, , 13. Oktober 2023
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«Unbedingt soll man heute noch klassisch singen»

Chorleiter Bernhard Bichler, Co-Vereinspräsidentin Barbara Nef und Frauenstimmen-Sängerin Vera Blaser sprechen im Jubiläumsinterview der St.Galler Singschule über die Wichtigkeit des Singens, den Wert klassischer Musik und Demokratieprobleme im Chorwesen. Von Roman Hertler & Peter Surber

Vera Blaser, Bernhard Bichler und Barbara Nef von der St.Galler Singschule beim Gespräch mit Saiten in der Lokremise. (Bilder: Andri Vöhringer)

Saiten: Wie kommt man zum Singen und was bedeutet es euch?

Barbara Nef: Ich fing als Kind mit dem Singen an. Meine Eltern wollten, dass ich in die Singschule gehe. Ich habe auch Flötenunterricht genommen, aber der Singschule bin ich bis heute treu geblieben. Als Jugendliche und Erwachsene habe ich hier auch meinen Freundeskreis gefunden. Ich singe, weil ich meine Stimme in eine Gemeinschaft einbringen kann und weil ich bis heute noch sängerische Fortschritte erlebe.

Vera Blaser: Singen war während meiner ganzen Schulzeit mein wichtigstes Hobby. Es hat mich durch schwierige oder langweilige Zeiten getragen, hat mir Freundschaften beschert und auch meinen gesanglichen Ehrgeiz entfacht. Mit den Leuten, die ich einen Grossteil meines Lebens kenne, zusammen zu singen und so viele schöne Erinnerungen zu teilen, ist einfach grossartig. Es ist Ausgleich, Leidenschaft, hat aber auch einen gewissen Leistungsaspekt. Besonders schön in Erinnerung habe ich die Projekte, die die Singschule mit dem Theater gemacht hat. Ich weiss nicht, ob sich mir diese Welt auch andernorts in dieser Weise aufgetan hätte. Wenn ich ehrlich bin, funktioniert mein Leben ohne das Chorsingen eigentlich nicht.

Singt ihr auch allein, neben dem Chor?

Vera: Ich habe lange auch Einzelunterricht genommen. In mir drinnen singt es irgendwie immer. Und zur Musik gehört für mich immer auch das intellektuelle Herangehen an ein Werk. Was im Chorsingen zusammenkommt, ist Verantwortung zu übernehmen und zugleich einander zu tragen. Es ist Teamwork, aber es braucht das Engagement jeder einzelnen Person.

Bernhard Bichler: Das ist schön formuliert. Mein Ziel ist ein Chorklang, in dem ich alle Persönlichkeiten spüre und der in diesem Zusammenklang eine grosse Kraft ausstrahlt. Zum gemeinsamen Klang trägt entscheidend bei, dass wir alle mehr oder weniger dieselbe Schulung durchlaufen haben. Natürlich mache ich mir auch viele Gedanken zu den Inhalten der Werke, die wir einstudieren, um die Freude und die Lust an einem Werk vermitteln zu können. Aber als Chorleiter sehe ich mich eher als Person, für die auch Emotionen und Gefühle im Zentrum stehen.

Wie bist du selber zum Singen gekommen?

Bernhard: In Eggersriet gab es in meiner Jugend keinen Fussballklub und eigentlich auch sonst nichts, was mich interessiert hätte – ausser der Singschule (lacht). Ab der zweiten Klasse war ich also in der Singschule in Eggersriet und ab der fünften Klasse gings nach St.Gallen. Singschullehrerin Edith Bangerter hat uns jeweils mit ihrem Auto in die Stadt gefahren. Ich wollte dann aufhören, weil mir im Auto immer übel wurde. Zum Glück habe ich weitergemacht. 1979 brachte das Theater St.Gallen Mozarts Zauberflöte, und ich durfte den ersten Knaben singen. So hat sich mit elf Jahren mein Leben verändert: Mein Berufswunsch war plötzlich ganz klar.

Barbara: Ich habe in den 1990er-Jahren bei Carmina Burana und bei Jeanne d’Arc im Kinderchor gesungen. Solche Theater-Erinnerungen bleiben für ewig.

Wie lernt man überhaupt singen?

