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«Was soll ich auf dem Berg?»
Schwierige Wohnsituation und eine noch angespanntere Lebenssituation: Die Menschen im kantonalen Ausreise- und Nothilfezentrum Sonnenberg leben abgeschottet und nur vom Nötigsten. Baran ist einer von ihnen, sein grösster Wunsch ist es, eine Ausbildung zu machen.

«Wir machen den ganzen Tag nichts. Nur rumsitzen, essen und schlafen», sagt Baran. «Und dem Personal im Sonnenberg sind wir völlig egal.» (Bilder: Sangmo)
Baran*, 17, spricht fünf Sprachen: Arabisch, Kurmandschi, Englisch, Französisch und Deutsch. Er ist seit sechseinhalb Jahren in der Schweiz. Die ersten Jahre verbrachte er in einem Asylheim in der Romandie, dort konnte er ein Jahr lang die öffentliche Schule besuchen, hat die Sprache gelernt. Dann kam der Negativentscheid. Seit bald drei Jahren lebt Baran nun als Sans-Papier im Ausreise- und Nothilfezentrum Sonnenberg in Vilters-Wangs.
Aufgewachsen ist er in der irakischen Stadt Zaxo, ganz im Norden Kurdistans an der Grenze zur Türkei. Ende 2015, während der sogenannten Flüchtlingskrise, ist er mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder in die Schweiz geflohen. Den Vater haben sie «unterwegs verloren», wie Baran erklärt. Er sei mit einer Gruppe von Männern mitgegangen, dabei habe sich die Familie aus den Augen verloren. «Seither haben wir keinen Kontakt mehr, wir wissen nicht, wo er ist.»
Zurückgehen ist keine Option
Wie viele andere ist er mit seiner Familie übers Mittelmeer und die Balkanroute gekommen. Seine Erinnerungen an die Flucht sind verschwommen. «Ich war damals zehn», erzählt Baran. «In der Türkei sind wir auf ein Boot gegangen. 60 Leute waren wir, glaube ich, viel zu viele jedenfalls, und dann ist der Motor kaputt gegangen. Die Leute gerieten in Panik, einige sind ins Wasser gesprungen, wir haben von Hand gerudert, es dauerte sehr lange. Als wir endlich in Griechenland angekommen sind, ging es zu Fuss und mit Bussen weiter. Wir waren etwa zwei Wochen so unterwegs.»
In den Irak zurückzugehen, ist für Barans Familie keine Option. «Die Zustände dort sind schlimm», sagt er. Erst im April startete die Türkei eine neuerliche Militäroffensive im Nordirak. Die hiesigen Migrationsbehörden sehen das freilich anders, bezeichnen die Situation im Irak als «zumutbar». Sie haben auch das Wiedererwägungsgesuch abgelehnt und stellen die Familie vor die Wahl: Entweder sie geht zurück in ihr Heimatland oder sie geht in ein anders Land, Hauptsache raus aus der Schweiz. Darum lebt sie jetzt im Sonnenberg. Dort werden Menschen untergebracht, deren Asylgesuch abgelehnt wurde und die aus der Schweiz weggewiesen wurden.
Das Leben auf dem Berg: «ganz schlimm»
Das ehemalige Internat im Sarganserland ist nur zu Fuss oder mit dem Auto zu erreichen. Die nächste Bushaltestelle ist 30 Gehminuten entfernt. Zwischen 22 Uhr und 6 Uhr morgens ist das Ausreise- und Nothilfezentrum geschlossen. Im ersten Stock sind die alleinstehenden Männer einquartiert, im zweiten, dritten und vierten leben die Frauen, Paare und die Familien. Baran teilt sich ein Zimmer mit seiner Mutter und seinem 13-jährigen Bruder.
Das Leben im Sonnenberg sei «ganz schlimm», sagt Baran. «Wir machen den ganzen Tag nichts. Nur rumsitzen, essen und schlafen, rumsitzen, essen und schlafen. Arbeitsmöglichkeiten gibt es nicht, abgesehen von Putzjobs. Geld gibt es dafür keines, nur Punkte. Für 20 Punkte bekommt man zum Beispiel einen Gutschein für 20 Franken bei Dosenbach. Für eine Stunde Wischen oder Toilettenputzen bekomme ich drei Punkte. Kleider können wir uns in einem Lager abholen. Wenn jemand krank ist, gibt es eine kleine Schmerztablette und fertig. Arzttermine gibt es nur in absoluten Notfällen.»
