, 4. Oktober 2023
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Wie eine kleine Sache gross wird

Am Theater Konstanz läuft «Die Ärztin», eine Neuauflage des Schnitzler-Klassikers «Professor Bernhardi». Der Moral-Thriller zeichnet ein erschreckend realistisches Bild aktueller Aufschrei-Debatten und medialer Hetzkampagnen. von Franziska Spanner

Im Spannungsfeld zwischen Glauben und Wissen(schaft): Die Ärztin Ruth Wolff (Anna Eger. links). (Bilder: Ilja Mess)

Selbst Nobelpreisträger – in dem Fall sind wirklich nur Männer bekannt – sind nicht davor gefeit, sich ihre eigene Welt zu bauen. Eine Welt, die nicht unbedingt der Realität entspricht. So wurde erst kürzlich berichtet, dass etwa der Physiker Brian D. Josephson an Telepathie glaubt, der Biochemiker Kary Mullis den Zusammenhang des HI-Virus mit AIDS leugnete und der Chemiker Linus Pauling hochdosiertes Vitamin C als Allheilmittel gegen Krebs propagierte, um tragischerweise an ebenjener Krankheit zu sterben.

Am Theater Konstanz präsentiert Franziska Autzen mit ihrer Inszenierung von Die Ärztin einen Aufriss des Spannungsfelds zwischen Glauben und Wissen(schaft). Mit einem mintgrün gekleideten Ensemble erforscht das Publikum vor Krankenhaus-Kulisse Fragen des Seins, Sein-Wollens und Zu-Sein-Scheinens.

Ruth Wolff. Ärztin.

Von einem Spot in warmes Licht getaucht, steht Die Ärztin (Anna Eger) zu Beginn auf der noch dunklen Bühne. Selbstbewusst definiert sie sich selbst: «Mein Name ist Ruth Wolff. Ich bin Ärztin.» Dann, plötzlich erstrahlt die Bühne in grellem Licht und das Selbstbild der erfolgreichen Medizinerin kollidiert mit all den Kategorien und Schubladen, in die andere sie stecken (wollen).

Auslöser dieser Konflikte ist eine Tragödie um ein 14-jähriges Mädchen an der von Ruth Wolff mitbegründeten Klinik. Es liegt nach einer missglückten, selbstdurchgeführten Abtreibung im Sterben. Die katholischen Eltern sitzen unerreichbar im Flugzeug, und das Mädchen selbst ist nicht ansprechbar, weshalb Ruth Wolff entscheidet, einem Priester (Patrick O. Beck) den Zutritt zum Zimmer der Patientin zu verweigern.

Kurz darauf stirbt die Patientin. Aus ihrer Sicht als Ärztin hat Ruth alles richtig gemacht, um der jungen Frau einen friedlichen Tod zu ermöglichen. Doch das sehen lange nicht alle so – und eine erbitterte Hetzkampagne beginnt.

Komplexität der Gegenwart

Das Stück des britischen Autors Robert Icke basiert auf Arthur Schnitzlers 1912 uraufgeführtem Stück Professor Bernhardi, das den in Österreich herrschenden Antisemitismus am Beispiel eines jüdischen Arztes in derselben Situation thematisiert.

Icke reichert den Stoff mit aktuellen gesellschaftlichen Konflikten an: Die Ärztin ist eine Frau, die sich der Missgunst ihrer männlichen Kollegen erwehren muss. Der Priester ist nicht mehr nur katholisch, sondern auch Schwarz. Ruths Kollege Dr. Murphy bildet sich seine Meinung in Chatforen, und Gesundheitsministerin Jemima Flint schwimmt lieber mit dem Strom, als den Hass von Lebensschützern in den sozialen Medien auf sich zu ziehen.

Ärztin Ruth Wolff (Anna Eger) befindet sich unversehens in einem Shitstorm

So wird Ruth Wolffs den Krankenhausregeln entsprechende und medizinisch korrekte Entscheidung zum Spielball unbegrenzter Interessengegensätze. Die anfänglich «keine grosse Sache» stellt ihre berufliche und persönliche Existenz in Frage.

