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Akut burnoutgefährdet
Sozialpädagog:innen in Kinder- und Jugendheimen arbeiten mit Menschen, die aus Extremsituationen kommen. Sie sollen diesen ein stabiles Umfeld bieten, um Abklärungen zu ermöglichen und Sicherheit zu vermitteln. Die derzeitigen Arbeitsbedingungen, die nicht vom Schweizerischen Arbeitsgesetz geschützt sind, verhindern diesen Auftrag aber mehr, als dass sie ihn fördern. von Bianca Schellander

Den Schwerpunkt zur Sozialen Arbeit im Januarheft hat Luisa Zürcher illustriert.
Max sitzt am Computer und bearbeitet Protokolle. Um ihn ist es ruhig. Endlich. Die acht Jugendlichen, die er den ganzen Tag betreut hat, liegen im Bett. Sie alle können aus verschiedenen Gründen nicht mehr zu Hause wohnen, haben Gewalt erfahren, sind sozial oder psychisch auffällig, gelten als «schwererziehbar». Bei ihm finden sie einen Platz, aber er weiss, dass es für manche die letzte Chance sein wird. Seit heute hat er wieder ein freies Zimmer – bei einem Jugendlichen, der sich und andere mit seiner Gewalttätigkeit zu sehr gefährdete, kam es zu einer fürsorgerischen Unterbringung. Das kann man auch freiheitsberaubende Zwangsmassnahme nennen.
Er muss die Vorkommnisse des Tages noch schriftlich festhalten, bevor auch er schlafen gehen kann. Allerdings nicht in seinem eigenen Bett, sondern in dem, das neben ihm im Büro steht. Max hat Nachtschicht. Und er weiss, dass es jederzeit zu einem Anruf kommen kann, weil doch noch jemand eine neue Unterkunft braucht. Oder dass ein Jugendlicher auszubüchsen versucht, schliesslich ist Wochenende. Oder dass jemand nicht schlafen kann. Kurz: Er weiss eigentlich nie, ob und wie lange er selbst dieses Bett nutzen kann, wenn er die Nachtschicht antritt – und das meistens schon am frühen Nachmittag. Er weiss nur, dass er frühestens am nächsten Tag, vermutlich irgendwann mittags wieder nach Hause kommt. Bis zu 24 Stunden nach seinem Dienstantritt. Ein Dienst, in dem nicht alle Arbeitsstunden auch tatsächlich als Arbeitszeit gelten.
Für Max, den es so nicht gibt und der hier stellvertretend für viele Sozialpädagog:innen steht, ist das Alltag. Und er ist damit nicht allein, im Gegenteil: Im Heimbereich sind solche Verhältnisse «normal». Saiten hat für diesen Artikel mit fünf Personen, die entweder im Heimkontext arbeiten, diesen bereits wieder verlassen haben oder im Umfeld von Heimen tätig sind, über ihren Alltag gesprochen. Auch Vertreter:innen des Forums Kritische Soziale Arbeit KRISO waren unter ihnen. Sie alle benannten unabhängig voneinander dieselben Probleme, Herausforderungen und blinden Flecken im System. Um sich selbst zu schützen, um ihren Teams gegenüber loyal zu bleiben, aber auch einfach, weil sie zum Teil der Meinung sind, dass es nicht um sie persönlich gehe, sondern darum, dass diese Missstände endlich thematisiert würden, bleiben sie anonym.
«Man muss sehr viel aushalten»
Der theoretische Idealfall: Mit einer abgeschlossenen (oder auch berufsbegleitenden) Ausbildung in der Sozialpädagogik wird ein Job in einem Kinder- oder Jugendheim angetreten. Dessen Organisation wird als offen, partizipativ und hierarchiearm beschrieben. Die Interessen der Bewohner:innen stehen im Mittelpunkt, Ziel ist es, sich für sie einzusetzen. Das Team besteht aus mehreren Fachpersonen, die Motivation ist gross, die Erwartungen an den Job scheinen erfüllbar. Die Zeiten von Verwahrlosung, Kinderarbeit, Missbrauch, Zwang und Repression in Heimen, die man aus den Schauergeschichten des letzten Jahrhunderts kennt, sind vorbei, schliesslich hat die Gesellschaft nach so vielen Jahrzehnten endlich etwas dazugelernt.
Was will man mehr? Vermutlich, dass die Realität nicht allzu schnell zuschlägt. Doch irgendwann tut sie das immer. Denn bei all den positiven Veränderungen und Verbesserungen in den letzten Jahrzehnten, handelt es sich immer noch um Räume, die versuchen, «Probleme» zu lösen. Gesellschaftlich separierte Räume, in denen Menschen mit «abweichendem» oder auch sozial unerwünschtem, den Konformitätsvorstellungen einer Gesellschaft nicht entsprechendem Verhalten leben – oder «erzogen» werden, um wieder zu «funktionieren» oder zumindest nicht zu stören.
