, 28. April 2023
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«Stillsitzen ist nicht gut für Neue Musik.»

Zeitgenössische Musik mit politisch engagiertem Hintergrund: Am Sonntag bringt der St.Galler Komponist Charles Uzor seine Komposition «Merrusch» im Kunstmuseum zur Uraufführung. Sie handelt vom Meer als Ort der Unsicherheit und der Flucht – mit Schubert als Kontrapunkt und mit einer Treppe als Spielort.

Konzertort Treppe: Kunstmuseum St.Gallen mit dem Werk von Tschabalala Self. (Bild: Su.)

Es war eine Anfrage, wie sie einen Komponisten nur erfreuen kann: der Auftrag für eine Komposition als Teil eines ganzen, von ihm mitkuratierten Programms. Ein Idealfall, sagt Charles Uzor, denn so sei zeitgenössische Musik eingebettet in einen inhaltlichen Zusammenhang.

Hinter dem lobenswerten Modell steht das in Bern beheimatete Ensemble Amaltea, ein Klaviertrio mit Sängerin, das seit Jahren in dieser Art nachhaltig arbeitet: Es entwickelt mit Komponist:innen Programme, die dann auf Tournee gespielt werden und in früheren Jahren so klingende Namen trugen wie «In dieser Mondnacht», «Lady of Silence», «Anrufung des grossen Bären» ua.

Das Meer – existentiell

Das aktuelle Programm, das am Sonntag in St.Gallen erstmals zu hören ist, trägt den Titel «Merrusch – Alle Schiffe trieben ins Offene». Er habe lange nach einem passenden Text gesucht, erzählt Charles Uzor. Schliesslich vertonte er eine Auswahl von Gedichten der deutschen Journalistin und Autorin Astrid Kaminski aus einer Sammlung mit dem Titel Sudokus für Kreuzfahrten.

Wobei der Begriff «vertont» gleich ins Grundsätzliche und für Uzor auch in die Irre führt. Texte im romantischen Sinn in Musik umzusetzen, komme für ihn nicht in Frage und sei nicht mehr zeitgemäss, sagt der St.Galler Komponist. Einzelne Worte bekämen so ein manchmal groteskes Gewicht, und generell habe Sprache eine ganz andere Semantik als Musik. Mit musikalischer «Illustration» hat es Uzor darum nicht, vielmehr mit einer Klangsprache, die auf ihre eigene Art zur Erzählerin wird.

Die inneren Stimmen der Passagiere
Bestimmten den Kurs
Alle Schiffe trieben ins Offene

Kaminskis Texte, knappe Dreizeiler mit viel Ironie, mal leicht, mal schwer, auch mal makaber, geben Stimmungen und Assoziationen rund um das Meer wieder. Bei den Stichworten «Wasser» und «Meer» werde man rasch in eine Sehnsuchts-Fremde hingezogen – für Uzor hat das Meer in den gewählten Texten aber auch eine rauhe gesellschaftliche Färbung, nicht zuletzt mit Blick auf die Geflüchteten auf dem Mittelmeer und die Katastrophen, die sich dort ereignen. «Das Meer kann existentiell sein, ein Ungetüm, ein Widerstand, es ist etwas vom Letzten, das der Mensch nicht beherrscht», sagt Uzor.

Also grosse Aufwallungen? Nein, sagt Uzor, eher ein «stilles Drama», mit wenig Noten, wenig Ausdrucksvielfalt, passend zum Titel des Werks: Merrusch ist der niederdeutsche Name der Stranddistel, einem stachligen Dünenbewohner.

Komponist Charles Uzor.

Der Text ist mehrheitlich gesprochen oder geflüstert, erst gegen Ende entwickelt sich Gesang. Die Instrumente, Tonband, Klaviertrio und Singstimme, seien nicht als Individuen behandelt, sondern als eine gemeinsame Stimme, als Bewegung vergleichbar den Wellen des Meers und ihrem Anrollen und Wegfliessen. «Keine Poesie. Knallnüchtern. Transparent» – so charakterisiert der Komponist seine Schreibweise. Gefühle entstehen dennoch, aus der Genauigkeit heraus.

Fragil auf der Treppe

Rund um Uzors Komposition gruppieren sich im von Contrapunkt organisierten Konzert zum einen andere zeitgenössische Werke mit passender Thematik, von Toru Takemitsu, Giacinto Scelsi und Morton Feldman. Und zum anderen Lieder von Franz Schubert, aus dessen Schwanengesang sowie Meeresstille und Nacht und Träume.

Ausführende sind Emilie Inniger (Sopran), Keiko Yamaguchi (Violine), Lukas Raaflaub (Cello), Eva Schwaar (Klavier) und Charles Uzor (Tonband).

«Merrusch – Alle Schiffe trieben ins Offene»: So 30. April, 17 Uhr, Kunstmuseum St.Gallen

contrapunkt-sg.ch

«Ins Offene», wie die Schiffe im Konzerttitel, führt auch der Konzertort. Es ist die markante Treppe zum Obergeschoss im Kunstmuseum St.Gallen. Das Ensemble spielt auf der Zwischenetage, vor dem riesigen Wandbild der US-amerikanischen Künstlerin Tschabalala Self aus deren aktueller Ausstellung «Inside Out». Eine fragile Situation, passend zum Konzerthema, sagt Uzor und will auch das Publikum in Bewegung halten, oben, unten oder auf der Treppe. «Stillsitzen ist nicht gut für Neue Musik.»

Die Konzerttour mit «Merrusch – Alle Schiffe trieben ins Offene» führt von St.Gallen nach Uetikon und im November nach Zürich, Bern und Basel. Daneben ist der St.Galler Komponist auch international gefragt. Eine neue Komposition erklingt mit der London Sinfonietta an Festivals in Finnland und England; im Münchner Prinzregententheater ist sein Stück zu Robert Walser, das 2020 im Appenzellerland uraufgeführt wurde, zu erleben, und das Lucerne Festival hat Uzor mit einer Komposition beauftragt, die seine wohl beklemmendste bisherige Arbeit weiterführt: das «Atemstück», wie er es nennt, mit dem Titel 8’46, das Bezug nimmt auf den Mord an George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis.

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