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Für die Bildschirm-Community
Der Rundgang beginnt am Unterleib und endet mit Theologie. Gott und die Welt, Bauch und Seele, dazwischen steckt das ganze Leben, und darunter macht es Pipilotti Rist nicht. Jetzt hat das Kunstmuseum St.Gallen die bislang umfassendste Rist-Retrospektive mit Werken aus 25 Jahren eröffnet: «Blutbetriebene Kameras und quellende Räume». 1994 war dabei das Wendejahr: Mit der […]

Der Rundgang beginnt am Unterleib und endet mit Theologie. Gott und die Welt, Bauch und Seele, dazwischen steckt das ganze Leben, und darunter macht es Pipilotti Rist nicht. Jetzt hat das Kunstmuseum St.Gallen die bislang umfassendste Rist-Retrospektive mit Werken aus 25 Jahren eröffnet: «Blutbetriebene Kameras und quellende Räume». 1994 war dabei das Wendejahr: Mit der Manorpreis-Ausstellung «I’m Not The Girl Who Misses Much» in St.Gallen und danach in Hamburg war die Videokünstlerin aus Grabs schlagartig bekannt geworden. Der Fall zeige, sagte Museumsdirektor Roland Wäspe beim Pressetermin vor der Vernissage, «dass man auch von St.Gallen aus internationale Karriere machen kann». Die Bestätigung: zwei, drei Dutzend Journalistinnen und Journalisten, Kamerateams, ein Medienrummel und Geknipse wie kaum je sonst im Kunstmuseum.
Zuerst also der Unterleib. Für Geburt, Ausscheidung und Sexualität zuständig, sei dies ein dreifach tabubeladener Körperort, sagt Pipilotti Rist. Und widmet ihm eine Unterhosenlämpchengirlande draussen vor dem Museum. LED, also stromsparend, beruhigt Kurator Koni Bitterli. Aber vielleicht bürgerschreckend? Man wird es sehen. Die Wäsche ist zumindest korrekt männlich wie weiblich und soll mit ihrer Intimität «den öffentlichen Repräsentationscharakter von Museum und Stadtpark unterwandern». Sie ist der luftige Gegensatz dazu, wie heftig körperlich es in den Videos von Pipilotti Rist sonst zu und hergeht, oft in schmerzhaften Nah- und Nächstaufnahmen. Man begegnet diesen bekannten Arbeiten zum Teil hier wieder – dem Unterwassertraum «Sip My Ocean», wofür eigens ein Liegeraum mit (gesponsertem) Flauschteppich eingerichtet wurde, oder den frühen Videos «Sexy Sad» und «Pickelporno». Und auch dem filmischen Selbstporträt «Selbstlos im Lavabad» (Bild) von 1994: In Miniaturformat, kartoffelgross auf den Parkettboden projiziert, schreit die Künstlerin darin aus dem Fegefeuer nach Hilfe. Da zeige sich ihr protestantisches Erbe, sagt Rist: die Backe hinhalten, kämpfen, alles geben, und dies ohne die Ablasströstung des Katholizismus. Voilà, am Ende des Rundgangs, die Theologie. Samt einem Bekenntnis zur Nächstenliebe: «Wir sind da, um einander zu helfen».
Im Oberlichtsaal, er führt von der Hölle in den Himmel, ist erstmals in der Schweiz «Administrating Eternity» zu sehen, das Hauptwerk der Ausstelung. Die organisierte Unendlichkeit besteht aus diagonal gehängten, den ganzen Raum füllenden Tüllbahnen, auf denen unterschiedliche Projektionen einen eigentlichen Bildtaumel produzieren – Schafe, Haare, Trauben, Sternexplosionen und diverses Anderes wogt übers Tuch. Als Besucher muss man da durch und wirft seinen eigenen Schatten.
Sich selber und seinen eigenen Seh-Routinen und Blick-Störungen entkommt das Publikum nirgendwo in dieser Ausstellung. Sie ist ein gewaltiger Bilder- und Klangrausch. Das macht skeptisch mit Blick auf die Flut, in der wir alle permanent zu ersaufen drohen. Doch wird dieses Bilderflimmern zugleich problematisiert: Werke wie «Administrating Eternity» oder «A la belle étoile» im Foyer ziehen einem den Boden unter den Füssen und den eigenen Gesichts-Punkt weg. Und zwingen dazu, neu hinzuschauen. Frappierend ist dieser «neue Blick» zu erproben bei Rists Bearbeitung von Camille Corots winzigem Ölgemälde «Bei Riva am Gardasee» von 1832. Sie holt es aus der Sammlung ans Tageslicht und überpinselt es filmisch so raffiniert, dass der See zu fliessen und der Berg zu glühen beginnt und die ganze Landschaft lebt. Die Arbeit heisst «St.Galler Antimateria», ein Verwandlungsstück der nie gesehenen Art.
Damit all das nicht bloss privat bleibt, dazu braucht es, wie die Künstlerin und ihre St.Galler Kuratoren betonen, das Museum als öffentlichen Ort. Denn die Vereinsamung vor den Bildschirmen ist Pipilotti Rist, der Grossmeisterin der Bildschirm-Kunst, ein Horror – ihre eigenen Arbeiten sieht sie ausdrücklich als gemeinschaftsbildendes, kommunikatives Gegenprojekt. Ob diese «Community» in Gang kommt und funktioniert, kann man nun bis Ende November im Kunstmuseum St.Gallen herausfinden.
Im Juni-«Saiten» hat übrigens Wolfgang Steiger ein Interview mit Pipilotti Rist (PDF-Download) geführt, das Porträt hat Florian Bachmann gemacht.