Barbara: Brassels (das Gründer-Ehepaar der Singschule; Anm. d. Red.) haben immer gesagt: «Singen geht über das Hören.» Zuhören und aufeinander hören ist zentral. Was den Kindern vorgelebt wird, übernehmen sie. Meine Erfahrung als Lehrerin ist, dass sich die eigene Freude am Singen überträgt.

Ist es einfacher, singen zu lernen als ein Instrument zu spielen?

Bernhard: Vermeintlich ja. Bei einem Instrument musst du erst die Technik lernen, bevor du in einem Orchester mitspielen darfst. Singen klappt hingegen von Anfang an auch in der Gruppe. Das Prinzip der Singschule baut darauf auf, zuerst in kleineren Gruppen von fünf oder zehn Kindern zu singen. Ab der dritten Klasse geht es in den Kinderchor, später in den Singschulchor. Auf der Kinderstufe muss man zu Hause praktisch nicht üben, die Fortschritte passieren fast beiläufig. Meine Hoffnung bleibt, dass die Wichtigkeit des Singens auch in den Schulen wieder erkannt wird.

Warum ist Singen wichtig? Und weshalb wird in den Schulen immer weniger gesungen?

Barbara: Für Kinder ist es wichtig, sich und die eigene Stimme zu erkennen und ausprobieren zu können. Mit meinen Zweitklässlern plane ich zum Schuljahresschluss immer eine Aufführung, damit sie das Gefühl, auf einer Bühne zu stehen, erleben können und sich dabei sicher fühlen.

Vera: Singen ist auch eine wichtige Körperarbeit. Es geht darum, seine eigene Stimme zu finden und den Ort der Stimme im Körper.

Bernhard: Manchmal frage ich mich, warum Gesang in der Bildungspolitik so eine schlechte Lobby hat. Im Singen kommen das Ich und das Miteinander zusammen. Für die Entwicklung der Stimme, der Sprache und auch der Persönlichkeit ist das Singen ganz entscheidend. Leider wird zum Beispiel die Kopfigkeit der Kinderstimmen heute kaum noch ausgebildet. Kinder werden häufig in ihrem Stimmumfang beschnitten, Hauptsache laut … Der Lärm der Erde, nicht nur der akustische, sondern alles, was auf uns herunterprasselt, ist nicht sehr förderlich für Pflänzlein, die Ruhe und Zeit brauchen zum Gedeihen.

In den Chören gibt es zwar genügend Frauen, dafür mangelt es vielerorts an Männern. Ist es vielleicht auch ein Genderproblem, dass dem Chorgesang die Lobby fehlt?

Vera: In den gemischten Chören sind Männer fast überall in der Minderheit. Gleichzeitig waren aber die Hälfte der Teilnehmenden am letztjährigen Gesangsfest in Gossau Männerchöre. Für uns war das ein kleiner Kulturschock. Aber je länger der Anlass dauerte und je informeller er wurde, desto mehr fingen wir an, gemeinsam zu singen, und merkten, dass wir teils dieselben Lieder im Repertoire haben. Da gäbe es schon noch Potenzial, aufeinander zuzugehen.

Bernhard: Der erste Chor, den ich noch vor meinem Studium dirigiert habe, war ein cooler Männerchor. Damals gab es in St.Georgen zwei Männerchöre, in «meinem» haben die Gewerbler gesungen. Anderswo gab es den Bähnlerchor, den Arbeiterchor und so weiter. Chöre waren vor allem auch Orte des Netzwerkens. Da kam vielleicht ein Drittel bloss wegen des Singens. Heute sind diese Milieus überholt, vielleicht fehlt den Männerchören auch deshalb der Nachwuchs.

Besuchen Buben und Mädchen gleichermassen die Singschule?

Barbara: Nicht ganz. Zu den Spitzenzeiten der Singschule, anfangs der 90er-Jahre, gab es bis zur 9. Klasse zwei Mädchenchöre und einen Bubenchor. Aber man hat das gleiche Werk gelernt. Es fällt auf, dass im internationalen Klassikbetrieb noch immer Bubenchöre das grösste Renommee haben.

Vera: Das hat auch historische Gründe. Wenn man seit hunderten von Jahren professionell trainiert, haben Sängerknaben logischerweise einen institutionellen Vorsprung.

Reine Frauenchöre sind dagegen selten. Die Singschule bildet mit ihrem Chor namens Frauenstimmen eine Ausnahme. Wie kommt das?