Plötzlich stellen sich (ethische) Fragen wie: Welches Verhalten ist abweichend genug, um aufgenommen zu werden? Welches Verhalten ist «zu viel» und kann nicht mehr aufgefangen werden? Wohin mit diesen Menschen? Sind geschlossene Anstalten, sogenannte fürsorgerische Unterbringungen, wirklich eine langfristige Lösung? Was ist wichtiger: Alle Plätze in Wohnheimen zu belegen, oder darauf zu achten, dass die Dynamik der Bewohner:innen untereinander passt, damit sie keine Bedrohung für das Team darstellt und der Tagesablauf nicht gestört wird?
In Institutionen, die ihre Bewohner:innen nur temporär aufnehmen, um Abklärungen durchzuführen und Anschlusslösungen zu finden, spricht man auch davon, «Jugendliche zu verkaufen», wie eine unserer Gesprächspartnerinnen erklärt – «ein würdeloser Prozess». Das bedeutet, man muss sich genau überlegen, welche Formulierungen gewählt werden, damit eine Folgelösung gefunden werden kann. Denn was soll sonst aus Jugendlichen oder Kindern werden, die «zu schwierig» für das Sozialsystem der Schweiz sind? Wie viele Fälle «Brian» gibt es bereits?
Selbst die besten Intentionen und Wertevorstellungen scheitern, wenn es an der Finanzierung mangelt. Ressourcenknappheit sei der Standard, sagen unsere Gesprächspartner:innen. Die Tagessätze pro Institution bewegen sich zwischen 200 und 600 Franken, und das gilt es erst einmal einzunehmen. Die Antwort auf die Frage, was der Staat zahle und was – wenn überhaupt – über Beistände, Spenden, die Familie oder anderweitig gedeckt werde, ist sehr kompliziert und die Antwort darauf von Heim zu Heim, wenn nicht sogar von Fall zu Fall verschieden. Natürlich werden daher auch die Angestellten darauf hingewiesen, keine Überstunden zu machen, um die Kosten nicht zusätzlich zu steigern, obwohl die Überstunden notwendig wären bzw. sind, um den Betreuungsbedarf zu decken. Und fällt eine Mitarbeitende länger aus, etwa wegen Überarbeitung, wird nur in den seltensten Fällen über eine Aufstockung des Personals nachgedacht.
Die Belegung der monatlichen Dienstpläne gestalte sich schwierig, sagen die Sozialpädagog:innen, mit denen Saiten gesprochen hat. Zum Teil wurde von 26 verschiedenen Diensten berichtet. Die Arbeitsbedingungen seien tendenziell nicht familienfreundlich, der Betreuungsschlüssel entspreche nicht den Bedürfnissen der Bewohner:innen. Je geschlossener die Institution, desto grösser der Betreuungsaufwand und desto starrer die Strukturen. Es bleibe kaum Raum für kreatives Schaffen, für individuelle Beziehungsarbeit. Die Auslastungsquote werde hochgehalten, um in eine «Gewinnzone» zu rücken. Warum dieses Wort überhaupt Einzug gefunden hat in nicht-profitorientierter Arbeit, konnten die Interviewten selbst nicht nachvollziehen.
Sie kritisieren die Darstellung von «flachen Hierarchien», während in ihrer Erfahrung meist die Heimleitungen, die oft auch die Geschäftsleitungen sind, das letzte Wort haben. Und wenn bereits die Angestellten das Gefühl haben, nicht in Entscheidungen involviert zu sein, überrascht es auch nicht, wenn sie davon berichten, dass die Bewohner:innen eigentlich so gut wie nie ihr theoretisches Mitspracherecht ausüben können.
Unsere Interviewpartner:innen stellen sich alle die Frage, was eigentlich eine gute Heimleitung ausmacht? Wo früher oft der sozialpädagogische Hintergrund zentral war, scheinen heute immer mehr BWL-Kenntnisse und wirtschaftliche Kriterien das Denken zu dominieren. Dass dieser Fokus auf Wirtschaftlichkeit eine positive Veränderung gebracht hätte, konnten die Befragten allerdings nicht bestätigen. Im Gegenteil: Gerade diese Verschiebungen seien ausschlaggebend dafür, dass Sparen als positiv verkauft werde, während die Angestellten und Bewohner:innen immer mehr leiden und an ihre Grenzen kommen.
