, 29. Januar 2024
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Winterzauber, was soll das sein?

Alles nur inszeniert, alles nur Marketing? Was würde Vivaldi dazu sagen? Und warum gibt es eigentlich keinen «Sommerzauber»? Gedanken zu den Jahreszeiten in unseren Breiten. von Peter Müller

Zauberhaft, so ein Ausritt bei Minus 10 Grad! (Bilder: Peter Müller)

Winter – wie geht das mit dem Winter weiter, mit dem Schnee, mit dem Wintersport und weissen Weihnachten? Angesichts des allgemeinen Wetter-Durcheinanders kommt man jedes Jahr von neuem ins Sinnieren – auch jetzt wieder, auch in St.Gallen und in der Ostschweiz. Und der Blick in die Medien, ins Internet, verstärkt die Frage. Kürzlich war zum Beispiel zu lesen, dass sich die Weihnachtsausstellung 2024 des Kulturmuseums St.Gallen mit einem «Winterzauber» beschäftigen wird: «Barocke Weihnachten – Prunkschlitten im Winterzauber».

Das Wort «Winterzauber» wirft interessante Fragen auf: Tönt das nicht etwas marketing-floskelhaft, etwas winter-touristisch? Und haben die andern drei Jahreszeiten unserer Breiten auch einen solchen «Zauber»?

Die Nachfrage bei Google bringt ein interessantes Ergebnis. Der «Winterzauber» steht einsam an der Spitze, mit über 8,2 Millionen Treffern. Eine Winterzauber-Welt, in der man sich schnell einmal verirren kann – Tourismus, Kultur, Spass & Spiel, Gastronomie, Märkte, Camping, Schifffahrt, Ausstellungen… Es ist atemberaubend. Auf Platz zwei folgt der «Frühlingszauber» – bei ihm sind es gerade mal 413‘000 Treffer. Auf dem dritten Platz, mit 349‘000 Treffern, folgt der «Herbstzauber». Das Schlusslicht macht, weit abgeschlagen, der «Sommerzauber». Da liefert Google lediglich 63‘500 Treffer.

Sommergarderobe und Winterpneus

Aus historischer Sicht ist das bemerkenswert. Die Jahreszeit mit dem grössten «Zauber» – der Winter – war während Jahrtausenden für die meisten Menschen in unseren Breiten die mit Abstand schwierigste und härteste. Und die während Jahrtausenden lebensentscheidendste Jahreszeit – der Herbst mit seinen Ernten in der Landwirtschaft – steht mit seinem «Zauber» auf dem zweitletzten Platz.

Wie wichtig, wie existenziell sind die Jahreszeiten für die Menschen in unseren Breiten heute noch? Die Volkskunde und die Sozialgeschichte haben es längst formuliert: Der Umgang mit ihnen bietet noch immer seine materiell-konkreten Aufgaben – vom Reifenwechsel beim Auto bis zum Auffrischen der Garderobe, vom Einwintern der Balkonpflanzen bis zum Einmachen von Gemüse aus dem eigenen Schrebergarten.

Der Aufwand dafür hält sich heutzutage aber in Grenzen. Und wenn das «Rad der Jahreszeiten» hierzulande Herausforderungen bietet, dann hängen sie stark von der individuellen Lebenssituation ab, der individuellen Persönlichkeit. Die kalten, nassen und dunklen Monate können beispielsweise aufs Gemüt schlagen, oder sich in den Knochen bemerkbar machen. Schwierig können sie auch für sozial benachteiligte Menschen werden. Stichworte sind da etwa Heizkosten oder Obdach. Betroffene oder Fachleute aus der Sozialarbeit könnten dazu viele Geschichten erzählen (siehe auch Januarheft von Saiten).