Bernhard: Schon mein Vorgänger hatte ein Frauenensemble, mit dem er in der Tonhalle gemeinsam mit dem Sinfonieorchester ein Werk von Bartok aufführte. Das gab einen ungeheuren Schub. 2013 war unsere Idee eigentlich, einen Jugendchor zu gründen, aber es kamen zwei Männer und 15 Frauen. So wurde der Jugendchor zum reinen Frauenchor.

Vera: Dass viele Buben mit dem Singen aufhören, hat sicher auch mit den stimmlichen Veränderungen in der Pubertät zu tun.

Bernhard: Wenn Buben in den Stimmbruch kommen, versetzt sich die Stimme um eine ganze Oktave. Das ist brutal. Einige finden ihre neue Stimme schneller, andere brauchen dafür länger. Das kann auch frustrieren.

Barbara: Es gibt viele Jungs, die vor dem Stimmbruch so gut gesungen haben und dann ihr Niveau nicht mehr so leicht erreichen. Trotzdem durchzuhalten gelingt leider nicht allen.

Bernhard: Annemarie Brassel war es darum ein Anliegen, auch einen Chor für Jungs im Stimmbruch zu gründen. Intern bekam er bald den Übernamen «Mutantenchor», eine Formulierung, die ich nicht ganz glücklich finde, aber offenbar wurde sie auch von den Sängern selber verwendet. Das Europäische Kinder- und Jugendchorfestival hat zusammen mit der Schweizer Kinder- und Jugendchorförderung (SKJF) ebenfalls einmal einen Schwerpunkt auf Buben gelegt. Das fand ich wiederum unfair gegenüber den Mädchen, die diesen Sondereffort nicht erhielten, weil man sich weniger um sie bemühen muss.

Männerchöre verschwinden, in den Schulen wird kaum noch gesungen. Auf der anderen Seite entstehen neue Kinderchöre, junge Vokalensembles etc. Steckt der Chorgesang nun in der Krise oder erlebt er gerade eine Renaissance?

Bernhard: Das kann man nicht verallgemeinern. Tatsächlich verschwinden Chöre, und es gibt zugleich unglaublich viele Neugründungen. Momentan wird die Entwicklung vor allem durch die SKJF angeschoben. Kinder- und Jugendchöre boomen, in St.Gallen fast im Übermass. Es gibt eine Vielzahl von Kinderchören unter dem Dach der Musikschulen oder der Kirchen. Unter anderem startet auch das Theater ein eigenes Projekt.

Die Kinderchöre in St. Gallen konkurrenzieren sich?

Singschule und Musikschule

Zu Beginn der mittlerweile 50-jährigen Vereinsgeschichte hatte die St. Galler Singschule eine Vereinbarung mit der Stadt St. Gallen. Bei der Gründung der Musikschule St. Gallen 1979 wurde die Singschule integriert. Später wurde diese Vereinbarung wieder aufgelöst. Aber die Verbindung zwischen den beiden Institutionen blieb personell über Bernhard Bichler bestehen: Er war gleichzeitig Leiter der Singschule und Fachschaftsleiter für Gesang an der Musikschule. Vom Kindergarten bis zum zehnten Schuljahr können Kinder respektive Jugendliche in den Chören der Musikschule mitsingen. Danach können sie entweder zu den Frauenstimmen oder in den Konzertchor der Singschule übertreten. Nebst diesen beiden konzertierenden Erwachsenenchören betreibt die Singschule noch den Frauensingkreis, der allerdings nicht öffentlich in Erscheinung tritt.

Barbara: Im Primarschulalter ist es ja gut, wenn die Kinder ihr Hobby in ihrem Umfeld, in ihren Quartieren ausüben können. Früher betrieb die Singschule in den Quartieren Kinderchöre. Heute sind es andere, die solche Projekte lancieren.

Bernhard: Die Musikschule hat irgendwann angefangen, selber Chöre in den Quartieren zu installieren. Ich konnte damals nicht nachvollziehen, dass man nicht einfach mehr Energie in das steckte, was schon da war, nämlich in die Singschule.

Barbara: Institutionell sind wir nicht mehr mit der Musikschule verbunden (siehe Infobox). Aber wir freuen uns natürlich riesig, dass heute so viele Kinder und Jugendliche singen und einige davon vielleicht den Weg zu uns oder in einen anderen Erwachsenenchor finden.

