, 27. Dezember 2022
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Zu Fuss den Gleisen nach

Kaputte Schienen, morsche Schwellen, Blumen und Tiere neben der Strecke: Als Streckenläufer kontrolliert Urs Kälin die Gleisanlagen im Südnetz der SOB. Ein Job, den es auch im Zeitalter der Digitalisierung noch braucht.

Urs Kälin ist Streckenläufer bei der SOB. (Bild: Andri Vöhringer)

Bergauf, bergab, geradeaus. Schritt um Schritt, Blick um Blick, Meter um Meter. Bei Sonne, bei Regen, bei Schnee. Immer entlang der Schienen, vorbei an Wiesen, Feldern und Bahnhöfen. Das ist der Arbeitsalltag von Urs Kälin. Er ist Streckenläufer bei der SOB. Wobei, was heisst Alltag. Kein Tag sei wie der andere, erzählt der 62-Jährige.

Streckenläufer kontrollieren die Gleisanlagen auf Beschädigungen. Sie überprüfen Schienen, Schwellen, Gleisbett, Fahrleitungen. Es ist einer jener Jobs im Hintergrund, von denen die Zugreisenden so gut wie nichts mitbekommen, die für einen reibungslosen und sicheren Betrieb aber genauso unerlässlich sind wie Zugführer:innen. Rund 65 Kilometer umfasst der Abschnitt, den Urs und die anderen beiden Streckenläufer monatlich ablaufen müssen. Sie sind in Samstagern, in einem der beiden grossen Infrastruktur-Standorte der SOB, stationiert und teilen sich die Strecke jeden Monat neu auf. Bei Abwesenheiten seiner Kollegen absolviert er die ganzen 65 Kilometer manchmal auch allein. «Die Kollegen laufen meistens bergab, ich bergauf», sagt er. Und je nachdem, in welche Richtung man laufe, habe man einen ganz anderen Blickwinkel.

Man muss allein sein können

Seit knapp 20 Jahren arbeitet Kälin bei der SOB. In dieser Zeit habe er «fast überall gearbeitet», habe Schienen gewechselt, Gräben ausgehoben, Mauern erstellt – er sei praktisch immer draussen gewesen. Davor war der gelernte Schreiner «alles Mögliche», vom Zimmermann über Dachdecker bis zum Pferdebauer.

Mit 43 Jahren kam er dann zur SOB, «in einem Alter, in dem man an eine feste und sichere Arbeitsstelle denken sollte», wie er sagt. Vor sieben Jahren suchte die SOB einen neuen Streckenläufer. Also entschied er sich, diesen Job anzunehmen. In einer internen Ausbildung wurde er auf die neue Aufgabe vorbereitet. Das Wichtigste könne man jedoch nicht lernen: «Als Streckenläufer muss man gerne laufen. Viel laufen. Und man muss allein sein können.»

Abfallsack für tote Tiere

Die Kontrollgänge absolviert ein Streckenläufer immer allein, und zwar neben, nicht auf zwischen den Schienen. Ausgerüstet mit einem orangen Schutzanzug, einem Rucksack, in dem er die wichtigsten Dinge immer dabeihat: Wasser, Regenschutz, Schraubenschlüssel, Doppelmeter, Kreide, Abfallsack und – «sehr wichtig» – sein «Schaberli», ein Spachtel, mit dem er Unebenheiten, die von blossem Auge nicht sichtbar sind, aufspüren oder Ölablagerungen an Weichen entfernen kann.

Den Abfallsack braucht er nicht primär, um Abfall aufzulesen. Seit sich die Fenster der Züge nicht mehr öffnen lassen, findet man entlang der Gleise praktisch kaum noch weggeworfene Dinge. Er braucht ihn, um tote Kleintiere einzusammeln. Diese deponiert er am Streckenrand und informiert den Wildhüter.

Den Klang der Schiene interpretieren

Vor jedem Einsatz überprüft Kälin, welche Schäden beim letzten Kontrollgang auf dem jeweiligen Abschnitt festgestellt wurden. Doch wie stellt er diese überhaupt fest? Manche seien gut sichtbar, etwa morsche Holzschwellen oder herunterhängende Stromleitungen, erzählt er. Für andere brauche es geübte Augen und Ohren. So erkennt Kälin beispielsweise am Fahrverhalten des Zuges, ob sich ein Gleis oder eine Schiene gesenkt habe oder eine Unebenheit aufweise. Je nach Beschädigung sei ein Schaden auch hörbar, beispielsweise bei einem Schienenbruch. Die Schiene klinge dann anders, wenn ein Zug drüberfahre. Dabei spiele es auch eine Rolle, ob die Schienen trocken oder nass seien.

