, 14. Februar 2023
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Stress mit Stress

Die Stress-Biografie 179 Seiten Stress von Daniel Ryser geht unter die Haut. Sie ermöglicht einen ungefilterten Blick in die seelischen Abgründe und ins unglaubliche Leben des Rappers aus Lausanne.

Stress und Ryser (Bild: pd)

«Was ist bloss los mit Andres? Er ist immer so gestresst. Er hat so viel erreicht in seinem Leben. Warum kann er das nicht geniessen?» Diese Frage stellt Yvan Jaquemet der Mutter von Andres, besser bekannt als Stress. Und dieser beantwortet die Frage im nächsten Abschnitt des Buchs 179 Seiten Stress gleich selbst: «Ich hatte ständig Angst. Angst, zu scheitern. Angst, pleite und obdachlos zu sein. Erst viel später, durch die Therapie, verstand ich, dass ich nicht mehr ständig ums Überleben kämpfen musste. Dass ich mich nun darauf konzentrieren konnte zu leben.»

Daniel Ryser: 179 Seiten Stress. Echtzeit Verlag, Basel, 2022.

Lesung mit Stress und Daniel Ryser: 15. Februar, 20 Uhr, Grabenhalle St.Gallen

Dieser Kampf ums Überleben, um den eigenen Platz in der Welt, um Anerkennung, er zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Und der Titel ist Programm, gleich mehrfach: In der Biografie des St.Gallers Daniel Ryser geht es um Stress, den Musiker. Es geht aber auch um den Stress, der sich wie ein roter Faden durch das Leben von Stress zieht, um das ständige Gestresstsein, das Andres Andrekson seinen Künstlernamen einbrachte. Und letztlich geht es auch um den Stress, der sich zwischendurch beim Lesen des Buches einstellt. Je intensiver die Erlebnisse sind, desto gehetzter ist die Sprache. Die Zeitsprünge irritieren anfangs, aber sie sind letztlich Sinnbild für die innere Unruhe, die Stress begleitet, für seinen Unfrieden zwischen der eigenen Ver- gangenheit und der Gegenwart.

Das Buch liest sich als Monolog des Protagonisten. Die Sprache ist roh, ungekünstelt, direkt. Der Erzählrhythmus variiert, das Tempo bleibt aber durch die vielen kurzen Sätze immer hoch und wird ledig- lich bei Fragen an sein Gegenüber («Machen wir eine Rauchpause?») gedrosselt. Diese verdeutlichen, dass Stress ab und zu eine kurze Pause von den Geschichten aus seiner Vergangenheit braucht. Von den Erinnerungen an seine verrückte Hochzeit mit einer Borderline-Be- troffenen, an Gewalt, die er als Kind erlebte, aber auch selber verübte, an seelische Schmerzen.

Als Kleinkind fast zu Tode geprügelt

179 Seiten Stress geht unter die Haut. Weil der Rapper mit schonungsloser Offenheit über die dunkelsten Kapitel seines Lebens erzählt. Und davon gibt es viele. Es war schon länger bekannt, dass er seit einigen Jahren unter Depressionen litt und sogar Selbstmordgedanken hatte; er sang darüber bereits in seinen Songs und erzählte an Konzerten und in Medien davon.

Aber was man allein auf den ersten 15 Seiten liest, ist schier unfassbar. Stress erzählt, wie ihn sein Vater, ein gewalttätiger Trinker, mit eineinhalb Jahren fast zu Tode prügelt. Wie er als Folge der Schläge so schwer krank wird, dass er fast stirbt. Wie man ihn seiner Mutter wegnimmt, um ihn im Spital zu operieren. Als sie ihn vier Wochen später zurückbekommt, ist sein ganzer Rücken verkrustet – «ich hatte mich zugeschissen, und niemand hatte sich um mich gekümmert oder mich gewaschen, und so hatte sich meine Haut schwer entzündet».

Eine weitere Episode ist, wie er als Achtjähriger zusammen mit seiner Schwester und anderen Kindern ohne Nennung von Gründen in eine Klinik gesperrt wird, wo ihm später, an das Bett gebunden und ohne Narkose, die Mandeln rausgeschnitten wurden. All diese Erlebnisse liegen bis heute wie ein Schatten über seinem Leben. Dagegen nützt auch das Scheinwerferlicht nicht.

Es gibt aber auch die Passagen, die einen zum Lachen bringen. Etwa wenn Stress erzählt, wie es mit Bligg, mit dem er gut befreundet war, anlässlich eines Fotoshootings zu einem Show-Boxkampf kommt, bei dem der Zürcher Rapper vor lauter Ehrgeiz so entschlossen auf den Romand losgeht, dass dieser ihm eine Rippe bricht. Die Geschichte wiederholt sich ein paar Monate später – mit Schwingen statt Boxen und Bein statt Rippe.

Neugeburt in der Schweiz

179 Seiten Stress ist aber auch die Erzählung eines Mannes, der als Kind in seiner estnischen Heimat keine Wurzeln schlagen konnte, weil das kommunistische Regime Russlands die Identität Estlands komplett unterdrückte. Als seine Mutter mit dem 11-Jährigen und seiner jüngeren Schwester zu ihrem neuen Partner nach Lucens in der Nähe von Lausanne zieht, ist es für ihn wie eine Neugeburt. In der Schweiz entdeckt er den Hip-Hop. Er will Tänzer werden, verzeichnet mit dem Rapper Nega und dem Produzenten Yvan Jaquemet als Double Pact erste Erfolge als Rapper und wird später als Solokünstler – mit Jaquement an seiner Seite – zu einem der erfolgreichsten Schweizer Musiker der Neuzeit.

Der Kampf ums Überleben, gegen Ungerechtigkeit und Rassismus, er begleitet Stress auch dann, als er längst den Status eines Stars erreicht hat. Und er scheut öffentliche Konfrontationen nicht, wenn er sich angegriffen fühlt – auch wenn es dabei gegen die grösste Schweizer Partei geht wie 2005 mit dem Song F*ck Blocher. «Die SVP zeichnete das Bild einer Schweiz, das komplett in Kontrast zur Realität in diesem Land und an unseren Konzerten stand: Wir sind ein Patchworkland. Die SVP bediente sich einer Rhetorik der Angst. Als Ausländer wollte ich dem Land etwas zurückgeben. Ich wollte mithelfen, dass es nicht gespaltet wird von dieser Angst und diesem Hass, den diese Leute verbreiteten.» Das sagt viel über den Musiker Stress, aber auch über den Menschen Andres Andrekson.

 

 

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