keine Kommentare
Back to the future
Das preisgekrönte Kult-Musical «Rent» von Jonathan Larson verpackt sozialkritische Themen in drei Liebesgeschichten und eine rockige Show. Am Samstag feierte die Inszenierung von Regisseur Matthew Wild mit einem überzeugenden Cast Premiere am Theater St.Gallen. von Nathalie Grand

Gonzalo Campos López (Angel), Thomas Hohler (Mark) und Daniel Dodd-Ellis (Tom). (Bilder: Edyta Dufaj, Ludwig Olah, Theater St.Gallen)
Inspiriert von einer der berühmtesten Opern der Bühnengeschichte wurde das Musical Rent von Jonathan Larson zu einem Dauerbrenner am Broadway. Arme Künstler:innen und eine schwerkranke Mimi: Die Handlung folgt in groben Zügen der Geschichte von Giacomo Puccinis La Bohème.
Rent spielt in New York statt in Paris und macht aus dem Poeten Rodolfo einen Filmemacher und aus dem Maler Marcello einen ehemaligen Rockstar: Roger und Mark teilen sich eine schäbige Bleibe, die Miete (Rent) können sie aber nicht bezahlen. Ihr Vermieter, ein früherer Mitbewohner, macht Druck.
Roger hat seine Karriere an den Nagel gehängt, nachdem sich seine HIV-positive Freundin das Leben nahm. Nun lernt er die drogensüchtige Mimi kennen, will sich aber nicht binden. Mark hat gerade seine Freundin Maureen an die Anwältin Joanna verloren. Es kommt zwischen den beiden Frauen immer wieder zum Streit, weil Maureen sich nicht festlegen will. Der homosexuelle Professor Collins ist frisch verliebt in die Drag Queen Angel. Beide sind mit HIV-infiziert.
Aids verändert alles
Als Aids im Sommer 1981 als neue Krankheit erkannt wurde, waren bereits mehrere tausend Menschen infiziert. New York war anfangs stärker von der Aids-Pandemie betroffen als jede andere US-Stadt. Auch im Freundeskreis von Jonathan Larson war die tödliche Krankheit ein grosses Thema und der emotionale Auslöser, um das unvollendete Musical Rent umzuschreiben.
Statt eine lustige, im Yuppie-Milieu angesiedelte Version von La Bohème zu schreiben, entscheid sich Larson, sein Stück in der Alphabet City des East Village anzusiedeln. Ein Viertel in Manhattan mit vielen Clubs und Galerien – ein beliebter Treffpunkt für die schwul-lesbische Szene. Das Rock-Musical wurde 1996 erstmals aufgeführt. Jonathan Larson erlebte den Erfolg seines Stücks nicht mehr. Nach der letzten Generalprobe verstarb er mit nur 35 Jahren an einem Aortenaneurysma.
Ein schicksalhaftes Jahr in zwei Akten
Knapp 30 Jahre nach der Uraufführung stehen auch bei der Premiere am Theater St.Gallen keine Aufsteiger:innen auf der Bühne, sondern eine Gruppe mittelloser Künstler:innen. Die Geschichte beginnt an Heiligabend. Mark (Thomas Hohler), der sein Leben mit der Kamera dokumentiert, erzählt von einem schicksalhaften Jahr für sich und seine Freund:innen. Die Bohemiens versuchen, sich künstlerisch zu verwirklichen, ihren Platz im Leben und die grosse Liebe zu finden, gleichzeitig sind sie fast alle abgebrannt und haben mit der HIV-Pandemie zu kämpfen.
Rent: weitere Vorstellungen bis 8. Juni, Grosses Haus, Theater St.Gallen
Der südafrikanische Regisseur Matthew Wild versucht, die Geschichte aus der heutigen Sicht zu erzählen. Themen wie die Angst vor dem nächsten Virus, die Wut über steigende Mieten und die zunehmende Gentrifizierung sind universell und zeitlos, der omnipräsente AB (Anrufbeantworter) und das AZT (eines der ersten HIV-Medikamente) katapultieren die Zuschauer:innen immer wieder in das ausgehende 20. Jahrhundert zurück.