Wenn Urs Kälin einen Schaden feststellt, fotografiert er ihn, erstellt dazu die passende Beschreibung mit der genauen Position – jedes Gleis ist alle 100 Meter entsprechend markiert – und übermittelt alle Angaben an die zuständige Stelle. Er könnte über die Betriebszentrale auch Langsamfahrten veranlassen oder eine Strecke sperren lassen, wenn ein Schaden zu gross und deshalb eine Zugdurchfahrt zu gefährlich ist. Beispielsweise wenn eine Fahrleitung so beschädigt ist, dass sie ein Zug ganz herunterreissen könnte. Oder wenn eine Kuhherde die Gleise blockiert. «Auch das ist schon passiert.»

Bei Schnee ein Streckenfahrer

Seine Vorgesetzten sind immer informiert, in welchem Abschnitt er am betreffenden Tag unterwegs ist. Nicht aber die Lokführer:innen. Kälin muss sich ganz auf den Fahrplan verlassen, den er immer dabeihat und fast auswendig kennt – und auf seine Sinnesorgane. Im Winter, wenn zu viel Schnee liegt, wird aus dem Streckenläufer ein Streckenfahrer. Der Hauptgrund: Weil der Schnee den Schall dämpft, hört man die Züge nicht oder zu spät. Ausserdem ist die Kontrolle bei Kälte schwierig. Biberbrugg ist einer der kältesten Orte im ganzen SOB-Netz, die Temperaturen sinken dort bis auf -25 Grad.

Also kontrolliert Urs Kälin dann die Gleisanlagen aus dem Führerstand heraus. Das sei trotz der anderen Perspektive und der höheren Geschwindigkeit kein Problem, sagt er. Beschädigungen an Schienen und Fahrleitungen stelle er auch so fest, der Rest sei ohnehin von Schnee bedeckt. Überhaupt hätten die Lokführer:innen eine wichtige unterstützende Aufgabe, indem sie Schäden, welche sie selbst bemerken, weiterleiten.

Nicht durch einen Computer ersetzbar

Vieles auf dem Streckennetz wird elektronisch überwacht. Fällt ein Signal aus oder funktioniert eine Weiche nicht mehr, wird automatisch eine entsprechende Störungsmeldung ausgelöst. Zweimal im Jahr werden die Gleise überdies von einem Diagnosefahrzeug der SBB, das 3D-Bilder erstellt, abgefahren.

Dennoch könne man ihn nicht durch einen Computer oder eine Maschine ersetzen, betont Kälin. «Ich schaue beispielsweise auch in Schächte, kontrolliere die Böschungen.» Diesen Sommer entdeckte er in einer Böschung neben den Gleisen Türkenbundlilien. Also markierte er den betreffenden Abschnitt, damit die Böschungspfleger dort nicht mähen. Stichwort: Biodiversität. Ausserdem hätten die Leute Freude daran.

«Und ganz wichtig: Bei meinen Rundgängen habe ich immer wieder Kontakt zu den Nachbarn.» So nennt Kälin die Anstösser, deren Grundstücke an die Gleise grenzen. Dieser persönliche Kontakt könne nicht durch andere Kommunikationsmittel ersetzt werden, ist er überzeugt. Das kann beispielsweise die Information über anstehende Gleisarbeiten sein oder der Austausch von ganz allgemeinen Hinweisen. So liess dieses Jahr ein «Nachbar» Kälin wissen, dass im angrenzenden Schilf eine Entenfamilie brüte. Der Streckenläufer leitete die Information an die entsprechende Stelle weiter.

Der eigene Hof muss noch etwas warten

In drei Jahren tritt Urs Kälin in den Ruhestand. Dann wird er wieder mehr Zeit haben für sein Hobby, das jetzt berufsbedingt hintenansteht: Mit seiner Frau hat er in Gross bei Einsiedeln, wo er auch aufgewachsen ist, einen Hof, auf dem sie rund 50 Zwergesel und zwischen 70 und 100 Zwerggeissen halten. Sie züchten und verkaufen die Tiere. Das Land ist 15 Hektare gross, dazu kommt eine Alp. Das ist viel Arbeit, um die sich derzeit vor allem seine Frau kümmert. Zwei seiner vier erwachsenen Kinder im Alter zwischen 25 und 30 Jahren wohnen noch zu Hause, eine Tochter wohnt in der Wohnung nebenan, eine ist ganz ausgezogen.

An die Pensionierung denkt Kälin aber noch nicht. Ihm gefällt seine Arbeit, er geniesst es, draussen in der Natur zu sein. Seine Lieblingsstrecke? «Im Sommer ganz klar das Hochmoor zwischen Biberbrugg und Rothenturm. Aber wenn es regnet, kann es dort ‹himmeltruurig› sein.»

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