Die Leute kommen von überall her, sagt Baran und zählt auf: Äthiopien, Eritrea, Sri Lanka, Irak, Tibet, Syrien, Algerien und so weiter. «Natürlich entstehen da auch Freundschaften. Irgendwann muss man ja den Kontakt zu den anderen suchen, damit es nicht so superlangweilig wird. Mittlerweile haben wir einige gute Beziehungen, vor allem zu anderen Familien. Manchmal lachen wir zusammen, aber es gibt auch viel Stress und persönliche Probleme, dann versuchen wir uns gegenseitig zu helfen.»
Es gebe Familien, die bereits seit vier oder fünf Jahren im Zentrum leben, erzählt Baran. Eine sri-lankische Familie habe vier Kinder, die alle im Sonnenberg auf die Welt gekommen seien. Ein Mann aus Indonesien sei seit sechs Jahren im Sonnenberg, ein anderer aus Äthiopien seit sieben. «Wie können sie das so lange aushalten? Menschen gehören nicht an solche Orte.»
Für Stress sorgen auch die Männer im Haus, erklärt Baran. «Nicht alle», wie er betont, «aber manche trinken, klauen oder machen anderweitig Probleme im Zentrum und ausserhalb. Mehrmals pro Woche kommt darum die Polizei, manchmal mit Hund, manchmal ohne. Dann werden alle Zimmer der alleinstehenden Männer kontrolliert und durchsucht. Das macht mir Angst, ich komme mir vor wie in einem Gefängnis.»
Endstation Nothilfe
Am meisten plagt Baran das Verhältnis zum Personal im Sonnenberg. «Wir sind ihnen völlig egal», sagt er resigniert. «Wenn ich mich mit einem Problem an jemanden wende, heisst es immer: ‹später, später›. Auch mit rechtlichen oder behördlichen Fragen werden wir allein gelassen, teilweise werden unsere Anstrengungen sogar sabotiert. Es herrscht wirklich keinerlei Hilfsbereitschaft – im Gegenteil: Während Corona wurden wir zum Beispiel, trotz negativem Test, tagelang in Quarantäne gesteckt, zu dritt in einem Raum, ohne Fernseher, ohne Internet.»
Die Angestellten im Sonnenberg bezeichnet Baran als Schauspieler:innen. «Sie haben zwei Gesichter: Wenn Journalist:innen oder Politiker:innen kommen, sind sie total nett und respektvoll zu uns. Kaum sind die Leute aber gegangen, sindsie wieder gemein und unfreundlich, teilweise auch rassistisch, vor allem gegenüber Leuten aus muslimischen Ländern. Ich fühle mich wie ein Mensch zweiter Klasse.»
Was Baran beschreibt, ist bittere Realität. Alles im Schweizer Nothilfesystem ist darauf ausgerichtet, den Betroffenen das Leben hier so unbequem wie möglich zu machen, damit sie das Land schnell wieder verlassen. Unterstützt werden sie nur bei sogenannt «freiwilligen Ausreiseabsichten». Einziger Ausweg, wenn überhaupt: ein Härtefallgesuch nach fünf Jahren Aufenthalt in der Schweiz.
«Zur Ausreise verpflichtet»
Beim Kanton St.Gallen findet man für dieses Regime sachlichere Worte: «Die Rahmenbedingungen der Ausreisezentren sollen die Bewohner zur Ausreise bewegen und ihnen die Aussichtslosigkeit eines längeren Aufenthalts in der Schweiz verdeutlichen», heisst es auf der Webseite. «Die Betreuung ist auf ein absolutes Minimum (keine Beschäftigungsprogramme, keine Beschulung) reduziert. Bewohner sind zur Mithilfe im Haus angehalten (putzen, kochen etc.), sie bekommen dafür kein Geld.»