Die Jahreszeiten beim Grossverteiler

Vieles Andere in unserem Umgang mit den Jahreszeiten, unserem Erleben von ihnen, ist eine Sache der «inszenierten Jahreszeiten», eine Sache der Bilder, Geschichten und Stimmungen, der Freizeit- und Konsum-Möglichkeiten. Unser Erlebnis der Jahreszeiten ist heute stark von dem geprägt, wie Marketing und Werbung, Medien und Meteo-Dienste, Tourismus und Freizeit-Industrie die Jahreszeiten thematisieren und inszenieren.

Sie führen uns auf ihre Art durch Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Beispiele gibt es in Hülle und Fülle. Sie reichen von den Auslagen in den Filialen vom Migros und Coop bis zur Tourismus-Werbung auf den Plakatsäulen der APG, von den Schaufenstern der Drogerien und Apotheken bis zu den Sonderangeboten der SBB.

Wenn wir den Jahreszeiten selber begegnen wollen, ganz direkt, wenn wir sie näher und tiefer erleben wollen, müssen wir uns darum bemühen und sie bewusst suchen. Auch dazu gibt es allerlei Möglichkeiten. Sie reichen vom Spazieren in der freien Natur bis zum bewussten, jahreszeiten-gemässen Kochen, von der Arbeit im eigenen Schrebergarten bis zum künstlerisch-kreativen Umgang mit den Jahreszeiten.

Nur noch eine untergeordnete Rolle spielt heute das Kirchenjahr mit seinen Festen, Bildern und Geschichten, Bräuchen und Ritualen. Jahrhundertelang war das anders gewesen. Das Kirchenjahr, lebensklug angepasst an die Jahreszeiten, half ganz wesentlich bei der Bewältigung des Lebens. Es sorgte für Ordnung und Sinn, gab Halt.

Erinnerungen erodieren

Überschattet wird dieses Erleben der Jahreszeiten immer mehr vom Problem des Klimawandels. Viele von uns spüren subjektiv, dass bei den Jahreszeiten einiges ins Rutschen geraten ist, dass sie sich verändern. Die Erinnerungen, die abgespeicherten Bilder und Stimmungen, greifen immer öfter ins Leere, können nicht mehr am aktuellen Sommer oder Winter andocken. Die Wissenschaft bestätigt diese Eindrücke. Nein, so ganz geheuer ist es uns mit den Jahreszeiten seit einiger Zeit nicht mehr. Vor allem mit dem Sommer und dem Winter. Der eine ist zu heiss und trocken, der andere zu warm und schneearm.

Der «Winterzauber» erhält damit einen bitteren, beunruhigenden Beigeschmack. Wo gehen sie hin, unsere Jahreszeiten? Werden Antonio Vivaldis weltberühmte Violinkonzerte von 1725, Le quattro stagioni, zu einem Fall fürs Museum? Ein stückweit sind sie es natürlich schon längst. Nur schon deshalb, weil sie aus der vorindustriellen Zeit stammen, aus einer Zeit ohne Maschinen, Autos, Computer und Spotify. Wenn man das beim Anhören präsent hat, werden die vier Sätze noch reicher, noch vielschichtiger.

Zwei verschiedene «Zauber»

Doch zurück zum Anfang, zur Rangliste des Jahreszeiten-Zaubers. Wie erklären sich der einsame Spitzenplatz des Winters und der letzte Platz des Sommers? Beim Winter drängt sich vor allem eine Erklärung auf: Unser Lebensstandard und unsere Technik erleichtern es uns heute massiv, durch den Winter zu kommen. Schwierig bleibt die Jahreszeit aber auch für uns: die kurzen Tage, die Kälte, die Dunkelheit, das Fehlen der Farben und Düfte… Da braucht es noch immer allerlei «Zauber», um durch diese schwierige Zeit zu kommen.

Beim Sommer ist es umgekehrt: Er ist einfach da und bietet so viel. Da braucht es keinen besonderen oder inszenierten «Zauber». Zudem ist der Sommer auch die grosse Ferienzeit, wo viele verreisen, weiss Gott wohin. Der «Sommerzauber» wird damit für viele zum touristischen Zauber, zum Zauber von Reisen in die weite Welt, in die ganz weite Welt.

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