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Menschsein zwischen Bomben
Mit einem prallen Doppelabend reagiert das Theater St.Gallen auf den Krieg gegen die Ukraine und überall: Sofja Petrowna dokumentiert den Terror der Stalinzeit, Republik der Taubheit verdichtet Kriegsbilder zur Metapher vom Trotzdem-Leben. Barbara-David Brüesch inszeniert in der Lokremise.

Im Stalin-Putin-Terror: Diana Dengler, Manuel Herwig, Nicolas Lech, Annabel Hertweck, Marcus Schäfer in Sofja Petrowna. (Bild: Jos Schmid)
Und so hört es auf, das Stück vom Krieg, der nie aufhört: «Wir sitzen im Publikum, reglos. Stille saust, wie die Kugel, die uns verfehlt hat.» Kurz vorher haben viele Kugeln getroffen, es ist eines der unvergesslichen Bilder des Stücks: Bleikugeln knallen von allen Seiten auf das Metallgeviert in der Mitte, ein Bombardement, es tötet 50 Frauen in der besetzten Stadt Vasenka. Wir im Publikum sitzen ausserhalb, reglos, verschont.
Der ukrainische Autor Ilya Kaminsky hat mit Republik der Taubheit einen Text vom Sterben und Leben im Krieg geschrieben, der wie ein Dokument des seit mehr als zwei Jahren dauernden Kriegs gegen die Ukraine wirkt. Vasenka, die imaginäre Stadt im Text, könnte Mariupol sein, Charkiw, Kupjansk oder Odessa, wo Kaminsky 1977 geboren wurde. Der Text erschien tatsächlich 2022 kurz nach dem russischen Überfall auf Deutsch, bereits 2019 aber im englischen Original. Vasenka kann auch Gaza und Beirut sein, es ist ein Ort im Krieg, überall und jederzeit.
Ein Kind zwischen den Bombardements
Und es ist ein Ort, in dem gelebt und geliebt wird. In dem Menschen leben wollen, Frauen, Männer, Kinder. In dem die Frage eine Antwort bekommt, die das Stück gleich dreifach stellt. «Was ist ein Kind? Was ist eine Frau? Was ist ein Mann? Eine Stille zwischen zwei Bombardements.»
Der Mann und die Frau, Alfonso und Sonja, sind Puppenspieler. Manuel Herwig und Annabel Hertweck legen in die beiden Figuren alle Zärtlichkeit, die zwischen den Bombardements übriggeblieben ist. Ihr Kind Anuschka verliert drei Tage nach der Geburt seine Mutter, dann den Vater, wird von der alten Momma Galya gerettet, bis auch diese umkommt im unaufhörlichen Krieg.
Soweit das Erzählgerüst hinter einem Text, der poetisch und symbolisch aufgeladen das Entsetzliche in Bilder fasst und die grossen Fragen nicht scheut, Fragen wie: «Wie soll man in dieser Welt leben, Kind?» Das Kind antwortet: «Auf Erden kann man machen – oder nicht? –, was man will.»
Wie das Entsetzen tönt
Regisseurin Barbara-David Brüesch und ihr Team machen das Richtige: Sie stilisieren und abstrahieren das Geschehen und öffnen den poetischen Bildern damit Imaginationsräume, statt sie zu konkurrenzieren. Die sechs Spieler:innen bilden Reihen und Klumpen, sind Individuum und gleich darauf ein Körper und eine Stimme. Aus Handlungen werden Rituale, aus Ereignissen Geräusche: ein Sturm aus Packpapier für die Grabrede, Schläge auf Kübel für die Soldateska, Becken als flirrende Kreisel. Dann Stille.
Stille könnte allerdings mehr sein. Denn die Leute von Vasenka reagieren auf den Krieg mit einer besonderen Waffe: Sie stellen sich taub. Kaminsky, selber nach einer Krankheit als Kind gehörlos geworden, setzt damit ein grandioses Bild des Widerstands. Wer nicht hört, ist für Befehle unerreichbar. In der Lokremise bleibt das Stück jedoch laut und gesprächig. Die Stille hält nicht an, die Gebärdensprache ist zu sehr Nebensache, die zuckende stumme Marionettenfigur der Pianistin Annalisa Derossi hat zu wenig Kraft.