Sich einzig «der Sache» verpflichten
Je nach Kontext werden Kinder- und Jugendheime, aber auch Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen rund um die Uhr geführt. Nachtdienste sind also notwendig. So weit, so logisch. Weniger logisch scheint die Umsetzung. Angestellte – siehe Max – beginnen ihre Schichten zum Teil bereits nachmittags, begleiten die Bewohner:innen bis in den Abend, verabschieden sich von den anderen Angestellten, deren Schichten enden, und bleiben dann alleine zurück. Ihnen bleibt manchmal nur ein Bett im Büro, bei Überbelegung der Heime sogar nur eine Couch für die Nacht. Zum Teil sind sie alleine verantwortlich für sieben bis zehn Bewohner:innen. Es komme regelmässig zu Ausfälligkeiten, Notfällen oder sogar Anfragen für neue Einlieferungen (z.B. bei Notunterkünften), sagen die Interviewten. Durchschlafen ist für die meisten während so einer Nachtschicht ein Fremdwort.
Dazu kommt, dass die Zeit von 23 bis 6 Uhr nicht als Arbeitszeit gerechnet wird. Stattdessen werden Pauschalen ausbezahlt, die nicht einmal annähernd dem normalen Stundenlohn entsprechen. Selbst um 6 Uhr ist die Schicht noch nicht vorbei. Es ist keine Seltenheit, dass noch den ganzen Morgen weitergearbeitet wird und man sich so erst 24 Stunden nach Schichtantritt wieder zu Hause befindet. Wenn man nun bedenkt, dass Schlafentzug auch als Foltermethode angewendet wird, hier aber von den Berufstätigen erwartet wird, nach teilweise schlaflosen Nächten immer noch eine professionelle Leistung zu erbringen, muss man sich doch fragen, was dieses System soll. Es ist nicht nur absolut unrealistisch, sondern gefährdet im schlimmsten Fall sowohl die Bewohner:innen der Heime als auch die Angestellten selbst.
Das Schweizerische Arbeitsgesetz und dessen Verordnungen, die die Arbeits- und Ruhezeiten regeln, besagen klar, dass Nachtarbeit höchstens 12 Stunden dauern darf und auch voll bezahlt werden muss. Normalerweise. Es besagt aber eben auch, dass dies für «Erzieher, Aufseher und Fürsorger» nicht gilt. Jegliche Gesetze und Verordnungen zu Ruhezeiten, Überstunden und Höchstarbeitszeiten, die einst geschaffen wurden, um Arbeitnehmer:innen zu schützen, gelten schlicht und einfach nicht im Heimkontext.
Stattdessen wird indirekt davon ausgegangen, dass Sozialpädagog:innen sich bewusst für solche Arbeitsbedingungen entscheiden und sich «der Sache» verpflichten, also vor allem «helfen wollen» und somit ihr Wohlbefinden hintanstellen. Da verwundert es nicht, dass in sozialen Bereichen – gerade auch nach der Pandemie – fast ein Drittel aller Fachpersonen von Burnouts und emotionaler Erschöpfung betroffen sind. Was wiederum zu Ausfällen führt, die fast immer vom Team abgedeckt werden müssen, anstatt dass sie von den Institutionen aufgefangen würden.
Soziale Arbeit kann nicht nicht politisch sein
SavoirSocial, der Dachverband für die Berufsbildung im Sozialbereich, spricht davon, dass man als Sozialarbeiter:in oder Sozialpädagog:in einen aktiven Beitrag für eine lebendige Gesellschaft leiste, in der alle ihren Platz haben. Entspricht dies den Tatsachen? Will die Gesellschaft überhaupt, dass alle einen Platz haben in der Gesellschaft? Oder nicht doch eher einen klar zugewiesenen Platz am Rand, wo man niemanden stört? Fakt ist, dass die grossen Heime und auch die geschlossenen Wohngruppen für den Massnahmenvollzug wie etwa Platanenhof, Waldheim oder Bellevue in Altstätten sehr weit weg von der Gesellschaft existieren. Die geografische Platzierung solcher Institutionen weg von den Zentren erschwert die Inklusion der Bewohner:innen in den gesellschaftlichen Alltag massiv.
Niemand, der nicht in diesen Bereichen arbeitet, muss sich mit den Themen und Herausforderungen der Sozialen Arbeit, den Machtgefällen oder den schwierigen Situationen, aus denen die Kinder und Jugendlichen kommen, auseinandersetzen. Die Integration dieser Menschen findet so kaum statt. In sich geschlossene Systeme bleiben erhalten – ohne Kontrolle von aussen. Das geht so weit, dass bei Besuchen von Vertreter:innen politischer Ämter oder Entscheidungsträger:innen Angestellte aufgefordert wurden, mit besonders auffälligen Bewohner:innen auch einmal einen Ausflug zu unternehmen, um ein Bild zu wahren, das nicht der täglichen Realität dieser Orte entspricht. So berichten es unsere Gesprächspartner:innen.