Welche Musik kommt bei den Jungen an? Hat das klassische Repertoire, zum Beispiel das Mozart-Requiem, bei den Kids von heute noch eine Chance?

Bernhard: Unbedingt soll man auch heute noch klassisch singen. Ein Vorzug unter vielen dabei ist, dass es keine Vorbilder gibt. Bei der Popmusik schwingt immer gleich das Original mit bei der Interpretation. Man weiss genau, wie dieser Rihanna-Track oder jener Beatles-Song zu tönen hat. Kommt hinzu, dass Popsongs auch mit Kindern meist in der Originaltonlage gesungen werden, was schädlich sein kann für die stimmliche Entwicklung. Und bis ein Popstück mit Viert- oder Fünftklässlern halbwegs richtig tönt, muss man mindestens ein halbes Jahr proben. Als Chorleiter braucht es Ausdauer, die Kinder bei der Stange zu halten. Die Fallhöhe ist beim Pop höher als bei der Klassik.

Barbara: Wir singen viel zeitgenössische Musik, teils auch Uraufführungen, aber ebenfalls meist im klassischen Bereich.

Bernhard: Die Frauenstimmen haben auch Volksmusik oder Musical-Stücke im Repertoire. Es gibt interessante Sätze in der Volksmusik und generell sehr viele ausgezeichnete Chor-Arrangeure, Leute wie Carsten Gerlitz, bei denen man weiss: Da stimmt einfach alles.

Vera: Die klassische Musik hat schon auch das Problem, elitär zu sein. Es ist zwar super, dass so viele Kinder in Kinderchören singen. Aber woher kommen diese Kinder? Meist beginnt die Förderung in der Familie. Das Chorwesen hat in dieser Beziehung ein Demokratieproblem. Wir haben vorhin darüber gesprochen, dass in der Schule weniger gesungen wird: Das Ziel wäre «Singen für alle», also auch für Kinder, die von Haus aus nicht mit klassischer Musik in Berührung kommen. Nur so kann sich letztlich auch die klassische Musik in eine vielfältige Richtung entwickeln.

Das Stichwort ist vorher gefallen: Beim Singen muss man zuhören, seine Stimme finden und bilden, man muss viel investieren, auch in Körperarbeit. Ist das nicht im Grunde schon ein elitärer Anspruch?

Bernhard: Ich finde, jede Musik, die man selber macht, stellt Ansprüche an einen. Ein Mozart-Requiem allerdings andere als ein Popsong. Mozart ist dabei manchmal fast einfacher. Es beginnt schon damit, dass man nur ein einziges Notenbuch in der Hand hat. Bei thematischen Programmen sind es manchmal 20 Blätter. Bis der Chorleiter da nur schon die richtige Reihenfolge bestimmt hat … Die grossen alten Werke stehen als erratische Blöcke in der Landschaft, schlicht weil sie so gut sind. Die Tiefe dieser Werke macht sie intellektuell aber vor allem auch emotional so interessant. Darum bin ich für das Mozart-Requiem oder auch das Fauré-Requiem, aber ebenso zum Beispiel für unser neu komponiertes Jubiläumsstück Auf der Haut: Sie alle verbinden das Intellektuelle mit dem Emotionalen auf grossartige Weise.

Barbara: Ich singe seit etwa 30 Jahren im Chor, ich war dabei beim Messias, beim Paulus, beim Brahms-Requiem: Das sind die Werke, von denen wir heute noch reden, und es sind auch jene Stücke, für die Leute wieder einsteigen im Konzertchor.

Und mit bekannten Werken hat man erst noch das Publikum auf sicher …

Barbara: Klar ist es jedes Mal ein finanzieller «Lupf», ein Orchester zu engagieren. Aber diese Werke aufzuführen, entwickelt gleichzeitig einen grossen Sog. Und sie ziehen auch junges Publikum und weniger klassikaffine Leute im Freundeskreis an, wenn wir ihnen sagen: «Das musst du jetzt einfach hören kommen!» Es ist Musik, die die Menschen auf einer zeitlosen Ebene anspricht.

Bernhard: Es gibt natürlich auch im Pop zeitlose Stücke, von den Beatles oder Bob Dylan zum Beispiel. Aber ob diese die Jahrhunderte überdauern?

Michael Tippett, John Rutter, Karl Jenkins, Andrew Lloyd Webber, Vaughan Williams: Im Programm des Konzertchors der letzten 20 Jahre befinden sich auffallend viele britische Komponisten. Warum?