Menschenskinder

Franziska Autzen und ihrem Konstanzer Ensemble gelingt es, die Dynamiken des menschlichen Mit- und Gegeneinanders authentisch und pointiert abzubilden. Besonders eindrücklich wird dies in den Direktoriumssitzungen des Alzheimer-Instituts, an dem die Ärztin arbeitet.

Da gibt es Sticheleien, verbrüdernde Blicke und herablassendes Gelächter unter den Alpha-Männchen Roger Hardiman (Ingo Biermann) und Paul Murphy (Ulrich Hoppe), verzweifelte Wutausbrüche des Vaters der Verstorbenen (Patrick O. Beck), der mal eben hereinplatzt («Sie denken, Sie sind alle grösser als Gott?!») und eine flammende Rede des Kollegen Michael Copley (Julian Mantaj) über die Gefahr, das Berufsethos anderen Aspekten der eigenen Identität unterzuordnen. Der medizinische Leiter des Instituts, Brian Cyprian (Ramsès Alfa), versucht derweil in altväterlicher Art und Ruhe die Gemüter zu beschwichtigen, um kurz darauf selbst die Contenance zu verlieren.

Die Alpha-Männchen in ihrem natürlichen Habitat

Etwas bedauerlich ist dagegen die Darstellung der Wissenschaftler:innen in der Talkshow-Szene, die wissenschaftskritischen Klischees Vorschub leistet. Expert:innen aus vorwiegend sozialwissenschaftlichen Feldern wie der Kulturwissenschaft, den Postcolonial Studies und der Geschlechter-Forschung werden suggestiv-wertende, teils sogar respektlose, Aussagen in den Mund gelegt.

Bei der Frage etwa, ob Ruth sich der Konnotation des Wortes «Affentheater» bewusst sei, kommt seltsames Gelächter aus dem Publikum, bei dem nicht klar wird, ob es Verunsicherung, Belustigung oder ein Augen-verdrehen à la «Ist das jetzt auch noch politically incorrect?» zum Ausdruck bringt.

Anna Eger performt jedenfalls durchwegs eine spannende Gratwanderung zwischen der möglichst sachlichen, erfahrenen Ärztin, die sich auch mal zu zynischen Äusserungen («Manchmal behandeln Ärzte Patienten.») hinreissen lässt, und der Privatperson Ruth, die gefühlvoll, empfindsam und verletzlich ist.

Wenn das Weltbild nicht geteilt wird

Die Ärztin wirft viele Fragen auf, die das Stück selbst nicht zu beantworten vermag. Wäre es einem Mann genau so ergangen wie Ruth Wolff? Hätte Ruth auch einem weissen Priester den Zutritt verweigert? Stirbt es sich mit oder ohne Sterbesakramente friedlicher? Muss eine Ärzteschaft die Zusammensetzung ihrer Patient:innen wiederspiegeln oder soll allein die medizinische Qualifikation entscheidend?

Die Ärztin: noch bis 26. Oktober, Stadttheater Konstanz

theaterkonstanz.de

Eigentlich schön, mit so vielen Denkanstössen aus einer Vorstellung zu gehen. Was einen jedoch nicht ganz loslässt, ist die Tatsache, dass die Ärztin mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in diese Situation gekommen wäre, hätten die katholischen Eltern ihrer Tochter eine reguläre Abtreibung ermöglicht oder hätte der Priester sich einfach an die Besuchsregeln des Krankenhauses gehalten und nicht versucht, entgegen der Anweisung der Ärztin in das Zimmer des Mädchens einzudringen.

Wenn man so will, haben die Anführer:innen der Hetzkampagne die tragische Situation, über die sie sich so lautstark beschweren, selbst herbeigeführt. Nun ertragen sie es nur nicht, dass sich andere Beteiligte ihr Weltbild nicht überstülpen lassen. Ein Logikfehler im Stück, möchte man meinen. Bei genauerer Reflektion erschliesst sich: Genau so laufen viele unserer Aufschrei-Diskurse und Empörungskampagnen heute ab.

 

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