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Von Sichtweisen und Lesarten
Vorhangschleier, Larvenprozesse und Worte im Rechenrahmen: Gina Proenzas Einzelausstellung «Moving Jealousy» in der Kunst Halle Sankt Gallen. von Larisa Baumann

Bilder: Sebastian Schaub, Kunst Halle Sankt Gallen
Die junge Kunstschaffende Gina Proenza (*1994) bespielt derzeit die Kunst Halle Sankt Gallen in einer Einzelausstellung. «Bespielen» ist dabei wortwörtlich gemeint, denn trotz aller Ernsthaftigkeit, die vielen ihrer Werke zugrunde liegt, haftet ihnen auch etwas Verspieltes an. Genau solche Diskrepanzen sind es, die Proenza in ihrem Schaffen interessieren.
Proenza ist in der Kunst Halle kein unbekanntes Gesicht. 2019 war sie bereits in der Gruppenausstellung «Protect me from what I want: 15+1 Jahre Helvetia Kunstpreis» präsent. «Moving Jealousy» ist die erste Einzelausstellung der Künstlerin in der Deutschschweiz.
Kunst durch den Vorhang
Die gross kreierte Installation von Proenza erstreckt sich über drei aufeinanderfolgende Räume, wobei die Künstlerin die vorhandene Architektur geschickt nutzt, um ihre Werke in Szene zu setzen. Das ist einerseits integrativ gemeint, zum Beispiel mit den fliessenden Übergängen von einem Raum in den nächsten oder durch die Auseinandersetzung mit Hungerkrisen und Tod im kleinsten Raum, der bedrückend wirken und somit das Thema unterstreichen kann.
Andererseits ist auch der genau gegenteilige Sinn gemeint. Die Besuchenden begegnen am Anfang der Ausstellung einem transparenten Vorhang, der sich, Falte um Falte, nach eigenem Gesetz durch den Raum bewegt. Sich entlang einer weissen Wand entfaltend, schlägt der Vorhang vor dem Raumeingang eine Kurve ein und bewegt sich in Richtung Raummitte, wo er eine Weile innehält, bevor er sich wieder zurückzieht.
Der Spruch «Vorhang auf und Bühne frei!» drängt sich zwar auf, ist aber gleichzeitig unpassend, weil der Vorhang in seiner Transparenz und entgegen der vorhandenen Architektur handelnd weder etwas richtig freigibt noch richtig verdeckt. In seiner Mobilität nimmt das Textil jedoch Einfluss auf die Raumkonstruktion und die sich darin bewegenden Besucher:innen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Werk Main-courante (2023) im letzten Raum, das, wie der Titel impliziert, einem Handlauf ähnelt. Unabhängig vom (geraden) Boden weist das vermeintliche Geländer höhere und tiefere Stellen auf.
Indem sich Gina Proenza mit diesen Installationen über die gegebene Architektur hinwegsetzt, werden Objekte ihrer ursprünglichen Funktionen enthoben oder zumindest wird ihre Wahrnehmung in Frage gestellt und der Raum dadurch frei für neue Sichtweisen – oder in diesem Kontext genauso treffend – neue Lesarten. Denn in der visuellen Kunst Proenzas geht es auch um Sprache. Es geht um das Ordnungssystem der Sprache, um Regeln der Lesbarkeit und der Sichtbarkeit, ums Verständnis und die Verständigung.
Gina Proenza (*1994)
Die franko-kolumbianische Künstlerin und Kuratorin ist geprägt von verschiedenen Orten und Kulturen. Geboren in Bogotá lebte Proenza in Paris und Brüssel, bevor sie sich in Lausanne niederliess, wo sie auch gegenwärtig lebt und arbeitet. Für ihre Bachelor-Arbeit im Bereich Visuelle Künste an der Ecole cantonale d’art de Lausanne (ECAL) wurde sie mit dem Prix Helvetia 2018 ausgezeichnet. 2021 erhielt sie den Kiefer Hablitzel Kunstpreis.