Im schlimmsten Fall können sich bei der Heimleitung Machtstrukturen aufbauen, die sich nur noch an politischen Entscheidungen der Kantone, etwa für Einsparungen im Sozialbereich, orientieren und die Expertise des Teams ignorieren. Ein Beispiel, das Saiten zugetragen wurde, drehte sich um eine Weiterbildung für alle Angestellten, in der vermittelt wurde, wie sie sich selbst vor einem Burnout schützen können. Dass die Heimorganisation selbst aber nicht einmal annähernd die Rahmenbedingungen dafür schafft, geschweige denn Eigeninitiative zeigt, um etwas in diese Richtung zu ändern, wurde an der Weiterbildung nicht thematisiert.
Unter vielen Angestellten herrscht eine hohe Verbundenheit zu ihren Bewohner:innen, denn «irgendwer muss den Job ja machen», wie sie sagen. Die Abhängigkeiten sind gross, ebenso das schlechte Gewissen, wenn man selbst einmal ausfällt. Die Soziale Arbeit lebt auch vom «Gutmenschentum» und der eigenen Aufopferung. Und das System nutzt diese Selbstausbeutung aus. Neben neuen Strukturen braucht es auch die grundlegende Erkenntnis, dass das, was sich in diesen Systemen abspielt, sehr politisch geprägt ist und dementsprechend auch eine Antwort erfordert.
Petition fordert faire Arbeitsbedingungen
Was muss sich ändern? Die Sozialpädagog:innen, mit denen Saiten gesprochen hat, sind sich mehrheitlich einig. Zum einen verweisen sie auf eine laufende Petition von KRISO mit dem VPOD Zürich, die sich für gute Arbeitsbedingungen in den Kinder- und Jugendheimen einsetzt. Sie fordert unter anderem verbindliche Einhaltungen der Ruhezeiten und maximale Dienstlängen, die Anrechnung von Nachtarbeitszeiten als Arbeitszeit, einen fachlich begründeten Betreuungsschlüssel unter Miteinbezug der Mitarbeitenden und Gesamtarbeitsverträge.
Aber auch «kreativere» Lösungen kommen zur Sprache. Ein Sozialpädagoge in Ausbildung nennt das Abwenden vom traditionellen Heimsetting als ersten Schritt zur Verbesserung. Erst offene Strukturen, die wegkommen von der Lösung der «Verwahrung» der Menschen mit sogenannt «abweichendem Verhalten», können zu einer tatsächlichen Inklusion führen. Er argumentiert mit dem französischen Soziologen Émile Durkheim, der sagte, dass gerade die Abweichung auch als Chance gesehen werden müsse, um die Gesellschaft zu verändern, um die «Normalität» zu erweitern. Er fordert Konzepte wie das der «Neuen Autoritäten», die sich wegbewegen von Macht und Bestrafung, hin zu einem Fokus auf Beziehungsarbeit und Ressourcenorientierung unter Einbezug von tatsächlicher Partizipation und Mitspracherecht der Bewohner:innen wie auch der Mitarbeiter:innen.
Ein anderer Sozialpädagoge betont, wie wichtig er es findet, die eigenen Vorstellungen davon, wie Soziale Arbeit im Heimkontext auszusehen hat, zu hinterfragen. Man müsse den Fokus mehr auf die Bedürfnisse der Bewohner:innen legen, um wegzukommen von zu starren Strukturen. Auch thematisiert er die Burnoutprävention auf der Ebene der Leitung und fordert bedingungslose Selbstfürsorge-Settings.
Von den Gesprächspartner:innen wird mehrfach erwähnt, dass es Gefässe für regelmässige kritische Reflexionen und Supervisionen braucht. Bis hin zu einer völlig unabhängigen Kontrollinstanz, beispielsweise einem ethischen Fachgremium, welches nicht nur als Ansprechpartner fungiert, sondern auch Besuche in den Organisationen vornehmen kann.
Bei all der Erfüllung, von der Heimmitarbeiter:innen auch berichten, bei all dem Spass und den Erfolgen, die sie trotz allem erleben, stellen sie geschlossen fest, wie viel es zu verändern gilt, um wirklich nachhaltig ein System zu installieren, in dem sowohl die Angestellten fair behandelt werden, als auch die Bewohner:innen – egal wie lange sie in einer Institution bleiben. Sie sollen eine angemessene und professionelle Behandlung erfahren, die tatsächlich ihren Bedürfnissen entspricht und sie in ihren diversen Lebenslagen unterstützt.