Dennoch, und umso mehr gehen einem die Menschen aus Fleisch und Blut ans Herz und die Bombardements ins Ohr – aber auch unerhörte Klänge wie das leise Zischeln der Streichhölzer beim Eintauchen ins Wasser, das kein Gott hätte erfinden können. Und im Lauten wie im Leisen klingt nach dem Premierenapplaus die Frage nach: Was hätten wir Verschonten ausserhalb des Kriegsgevierts tun können oder müssen?
Krieg gegen das eigene Volk
Da ist es spät, halb elf, an einem Theaterabend, der um sieben begonnen hat mit einem anderen Stück. Das gleiche abstrakte Bühnengeviert, das gleiche Ensemble, vergleichbar auch die Beklemmung: Lydia Tschukowskaja beschreibt in ihrem Roman Sofja Petrowna den Terror der stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion der 1930er-Jahre. Es ist ein Krieg der anderen, aber nicht minder zerstörerischen Art: des Staatsapparats gegen das eigene Volk.
Menschen in Reih und Glied, strikt choreografierte Auftritte, chorisches Sprechen: Die Handschrift von Regisseurin und Schauspieldirektorin Barbara-David Brüesch gleicht jener im zweiten Teil. Die Kleider (Sabin Fleck) sind hier schwarz-weiss-grau im Gegensatz zu den farbigen Pullovern in Teil zwei. Die Bühne (Damian Hitz) ist jetzt möbliert, mit den Schreibmaschinen im Verlagskontor, in dem Sofja Petrowna arbeitet, einem Redepult, Stühlen, einem Bett. Und mit Türen, die zu Schaltern werden – dem Emblem des Terrors der Bürokratie.

Das Volk tanzt (Marcus Schäfer, Jonathan Fink, Nicolas Lech, Diana Dengler, Annabel Hertweck) – und kommt unter die Räder (unten, vorne Anja Tobler als Sofja Petrowna).
Diese Bürokratie der Angst schlägt nach kurzem Tauwetter, das die vorbildliche Genossin Sofja zur Büroleiterin befördert, unerbittlich zu. Nach und nach fallen der Grossen Säuberung ein prominenter Arzt zum Opfer, der Genosse Verlagsdirektor, die dem Klassenfeind entstammende Stenotypistin Natascha, der Jude Alik. Ihre Vergehen sind so unerfindlich wie der Ort, an den sie verschleppt werden. Bis eines Tages auch Kolja verhaftet wird, Sofjas eben noch als aufstrebender Ingenieur gefeierter Sohn.
Weitere Vorstellungen:
22., 26., und 31. Oktober,
3., 10, 14., 17. und 19. November
sowie 3. und 4. Dezember,
Lokremise St.Gallen
Die Suche nach Nachrichten über Kolja wird für Sofja zum Alptraum – wie für Tausende anderer Frauen auch. Gespenstisch, im kalten Theaternebel, in dicke Mäntel und Filzpantoffeln eingemummt, schleppen sie sich über die Bühne, drängen sich vor Schaltern zwischen Hoffen und Bangen, rangeln um Nummerlisten, sehen sich wie in Kafkas Schloss mit jedem Schritt weiter vom Ziel entfernt. Das Bild brennt sich ein.
Die Mechanik des Faschismus
Tschukowskaja hat den Stalinterror selber erlebt, sie schrieb ihren Roman unter Lebensgefahr, er wurde verboten, ging vergessen, konnte erst Jahrzehnte später publiziert werden. In der St.Galler Bühnenfassung von Regisseurin Brüesch und Dramaturg Martin Bieri ist das Geschehen ungeheuer verdichtet. Die Schlinge zieht sich im Takt des Schreibmaschinengeklappers zu, aus Walzertakt wird Marschschritt, während Sofja bis zur Erschöpfung an Gerechtigkeit glauben will und an die Verschwörungserzählungen der Staatspropaganda.
Die Parallelen zwischen Stalin-Terror und Putin-Diktatur sind unübersehbar. Das macht das Stück quälend aktuell und die Inszenierung zum Muss: Minutiös wie selten sonst ein Buch zeichnet Sofja Petrowna nach, wie Faschismus funktioniert, wie Menschen von einer diabolischen Staatsgewalt in die Enge getrieben werden, bis jeder des andern Feind ist.
Überragend spielt Anja Tobler die Sofja Petrowna, getragen vom stark und einhellig agierenden Ensemble mit Diana Dengler, Jonathan Fink, Annabel Herweck, Manuel Herwig, Nicolas Lech und Marcus Schäfer. Das Premierenpublikum hielt hoch konzentriert durch, gestärkt durch einen ukrainischen Borschtsch in der Pause. Und applaudierte heftig.