Auf Nachfrage verweist Marc Fahrni, Stellvertretender Leiter des kantonalen Migrationsamts, auf die Schweizer Asylgesetzgebung. Diese gebe vor, dass die Nothilfe «nach Möglichkeit in Form von Sachleistungen erbracht» werde. Sie sei darauf ausgerichtet, Betroffene zur freiwilligen Ausreise zu bewegen. «Personen mit einem rechtskräftig abgelehnten Asylgesuch bzw. einem rechtskräftigen Nichteintretensentscheid sind zur Ausreise verpflichtet, weil sie die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllen und weil der Vollzug ihrer Wegweisung möglich, zulässig und zumutbar ist. Bei diesen Personen hat der Bund in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt, dass sie keines Schutzes bedürfen.»
Von Barans Vorwürfen an die Adresse der Zentrumsleitung und des Personals hat Fahrni keine Kenntnis. «Trotz restriktiver Rahmenbedingungen» werde gegenüber den Bewohnenden «mit klaren Aussagen, Respekt und Verständnis kommuniziert und verfahren». Zum Umgang mit den abgewiesenen Asylsuchenden existiere «ein Grundkonzept mit acht Detailkonzepten», dieses sei zwar nicht öffentlich, sei jedoch von der Regierung «zustimmend zur Kenntnis genommen worden». Zum Vorwurf der ungerechtfertigten Isolation kann er keine Stellung nehmen, um dem nachgehen zu können, bräuchte es laut Fahrni genauere Informationen, sprich Daten und den Namen des Betroffenen.
Die gängige Nothilfepraxis ist insbesondere für Kinder und Jugendliche verheerend. Sie führt in die Not, statt dass sie sie verhindert. Laut UN-Kinderrechtskonvention haben Kinder und Jugendliche ein Recht auf Bildung und Ausbildung (Art. 28). Ausserdem haben sie Anspruch auf angemessene Lebensbedingungen und Unterhalt (Art. 27) und auch ein Recht auf Spiel, Erholung und Teilnahme am kulturellen Leben (Art. 31).
Traumjob: Informatiker
Im Sonnenberg wird nur intern beschult, was den Rechten aus der Kinderrechtskonvention eigentlich widerspricht. «Alle Kinder, egal ob vier oder 14, besuchen dieselbe Klasse», erklärt Baran. Er war nur ein Jahr lang auf einer öffentlichen Schule, damals in der Romandie. Seither kennt er nur die Zentrumsschule, und diese sei «mühsam und langweilig». «Am Morgen wird 40 Minuten Deutsch gelernt, danach wird vorwiegend gespielt und gebastelt – wie im Kindergarten.»
Dieser Darstellung widerspricht Marc Fahrni. Das Migrationsamt halte sich an die gesetzlichen Vorschriften, zudem habe die Regierung im vergangenen September ausführlich «Stellung genommen zur Beschulungs- und Wohnsituation». «Das vom Bildungsrat genehmigte Konzept Volksschule mit 24 bis 26 Wochenlektionen wird mit einer üblichen Stundentafel umgesetzt. Aktuell werden im Sonnenberg ein Kindergarten, eine Unterstufe und eine Oberstufe geführt», sagt er, räumt aber ein: «Die Kinder werden in der Tat vorwiegend zentrumsintern beschult.»
Barans Mutter besucht zweimal pro Woche einen Deutschkurs in Sevelen, er war früher auch dort. Sie ist auf dem Niveau A1, er hat mittlerweile B1. Seit einiger Zeit besucht er einen Deutschkurs bei der Integra-Schule in St.Gallen. Das Ticket für die eineinhalbstündige Zugfahrt dahin wird ihm vom Solinetz bezahlt, Voraussetzung dafür ist B1-Niveau. «Ich bin sehr glücklich, dass ich diese Möglichkeit habe», sagt der 17-Jährige. «So komme ich raus, treffe andere Menschen, kann Freundschaften knüpfen. Schliesslich bin ich jung, was soll ich auf dem Berg?»
Schwierige Wohnsituation und eine noch angespanntere Lebenssituation – Baran hofft trotz allem, dass er bald eine Ausbildung beginnen kann. Sein Traumberuf ist Informatiker, aber er ist «offen für alles – Hauptsache ich kann etwas lernen». Im Moment sucht er mithilfe vom Solinetz nach einer Lehrstelle, bisher waren die Bewerbungen allerdings erfolglos. Trotzdem will er positiv in die Zukunft blicken, auch um stark zu sein für seine Mutter und seinen kleinen Bruder. Und vielleicht ein Härtefallgesuch stellen, wenn er 18 geworden ist.
*Name der Redaktion bekannt