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Zeitlose Klangwelt
Seit 17 Jahren widmet sich die Bach-Stiftung aus St. Gallen einer besonderen Form der Anerkennung des Barockkomponisten Johann Sebastian Bach: der vollständigen Aufführung und Vertonung seines Vokalwerks. Und das auf über 20 Jahre angelegte Projekt hat sogar Aussicht auf Verlängerung. von Lilli Kim Schreiber

Mit der Konzertsaison 2024 übernimmt Barbara Bleisch die Intendanz für die Reflexionen. (Bild: Bach-Stiftung)
Johann Sebastian Bach, einer der bedeutendsten deutschen Barockmusiker und -komponisten, bleibt ein faszinierendes Mysterium. Trotz seines guten Rufs sind von ihm eher wenige Werke erhalten. Hier setzt ein Projekt der J.S. Bach-Stiftung an. Die 1999 gegründete Stiftung zu Ehren des Thüringer Organisten hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gesamtaufführung von Bachs Vokalwerk auf die Bühne zu bringen und nahezu lückenlos zu vertonen. Ausserdem bietet sie mit bachipedia.org eine bedeutende Plattform für Bach-Liebhaber:innen an. Die Stiftung hat ihren Hauptsitz in St. Gallen.
Das Jahresprogramm 2024 beinhaltet nebst der Fortsetzung der Kantatenreihe auch eine Reihe von Highlights. Hierzu zählen die alle zwei Jahre stattfindenden Appenzeller Bachtage, die in diesem Jahr unter dem Motto «Bachs Werkstatt» stehen. Dabei kommen auch Themen wie kulturelle Aneignung aufs Tapet. Dies wird im Rahmen des Programmpunkts «Akademien mit Barbara Bleisch» diskutiert, wo auch Mithu Sanyal, Autorin postkolonial-feministischer Bücher wie Identitti, zu Wort kommen wird. Desweiteren steht eine Premiere im Rahmen eines Brahms-Bach-Projekts bevor, bei dem das Deutsche Requiem zusammen mit der Kirchenkantate BWV 27 Wer weiss, wie nahe mir mein Ende an fünf verschiedenen Spielorten in der Deutschschweiz aufgeführt wird.
Die Bachforschung boomt
Das Gesamtwerk von Johann Sebastian Bach (1685–1750) zeichnet sich sowohl durch seine Religiosität und Virtuosität als auch durch seinen Innovationscharakter aus. Bach trug zur Weiterentwicklung der musikalischen Formen und Techniken seiner Zeit bei. Er experimentierte mit Harmonien, Kontrapunkt und anderen musikalischen Elementen und brachte so die Entwicklung und Verfeinerung der Polyphonie enorm voran.
Die erste Kantatenaufführung der Bach-Stiftung fand 2006 statt, und die letzte wird, bei einem Rhythmus von einer Kantate pro Monat, gemäss Website voraussichtlich im Jahr 2027 auf den Spielplan gebracht – ein ambitioniertes Unterfangen mit vielversprechenden Perspektiven, wie Geschäftsführerin Anne-Kathrin Topp sagt. Laut Topp wird dieser Teil des Stiftungszwecks, der neben der Förderung des Kulturlebens in der Region Ostschweiz auch die Aufführung und Dokumentation des Bach’schen Vokalwerks umfasst, jedoch voraussichtlich erst im Jahr 2028 abgeschlossen sein.
Dies liegt insbesondere an der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Bachforschung, bei der unvollendete Werke oder sogar neue Versionen und lose Werke fortlaufend rekonstruiert, vervollständigt oder ausgearbeitet werden. Zudem könnte sich die Zusammenstellung des Bach-Werke-Verzeichnisses (BWV) mit dem Vokalwerk, das neben den Kantaten auch die berühmten Motetten, Messen, Passionen und Oratorien umfasst, verändern und dadurch auch neue Versionen hervorbringen, erklärt Topp.