Sprache im Rechenrahmen
Wer die Ausstellung betritt, sieht links Holzrahmen an der Wand hängen. Sie sind hinterlegt mit einem Spiegel und gefüllt mit horizontal eingespannten Messingstäben, auf die sich Holzperlen aufreihen. Durch die Zweifarbigkeit der Perlen werden Wörter sichtbar. Die Wörter sind teils gut, teils weniger gut lesbar, was einem mangelnden Farbkontrast oder einer ungewohnten Anordnung der einzelnen Buchstaben geschuldet ist. Spätestens das Lesen der Werktitel beendet das Ratespiel. Es sind Wörter wie Solidarity (2023) oder Solitary (2023), aber auch Moving (2023) und Jealousy (2023).
Gibt es eine Verbindung zwischen den einzelnen Wörtern? Einen grösseren Zusammenhang?, kann man sich nun weiter fragen. Ja, gibt es, aber belassen wir es einmal dabei und richten unseren Blick auf die Art und Weise dieser Werke. Sie erinnern ganz deutlich an Rechenrahmen. Eines der ältesten bekannten Instrumente für Additionen und Subtraktionen. Proenza zeigt uns mit ihnen aber Wörter.
Wieder einmal spielt sie mit Erwartungshaltungen und Sehgewohnheiten der Besuchenden. Durch die Transformation (vermeintlich) bekannter Objekte und Formen lässt die Künstlerin neue Deutungsweisen und Verständnismöglichkeiten entstehen und spannt einen Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dabei zeigt sie uns keine richtige Lösung auf. Vielmehr sind ihre Hinweise als Ansätze zu verstehen, mit denen sie die Besuchenden einlädt, das Spiel weiterzuspielen und sich auf die Vieldeutigkeit einzulassen.
Je nach Anordnung der Holzperlen im Rahmen ist ein Teil des hinterlegten Spiegels freigelegt. In ihm widerspiegelt sich nicht nur die Ausstellung und ermöglicht so neue Perspektiven auf die Werke, es spiegeln sich auch die Besucher:innen, die davorstehen. Sie werden Teil des Werkes und somit Teil der Ausstellung selbst.
Der Larvenprozess
«Moving Jealousy» ist geprägt von verschiedenen Medien und unterschiedlichen Materialien. Gina Proenza selbst beschreibt ihre Schaffensweise als «polymorph». Trotz der Vielseitigkeit sind in ihrem Œuvre auch wiederholende Motive zu finden. Ein Beispiel dafür ist der Holzkreisel, dem man in ihren Arbeiten immer wieder begegnet.
Gina Proenza – «Moving Jealousy»: bis 19. März, Kunst Halle Sankt Gallen
Mehrere der neu für die Installation in der Kunst Halle Sankt Gallen geschaffenen Werke sind Fortsetzungen von Werkserien. Die Skulpturen Shadow I-III (2023) beispielsweise sind veränderte Versionen von L’ombre (2021) und Rocher (2018), wobei die Künstlerin mit subtilen Anpassungen die Objekte mit dem neuen Narrativ ihrer Ausstellung verflicht. Recherchen in Archiven, historische Ereignisse, Schriften und Erzählung bilden nämlich den Anstoss für ihr visuelles Kunstschaffen.
Ausgangspunkt in «Moving Jealousy» ist ein Schweizer Prozess, der im 15. und 16. Jahrhundert gegen die Larven der Maikäfer geführt wurde, welche Ernteausfälle und Hungerkrisen auslösten. Dieses Ereignis zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung, legt weitere Deutungsebenen frei und wirft neue Fragen auf: Wie sieht die Beziehung zwischen Mensch und Tier aus? Wie reagieren wir auf die sich verändernde Umwelt? Der Imagination und Reflexion sind keine Grenzen gesetzt.