Bernhard: Bei den zeitgenössischen Briten musst du als Chorleiter nichts mehr einrichten, da ist alles bereits perfekt arrangiert, bis zu den Stellen, an denen der Chor atmen muss. Das sind Komponisten, die ausdrücklich für die Stimme schreiben und zudem wissen, wie man die Sänger:innen und auch das Publikum «catcht».

Barbara: Du, Bernhard, schlägst die Stücke jeweils vor und bei uns funktioniert es dann meistens auch gleich.

Gab es auch schon Opposition gegen einen Werkvorschlag?

Barbara: Bernhard erklärt jeweils, warum ihm seine Wahl richtig erscheint, und es stellt sich dann die Frage: Wer kommt mit? Und dann: Go!

Vera: Das stimmt oft, aber manchmal erlebe ich es schon auch anders. Teils steht anfangs eine gewisse Skepsis im Raum. Es kann einige Zeit dauern, bis uns allen klar wird, dass sich die Probenarbeit lohnt. Zum Beispiel die Johannes-Passion von Bach 2017: Das war schon auch ein «Chrampf». Das Stück dauert lange, der Chor singt fast immer, das Proben und Aufführen braucht sehr viel Durchhaltevermögen.

Barbara: Aber es hat uns auch extrem weitergebracht.

Vera: Auf jeden Fall.

Bernhard: Und ich denke manchmal: Hey Leute, es hat bis jetzt immer geklappt und ihr seid nach jeder Aufführung begeistert gewesen. Warum müssen wir das immer wieder von vorne durchmachen. (lacht)

Vera: Wir machen ja dann jeweils schon mit.

Gibt es Stücke, die du als Chorleiter schon lange gern aufführen würdest und dich bisher nicht getraut hast, sie vorzubringen?

Bernhard: Von Bach gibt es natürlich unermesslich viele Sachen. Da bin ich aber zurückhaltend, weil Bach mein tägliches Brot als Solist ist. 2017 bei der Johannes-Passion hat alles gepasst, auch weil ich wusste, dass ich jetzt das Ensemble so weit habe, dass es dieses Werk leisten kann. Bach fordert viele stimmliche Fähigkeiten und viel Arbeit, gerade in den Fugen. Wenn wir heute beim Jubiläumsstück ebenfalls viele Noten lernen müssen, ist uns fast nicht mehr bewusst, was uns die Bach-Fugen damals an Arbeit und auch an Selbststudium zuhause gekostet haben.

In Sachen Bach hat in der Ostschweiz die J.S. Bach-Stiftung fast eine Art Monopol – spielt das auch eine Rolle?

Bernhard: Die Konkurrenz spielt sicher auch eine Rolle. Mit unseren Programmen suchen wir immer auch Nischen und verzichten darauf, jedes Jahr ein grosses Werk einzustudieren. Erstens könnten wir es nicht finanzieren und zweitens haben wir hier den Oratorienchor, der das leisten kann. Ich suche nicht die ausgetretenen Pfade.

Generell: Gibt es zwischen den Chören in der Ostschweiz eher Konkurrenz oder ein Miteinander? Die Chornächte 2019 und 2022 waren ein Beispiel für ein gelungenes Miteinander, sonst gehen die Chöre aber eher getrennte Wege.

Barbara:Ich finde alles schön, was die Chorszene bereichert, ob ein Gesangsfest oder eben die Chornacht. Eine offene Konkurrenz zu anderen Chören gibt es eher nicht, im Gegenteil immer mal wieder Kooperationen, gerade bei grossen Werken, die einen zweiten Chor benötigen. Dass Sänger:innen am einen Ort aufhören und in einen anderen Chor wechseln, gehört aber dazu. Reisende soll man nicht aufhalten.

«Singschule» klingt nach 19. Jahrhundert. Wäre das Jubiläum nicht eine Gelegenheit, sich umzutaufen?

Bernhard: Die Singschule hat sich mit ihrer Aufbauarbeit im Grunde selber abgeschafft. Unsere Mission, respektive die Mission des Gründer-Ehepaars Brassel, ist mehr oder weniger erfüllt: Viele Kinder sind heute musikalisch sozialisiert. In St.Gallen gab es vor 50 Jahren schlicht nichts. Heute blüht die Kinder- und Jugendchorlandschaft.