«Nicht alle sind religiöse Bachjünger»
Die Laufzeit des Langzeitprojekts, das unter der künstlerischen Leitung und Dirigentschaft des Gründers Rudolf Lutz steht und bereits über 20 Jahre andauert, kann somit noch etwas verlängert werden. Dennoch überlegt die Stiftung schon jetzt, was nach dem Kantatenprojekt kommen könnte. Sie beabsichtigt gemäss Topp, ihre internationale Ausstrahlung zu stärken, etwa durch Kooperationen für Gastspiele im In- und Ausland – vielleicht sogar eines Tages über den Kontinent hinaus. Mittelfristig ist es der Stiftung auch ein besonderes Anliegen, sich innerhalb der Kulturstadt St. Gallen besser zu etablieren. «Wir wollen eine Brücke zur Stadt bauen», sagt Topp.
Liebster Immanuel, Herzog der Frommen (BWV 123), Aufführung der Bach-Kantate zu Epiphanias: 12. Januar, 19 Uhr, Werkeinführung 17:30 Uhr, Evangelische Kirche Trogen
Im Appenzellerland ist das Bach’sche Vokal-Œuvre hingegen bereits bestens bekannt. Kein Wunder, denn die Barockkirchen des Appenzellerlandes sind die Hauptaufführungsorte des Kantaten-Projektes. Gerade der barocke Charme der reformierten Kirche Trogen hat es der Stiftung angetan. Aber auch an internationalem Publikum fehlt es nicht. Ein Bach-Enthusiast sei kürzlich sogar aus Kanada zu einer Kantatenaufführung nach Trogen gereist, so die Geschäftsführerin. Sie sagt: «Ich glaube nicht, dass ein Bach-Hype herrscht, sondern es ist die zeitlose Qualität seiner Musik, die über alle gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen hinweg stets neues Publikum anzieht. Aber unser Publikum ist divers und nicht alle sind religiöse Bachjünger.»
Reflexionen neu unter der Leitung von Barbara Bleisch
Zusätzlich zu den Konzerten erhält das Publikum zwischen der ersten und der zweiten Aufführung jeder Kantate umfassende Werkeinführungen sowie Reflexionen, die neu von Barbara Bleisch kuratiert werden. Die Moderatorin und Philosophin, unter anderem aus der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie» bekannt, tritt zum Jahreswechsel die Nachfolge von Arthur Godel an.
Bei den Reflexionen handelt es sich nicht um blosse Lobpreisungen von Bach, sondern um gesellschaftsrelevante Diskurse über die in seinen Kantaten behandelten Themen. Gerade das Unerwartete reizt dabei, und es verspricht einen Raum für eine neue Rezeption der zweiten Aufführung der Kantate. Bleisch sagt dazu: «Mich interessiert, was eine Atheistin zum Heilsversprechen, was ein Gerechtigkeitstheoretiker zum Ruhm von Üppigkeit und Luxus denkt.»
Barbara Bleisch sieht sich selbst «in grosse Fussstapfen» treten, die der Kulturjournalist Arthur Godel hinterlässt. Dennoch freut sie sich auf die neuen Aufgaben. Die kritische Denkerin strebt danach, mehr Diversität in die Reflexionsgespräche einzubringen und Personen verschiedensten Alters, sozio-kultureller Hintergründe und Geschlechts zu Wort kommen zu lassen.
Persönlich freut sie sich im kommenden Jahr besonders auf die Philosophin und Publizistin Carolin Emcke sowie den forensischen Psychiater Frank Urbaniok, der zu einer Kantate sprechen wird, die sich mit Schuld und Sühne befasst. Weitere bereits bestätigte Gesprächsgäste sind Nina Kunz, Marie Luise Knott, Hans-Jürg Stefan zusammen mit Klaus Bäumlin, Michael Köhlmeier, Markus Will, Caspar Hirschi, Thomas Metzinger und Susanne Burri.