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Go all the way #27
«Maxunceti: ein winziger Ort voller Leben. Wir blieben einen Moment», schreibt Ruth Wili in ihrem neuen Tagebuchbericht aus Georgien. «Ich lasse mich durchtränken von der Gastfreundschaft und dem schlichten Miteinander hier.»

Maxunceti: Wenn ich richtig verstanden habe, heisst das ungefähr: «zum alten Mann». Ein schlanker, hoher Wasserfall ist dort. Für uns ist es der dritte Tag ohne Stadt und Routine. Was bin ich süchtig nach diesem Grün…
Die Strasse, an der entlang wir zum Teil gehen, ist voller Lehm und Sand vom Kiesabbau, der dem Fluss seinen Stempel aufdrückt. Die Hunde, ich, alles ist mit einer staubigen Schicht überzogen. Ums Abbaugebiet selber sind im wahrsten Sinne des Wortes tonnenweise Dreckschleudern von Lastern unterwegs. Für mich und die Hunde eher mühsam. Wieder sind wir so exotisch, dass die meisten abbremsen und hupen, nur um dann knatternd wieder anzufahren. Ich werde x Mal aus einem Fahrzeug heraus aufgefordert, stehenzubleiben für eine Foto, und bin mit der Zeit schlicht pissed, denn wenn ich nicht reagiere, rufen sie die Hunde. Für Flughirn Pluto ist das herausfordernd, bei mir zu bleiben mit der Aufmerksamkeit.
Wo immer wir im oder am Flussbett gehen können, ist es hingegen grossartig. Die Hunde pfeilen herum und weichen den Kühen, die nonstop und überall unerwartet auftauchen, grösstenteils entspannt aus. Es ist schwül. Die Feuchtigkeit der endlosen Wälder hängt in der Luft, verbunden mit den Hügeln, an denen die Wolken stocken. Stimmungsvoll.
Ein weiteres Auto hält und die Scheibe geht runter und ich werde hergewunken. «No», sage ich. Werde nochmal gewunken. Bin deutlicher «NO!» Die Tür geht auf und eine Frau steigt aus, kommt über die Strasse zu uns. Sie führt das Guesthouse in Maxunceti. Ob wir mitfahren wollen? Ich bitte sie um Entschuldigung und erkläre ihr, warum ich so unfreundlich war. Sie wird uns erwarten, wir gehen zu Fuss. Es erwartet uns noch ein Stück, wo das Tal etwas breiter ist und die Hunde sich restlos austoben können. Zur Zeit gehe ich mit Googlemaps.
Bei der letzten Häuseransammlung vor dem Knick, wo das Guesthouse liegt, sehe ich einen Minimarkt. Super, unser Abendessen ist gesichert. Da kann ich später einkaufen gehen. Und dann ist da der Strassenknick, und ich bin völlig überrumpelt, dass da gleich nochmal ein «Lädeli» kommt, wo doch hier nur diese Kurve mit der Abzweigung zum Wasserfall ist. Als wir einquartiert sind, kriege ich – auch hier wieder – sofort eine Suppe und Salat vorgesetzt.
Gemeinschaftliche Architektur
Ich bin begeistert von der Architektur dieser ausladenden Häuser, die ich nun zum zweiten Mal sehe: Das oberste Geschoss ist ein einziger Raum, an dessen Ecken die Gästezimmer liegen. Quasi in jede Himmelsrichtung eins. Alles dazwischen ist ein enormes Kreuz, das als Gemeinschaftsraum dient. Und an den «Sackgassen» des Kreuzes liegen Balkone oder grosse Fenster. Wir sind die einzigen Gäste, so dass ich diesen Raum meinerseits komplett allein ausfüllen, und mich von der Architektur erfüllen lassen darf. Ich spiele mit der Vorstellung, je nach Kreativstimmung in die oder die Himmelsrichtung zu schauen beim Arbeiten. Eine abgefahren gute Vorstellung!
Als ich vom Einkauf zurückkomme und die Hunde satt sind, sitze ich auf dem talauswärts gerichteten Balkon. Maxunceti liegt in diesem Knick in einem Loch, und doch empfinde ichs nicht eng. Kapiere nicht warum, erst als ich mit den Hunden eine Abendrunde drehe und feststelle, dass die Abzweigung zum Wasserfall im Knick einen Triangel bildet, in dem ein ganzes Dorf pulsiert. Es ist ein grüner Triangel, auf dem Streuner, Kühe, Hühner und Katzen sich zwischen spielenden Kindern tummeln. Um den Triangel eine «Strasse» und darum die baufälligen Wohnungen und einzelnen Häuser. Auf der Strasse stehen Menschen und fangen sofort ein Gespräch mit mir an. Ob ich nicht noch einen Hund wolle? Und klar könne ich meine frei tummeln lassen. An wackligen Tischlein am Strassenrand wird Honig und Marmelade und eigener Wein verkauft. Ein paar alte Männer sitzen an einem Tischlein und sind in ein Brettspiel vertieft. Einer von ihnen winkt mir, der Wasserfall sei dort drüben. Ich schlängel mich mit den Hunden durch das Treiben. Pluto müsste schon wieder überall gleichzeitig sein, Homer behält die Nähe, hier ist was los. Kleine Stände reihen sich aneinander, und an vielen wird eine abgefahren leckere georgische Spezialität verkauft: Nüsse – Baumnüsse oder Haselnüsse –, die in eingedickten Traubensaft eingesperrt wie Stalaktiten an Fäden hangen. Meine favorisierte Wandernahrung!
