, 26. Januar 2024
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Weint sie wirklich?

Lisa Gerig stellt Asylerstbefragungen mit realen Beteiligten nach und kehrt dann die Machtverhältnisse um. Die Anhörung liefert bemerkenswerte Einblicke in ein absurdes System. Am Dienstag ist die Regisseurin zu Gast an der Kinok-Premiere.

Wie gehen Sie mit der Macht um, Frau Befragerin? (Bild: Filmstill)

Die Vorstellung, in einem lieblosen Raum vor jemandem, nein, gleich vor mehreren Personen zu sitzen und seine ganze Lebensgeschichte ausbreiten zu müssen, ist grauslig. Wer sind Sie? Wo haben Sie überall gelebt? Wen bezeichnen Sie als ihre Familie und wo leben diese Leute? Was machen Sie in ihrem Privatleben? Sind Sie in einer Beziehung? Wie sind Sie hierhergekommen? Sind sie politisch aktiv und wenn ja, in welcher Weise?

Solche hoch privaten Fragen, die sich für die meisten Menschen wie ein übergriffiges Tribunal anfühlen, sind für Asylsuchende Teil des Prozesses, wenn sie in die Schweiz kommen. In der sogenannten Erstbefragung des Staatssekretariats für Migration (SEM) müssen sie unter «Mitwirkungspflicht» und wahrheitsgetreu über alles Auskunft geben, jegliche Lebensumstände offenlegen. Aufgrund dieses einen Gesprächs wird dann entschieden, ob sie ein Bleiberecht erhalten oder das Land wieder verlassen müssen.

Warum sagen Sie das erst jetzt?

Was passiert, wenn die Zukunft davon abhängt, die eigene Lebensgeschichte möglichst «glaubwürdig und widerspruchsfrei» zu erzählen? Dieser Frage geht Regisseurin Lisa Gerig im Film Die Anhörung nach. Vier abgewiesene Asylsuchende durchleben die Anhörung zu ihren Fluchtgründen ein zweites Mal und beleuchten so den Kern des Asylverfahrens. Gerig belässt es aber nicht bei diesem Reenactment und dreht die Schraube noch einmal weiter: Im zweiten Teil werden die Rollen getauscht. Nun sitzen die Befrager:innen des SEM auf dem heissen Stuhl und müssen sich den kritischen Fragen der Asylsuchenden stellen.

Lisa Gerig, 1990, hat in Zürich und Genf Film studiert. Und sie ist seit Jahren im Asylbereich engagiert. Zeitweise hat sie eine Gruppe von 50 Freiwilligen geleitet, die Gefangene im Ausschaffungsgefängnis besucht. Sie ist sich der Tragweite der SEM-​Anhörungen bewusst, insbesondere für Menschen mit Negativentscheid. Gerig hat es geschafft, vier Betroffene vor Ramón Gigers Kamera zu bringen und ihre zum Teil traumatischen Erlebnisse nachzustellen: Wo lebt Ihre Familie? Woran ist Ihre Mutter gestorben? Warum wurden Sie verfolgt? Können Sie das beweisen? Aha, warum sagen Sie das erst jetzt? Gibt es ein Problem? Brauchen Sie eine Pause? Hinweis an die Protokollantin: Befragte tupft sich Tränen aus den Augen. Rücksprache mit der Befragerin: Weint sie wirklich?

Die Anhörung: 30. Januar, 18 Uhr, Kinok St. Gallen, Premiere in Anwesenheit der Regisseurin. Weitere Vorstellungen im Februar.

kinok.ch

Für die Asylsuchenden ist diese Anhörung eine Form des Nacktmachens. Einerseits. Andererseits legen sie auch all ihre Hoffnungen in das Gespräch. Endlich können sie ihre Geschichte erzählen, sich erleichtern. Und danach ein neues Leben in der Schweiz beginnen. Vielleicht. In vielen Fällen kommt es bekanntlich anders, in jedem Fall aber verlassen die Befragten «nackt» und meist alleine den Raum.

Wie gehen Sie mit der Macht um?

Die Umkehr, die Gerig im zweiten Teil vornimmt, tut gut, auch wenn sich die Machtverhältnisse nur bedingt umkehren. Die SEM-Mitarbeiter:innen bleiben trotz der Verhörsituation einigermassen selbstbewusst, schmücken ihre Aussagen eher aus als die um Worte und ihre Existenz ringenden Asylsuchenden, fallen auch gerne mal in den Erklärmodus. Dabei haben es die Fragen, die die abgewiesenen Asylsuchenden den Befrager:innen stellen, in sich: Warum arbeiten Sie fürs SEM? Wie gehen Sie mit Ihrer Macht um? Glauben Sie, dass Sie beurteilen können, ob eine Geschichte wahr ist oder nicht? Wie gehen Sie damit um, dass viele Asylsuchende traumatisiert sind? Haben gute Geschichtenerzähler:innen bessere Chancen auf Asyl?

Leider bleiben die Antworten der SEM-Mitarbeiter:innen eher dürftig. Ihre Beweggründe, Schwierigkeiten, die Kriterien der Befragung und nicht zuletzt ihre Einschätzung zum herrschenden System werden nicht alle immer «glaubwürdig und widerspruchsfrei» geschildert. Schön für sie, dass ihre weitere Zukunft nicht davon abhängt …

Gerade weil dieser Einblick in die Mühlen der Migrationsbehörden so vage bleibt, ist Gerig ein bemerkenswerter Film gelungen. Sie zeigt auf, wie absurd und fragwürdig ein System ist, das von persönlichen Eindrücken und Lebensumständen oder von potenziellen Übersetzungsfehlern determiniert ist. Ein System, in dem vielfach traumatisierte Menschen möglichst glaubhaft und nachvollziehbar ihre «asylrelevanten» Erlebnisse schildern müssen. Und dafür meist nur eine einzige Chance bekommen.

 

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