Barbara: Und es gibt einen Fonds. Er wird gelegentlich genutzt von Studierenden, die sich zum Beispiel die Teilnahme an der Chorsingwoche nicht leisten können.

Bernhard: Mit den Erwachsenenchören ist die Singschule im Konzertleben angekommen und sucht dort ihre Identität. Darum heissen wir auch «Konzertchor St.Gallen», «Frauenstimmen St.Gallen» und «Frauensingkreis», weil man mit dem Namen «Singschule» nicht wirklich ernst genommen wird. Ideell sind wir jedoch immer noch mit der Musikschule verbunden, das ist heute unsere Singschule.

Barbara: Eine Qualität der Singschule war auch die Arbeit im Hintergrund. Annemarie Brassel war eine unglaublich treibende Kraft. Sie hat den Jungen immer Verantwortung übertragen und Leute in die Konzertorganisation eingebunden. Dabei habe ich sehr viel gelernt. Für die ersten Programmhefte damals haben wir die Werktexte noch von Hand «abgetöggelet».

Bernhard: Was für die Konzertorganisation an freiwilliger Arbeit geleistet wird, ist unglaublich. Das freut uns als Chor natürlich. Aber es geht ja nicht nur um uns, es geht auch darum, dass der Chorgesang als Kulturgut weiterlebt.

Ihre 50 Jahre feiert die Singschule mit einer Uraufführung. Was bleibt über das Jubiläum hinaus?

Bernhard: Zeitgenössische Musik ist mir wichtig. Mein hehrstes Ziel ist, der Chorszene ein Werk zu stiften, das Bestand hat und das sich auch mit anderen Stücken kombinieren lässt. Manchmal gelingt das, manchmal nicht. Ich hoffe, dass es uns mit unserem Jubiläumsstück Auf der Haut gelingt. Von Michael Tippett haben wir im Jahr 2004 mit der Singschule Child of our Time einstudiert. Darin gibt es fünf Spirituals. Auch bei Bachs Oratorien kann man die Choräle für sich allein stehend und ohne Orchester aufführen. Vergleichbar gibt es jetzt in Auf der Haut fünf A-cappella-Stücke, die man auskoppeln und separat aufführen kann.

Barbara: Im Textilmuseum konnten wir bereits drei dieser fünf Stücke präsentieren.

Welche Pläne gibt es für 2024?

Bernhard: Im Kopf gibt es erste Pläne. Die Frauenstimmen haben sich gewünscht, Anne Frank: A Living Voice wieder aufzuführen, wie 2013 zum 40-Jahr-Jubiläum der Singschule. Ich war auf einer CD des San Francisco Girls Choir auf das Stück gestossen und nahm mit der Komponistin Linda Tutas Haugen Kontakt auf. An der europäischen Erstaufführung konnte sie nicht dabei sein, aber als wir das Stück 2015 nochmals gesungen haben, konnten wir sie einfliegen. Das war ein spezieller Moment.

Vera: Mit zeitgenössischen Komponist:innen zusammenzutreffen, ist immer etwas Kostbares, so auch beim aktuellen Jubiläums- stück. Das ist ein Privileg. Ich würde grundsätzlich gerne mehr Stücke von Komponistinnen singen und mich noch intensiver mit Musik von Frauen für Frauen befassen. Das könnte ein Ziel für die Frauenstimmen sein.

 

Vera Blaser, 1992, ist seit 2000 in der St.Galler Singschule und singt heute bei den Frauenstimmen. Die Historikerin lebt seit 2011 in Bern, sang über zehn Jahre auch im Konzertchor der Singschule und arbeitete immer wieder bei der Organisation von Konzerten mit.

Bernhard Bichler, 1968, ist seit der zweiten Primarklasse Teil der St.Galler Singschule. Seit 2000 leitet er den Konzertchor und seit der Gründung 2013 auch die Frauenstimmen. Der Bariton hat in Winterthur und Zürich Gesang und Dirigieren studiert und arbeitet heute als Sänger und Dirigent.

Barbara Nef, 1977, ist in den 1980er-Jahren zur St.Galler Singschule gestossen, als diese gerade einen Boom erlebte und auch in Agglogemeinden wie Eggersriet, wo Nef aufgewachsen ist, Aussenstellen betrieb. Sie ist Primarlehrerin, lebt in Herisau und ist aktuell Co-Präsidentin des Vereins St.Galler Singschule.

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