Im ersten Akt ist viel Aktion und Lärm auf der Bühne. Die Darsteller:innen hetzen atemlos durch ihr Leben. Mimi (Naomi Simmons) will trotz ihrer HIV-Infektion das Hier und Jetzt feiern. In Flashdance-Manier versucht sie, bei Roger (Dominik Hess) das Feuer zu entfachen. Naomi Simmons und Kerry Jean (Joanne), beide dem St.Galler Publikum als Waris Dirie im Musical Wüstenblume ein Begriff, begeistern mit ihren souligen Stimmen.
Die bunten Outfits der Darsteller:innen widerspiegelen die widersprüchliche Zeit. Claudio Pohle hat tief in die Trickkiste gegriffen und ausgefallene Kostüme geschaffen – von sportlichen Looks, farbigen Perücken bis Schuhen mit Plateau-Absätzen ist alles dabei. Hinreissend in seiner Darstellung als Drag Queen Angel ist Gonzalo Campos López. Die bisexuelle Künstlerin Maureen (Jeannine Michele Wacker) spritzt während einer Protest-Aktion in Kuh-Leggins Milch aus ihren Schulterteilen in Form von Eutern und überzeugt mit ihrer wilden Performance.
Der heute wieder angesagte 1990er-Style ist popperhaft und schrill zugleich und vereint Rock, Pop, R’n’B, Grunge und Techno. Christopher Bönecker (musikalische Leitung) und seine Rent-Band geraten bei den schnellen Szenenfolgen und Tempowechseln nie aus dem Takt. Das Musical hat zwar keine Hits hervorgebracht, die Songs sind trotzdem überzeugend, weil sie starke Gefühle zum Ausdruck bringen. Als optischer Verstärker werden Videosequenzen in Schwarz-Weiss eingesetzt, etwa vom Aids-kranken Steve, der seinen Körper im Spiegel nach dunklen Flecken absucht.
Paul Wills hat eine Bühne geschaffen, die dank verschiedenen Ebenen unzählige Ortswechsel zulässt: Vom grauen Hinterhof mit Feuerleitern und Graffitis, ins trendige Life Café mit bunten Girlanden, hin zum Obdachlosen-Camp. Das Camp symbolisiert den Aufstand um den Tompkins Square Park, als dieser in den späten 1980er-Jahren geräumt wurde, um Obdachlose fernzuhalten.
Wie misst man ein Leben
Zweiter Akt: Das neue Jahr seht vor der Tür und wirft die Frage auf, wie misst man ein Leben, wenn einem nur noch ein Jahr bleibt. In 525‘600 Minuten? In Sonnenaufgängen? In Sonnenuntergängen? In Nächten? In Kaffeetassen? «How about love?», fragen die durchwegs überzeugenden Darsteller:innen in der sonst deutschsprachigen Version des Musicals.
Der Valentinstag bringt statt Liebe Streit. Mimi und Roger entfremdenden sich zusehends, was die beiden in einem schmerzvollen Duett zum Ausdruck bringen. Die Bühne teilt sich. Angel hat Aids und liegt im Spital, umsorgt von Collins. Angel verliert den Kampf und stirbt. Bei seiner Beerdigung scheint es, als würde die Gruppe auseinander brechen.
Mimi, die ihre Entziehungskur abgebrochen hat, ist seit Monaten verschwunden. Maureen und Joanne finden sie an Weihnachten halbtot im Park und bringen sie in die WG. Roger singt Mimi sein Lied und gesteht ihr seine Liebe.
Seine toten Freund:innen konnte Jonathan Larson nicht mehr zum Leben erwecken, fürs Musical schrieb er ein Happy End. Statt Mimi wie bei Puccini sterben zu lassen, erwacht sie und erzählt vom einem weissen Licht und Angel, der ihr erschienen sei und sie zurückgeschickt habe.