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Verfremdende Kunst im Gewölbekeller
Das Kunstmuseum Thurgau zeigt die Ausstellung «The blazing hot moment und andere Funkensprünge» der Künstlerin Rachel Lumsden. Ihre Bilder präsentieren und entziehen sich, transportieren Gegenstände und Orte und spielen mit unserem Erkenntnisvermögen. Von Lidija Dragojevic

(Bild: pd)
Zwei Sessel im Obergeschoss des Kellers der Kartause Ittingen, über denen Audioaufnahmen aus Lautsprechern zu hören sind, teilen den Raum in zwei Seiten. Daneben bedecken drei grosse Bildteile mit wilden roten und blauen Formen die Wand.
In den Audioaufnahmen werden Textstellen aus dem Buch der Künstlerin Rachel Lumsden (Igniting Penguins – A Manifesto For Painting / Ritt auf der Wildsau – Manifest für die Malerei) vorgelesen, das die Ausstellung begleitet und ergänzt. Ich versuche mitzulesen, die Bilder um mich herum lenken meine Aufmerksamkeit allerdings immer auf sie.
Ein Balanceakt der Spannung
Rachel Lumsden wurde 1968 in Newcastle upon Tyne geboren und arbeitet seit 13 Jahren in ihrem Atelier in Arbon. Das Buch sowie die Ausstellung «The blazing hot moment und andere Funkensprünge» sind geprägt von einer tiefen Auseinandersetzung mit der Kunst und ihrer Stellung in der heutigen Zeit.
«The blazing hot moment und andere Funkensprünge»: Ausstellung von Rachel Lumsden, bis 17. Dezember, Kunstmuseum Thurgau, Kartause Ittingen.
26. Oktober, 19 Uhr: Ausstellungsrundgang und Dialog zwischen Rachel Lumsden und der Kuratorin Stefanie Hoch.
Während das Buch versucht, insbesondere figurative Kunst mit Hilfe von verschiedenen Textformen zu erklären und zu diskutieren, setzen die Bilder die formulierten Gedanken in ihrer Erscheinung und ihrer Wirkung auf die Besucher:innen in der Praxis um. Text und Bild treten in ein Verhältnis der Kommunikation, etwa wenn gegenüber der zu Beginn erwähnten Bildteile Thicket II, III, IV, auf denen Vögel in blühenden Sträuchern erkennbar sind, die Frage steht: «Darf ich einen Baum mit Vögeln malen?»
Es erscheint als eine geschlossene Frage, und doch entsteht eine Spannung in jenem Moment, als die anfangs klaren Gegenstände und Lebewesen auf den Bildern bei längerem Betrachten zu blossen Formen werden. Es kommt zu einem Verfremdungsmoment, der von allen Bildern ausgelöst werden kann und die Motive in neue Umgebungen schleudert: ein parkhausähnliches Gerüst ohne Wände steht in einer begrünten Stadt (Underwarter cocktail party), ein Schaf begegnet zwei Kaiserpinguinen (Postcards from elsewhere) und eine Baustelle schwimmt im Meer (Groundswell).
Wahrnehmungsvielfalt
Genauso verhält es sich mit dem Titel der Ausstellung: Dass ein Funke überspringen kann, ist mir bestens bekannt. Der Fokus verändert sich allerdings, wenn die Rede von einem «Funkensprung» ist. Ständig wird mit der Möglichkeit gespielt, scheinbar Bekanntes in Irritierendes umzuschlagen. Die Bilder ziehen zunächst in ihren gesättigten Farben und ihrer einnehmenden Grösse ein. Dann distanzieren sie sich wieder durch ihre Formlosigkeit und fordern unsere Wahrnehmung und Reflexion.
Am längsten bleibe ich vor dem geteilten Bild «Root and branch» sitzen. In der Mitte links ist ein Mensch zu erkennen, dessen Blick in eine buschige, sumpfige Landschaft mit rennenden Personen im Hintergrund gewendet ist. Auf der rechten Seite ist ein Baumstamm mit einzelnen Blättern abgebildet, rundherum ist es eher weiss und hell. Erst später kann ich das rot-weiss-gestreifte Feld unten links als Kleidung eines weiteren Menschen erkennen. Die beiden Personen könnten sich am selben Ort befinden, sind aber inmitten verschieden wahrgenommener Umgebungen. Sie könnten ebenso gut auf dem Boden bei den Wurzeln und im Baum auf den Ästen sitzen und die Umgebung aus unterschiedlichen Entfernungen betrachten.
Wirkungsvolle Synthese
«Begegne ich guter Kunst, bekommt der Strom des Ungeformten und Wortlosen in mir für einen kostbaren Moment Form und Ausdruck und verbindet mich mit der Komplexität, den Ambivalenzen, dem dauernden Gestaltwandel der Welt», heisst es in einem Zitat Rachel Lumsdens.
In ihrer Diskussion über die (gegenwärtige) Kunst werden also formlose Gegenstände definiert und eine Verbindung zwischen der Innenwelt und den Prozessen und Bedeutungen der Welt geschaffen. Rachel Lumsdens figurative Kunst bedient sich zwar realer Gegenstände, verfremdet sie allerdings bis zu jenem Punkt, an dem Mehrdeutigkeit durch das Zusammenbringen scheinbar unterschiedlicher Elemente möglich wird.