte und weltoffene Frau, die in ihrem Rahmen so viel mehr leistete als die meisten ihrer Zeitgenoss:innen.»

Umbenennung spätestens Ende 2024

Es ist nicht das erste Mal, dass Hans Fässler mit der Raiffeisenbank aneinandergerät. Schon 2018 montierte er über der offiziellen Namenstafel des Raiffeisenplatzes eine eigene Tafel mit den Worten: «Friedrich Wilhelm Raiffeisen würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, was man aus seiner Bank gemacht hat.» Damit verlieh er seiner Enttäuschung über die Machenschaften der damaligen Führung Ausdruck. Damals sprach er lediglich von einer «Umwidmung». Doch nun soll es auch eine Umbenennung geben. Er gehe davon aus, dass der Platz spätestens Ende 2024 den neuen Namen Recha-Sternbuch-Platz bekommen werde. Symbolisch haben Fässler und seine Mitstreiter:innen bereits am Donnerstag eine entsprechende Tafel aufgeklebt.

An diesem Ort, wo zu Beginn des neuen Jahrtausends mit dem Bau des Bankenviertels ein Stück Stadtgeschichte ausgelöscht wurde, soll dann die Geschichte einer Frau, die zur Rettung vieler Menschenleben entscheidend beigetragen hatte, am Leben erhalten werden. Es wäre mehr als nur ein schönes Symbol.

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