Ein Mädchen spricht mich an, Tamro. Sie spricht grossartig Englisch und wir sind sofort in ein Geplauder vertieft. Kurzerhand fragt sie mich, ob ich denn morgen auch da sei und ob sie mir Zeda Maxunceti zeigen solle? Das obere Maxunceti, ca. 20 Minuten in Haarnadeln den Berg rauf. Klar! Nachdem wir uns den Wasserfall noch angeschaut haben, ist für uns Schicht im Schacht und wir verabreden uns für den kommenden Morgen, acht Uhr.
Da stehe ich mit meinen beiden Wildfängen. Niemand da. Schweizerische Überpünktlichkeit oder war das nix mit der Verabredung? Von wegen. Einige Minuten später taucht Tamro auf mit ihrem kleinen Bruder und einer Freundin im Schlepptau und wir machen uns an den Aufstieg. Homer zottelt frei neben uns und Pluto ist an der Schleppleine. Tamro übernimmt sofort Verantwortung, Pluto abzuhalten, ins Gebüsch zu verschwinden, nur das mit dem Draufstehen, das ist etwas ungewohnt. Pluto, unter all den Eindrücken, hat Schub, wenn er loslegt, und Tamro ist nicht schwer genug, wenn sie mit einem Bein auf die Leine steht. Im Team klappts aber super.
Sie zeigt mir, wo wir von oben auf den Wasserfall schauen können, und bei einem grossen Felsen pausieren wir einen Moment. Dann teilt sich der Weg, wir überqueren links die Brücke und die ersten Häuser tauchen auf. 25 Menschen leben hier, sagt sie mir. Häuser sinds mehr. Das Dorf ist halb verwaist. Reben, fruchtbarste Gärten. Bei einem Haus hocken wir uns auf den Boden, Pluto ist zurück den Weg runter und wir warten und rufen ihn. Aber der Schlawiner hats mal wieder faustdick hinter den Ohren und dieselben auf Durchzug. Wir drehen eine Runde durch Schleichwege des Dorfes und ich kann Pluto nicht spüren. Der ist nicht mehr da. In dem Moment meint Tamro: «Ich glaube, der ist runter.» Ich staune über ihre Wahrnehmung, wir fühlen dasselbe. Wir wenden und gehen langsam zurück, als Tamro ihren Vater anruft. Er hat Pluto eingefangen, der unten das Dorf unsicher macht. Tamro meint, er habe lange Zeit Hunde gehabt, Pluto sei bei ihrem Vater prima aufgehoben. Wenn ich wolle, könnten wir den Opa ihrer Freundin besuchen, dann sehe ich noch Hausteile, die von dessen Grossvater stammten. Wow, gern!
Häuser, urururalt
Wir trinken Quellwasser, Tamro zeigt mir den Baum, wo alle DorfbewohnerInnen lustige weisse, dann brombeerfarben werdende Beeren ablesen. Er schaut auf den ersten Blick aus wie eine Linde. Die Früchte sind zuckersüss. Dein Pech, Pluto, denn wie ich später kennenlerne, wird Pluto für solche Beeren zum Abhauer! Der Opa zeigt uns eine Weinamphore, die noch von vor der Zeit der Türken im Boden eingelassen ist. Er hat sie zufällig gefunden beim Bestellen seiner Felder. Dann darf ich Speicher und Haus sehen. Ein urururalter Holztisch, um den herum die Leute am Boden sassen. Das Natursteinfundament des Hauses vom Grossvater des Grossvaters. Alte Hüte, die noch an der Wand hängen. Als sie das Liegebett beiseiteschiebt, kann sie die Tür öffnen, die dahinter liegt, und deutet auf die grossen Fässer, die da stehen. Holt zwei alte Gläser aus dem Gestell neben der Feuerstelle und lässt mich den hauseigenen Wein degustieren. Die Mädchen reden wie Wasserfälle. Krass, wie die Bescheid wissen. Ich bin hin und weg. Tamro meint, ihr Vater habe Pluto ins Auto verfrachtet und hole uns ab, dann könnten wir noch, was immer wir wollten, anschauen gehen.
Pluto freut sich, als wir uns wiedersehen, scheint aber nur mässig beeindruckt von unserem vorübergehenden Getrenntsein. Und so wursteln wir uns in geballter Formation ins kleine, havarierte Auto: die Kinder mit der Hingabe Pluto hinten, ich mit Homer vorne neben ihrem Vater. Höchstes Vergnügen, wie wir da den Berg runterrumpeln. Unten hüpft Tamros Freundin aus dem Wagen, sie geht nun an einem der Stände Leckereien verkaufen, und ich erkläre, dass wir zu allem bereit sind, dass ich keine Ahnung habe, wos hingehen soll. Tamros Vater grinst und meint: Ok, eine Überraschung. Er ist Ingenieur und arbeitet in dem kleinen, wunderschönen alten Wasserkraftwerk, das in Maxunceti liegt. Er zeigt es uns zum Abschluss. Nun aber fahren wir ein paar Kurven die Strasse weiter und er zeigt uns ein Aquädukt, eine Brücke, durch die Wasser fliesst. Kuhler Bau!
Ob die Hunde mitwollten? Die beiden sind etwas aufgeregt von allem, was da grad passiert, aber freudig dabei, und ich meine: Lass es uns ausprobieren. Die Metalltreppe dürfte für Pluto eine Herausforderung sein. Der Vater von Tamro nimmt Pluto, ich Homer an der Leine. Er mag ihn sehr. Und als Homer mit mir voraus die Treppe hochklettert, zieht Pluto einfach nach. Hätte er Hosen an, hätte er sie wohl voll, die Treppe ist echt wild. Aber ich hab grad ein Glücksflash. Schiff überschrieben. Und ungefähr in 3x so heftig! Ein andermal schauen, ob ich jemanden finde, der Pluto mag, und allenfalls mit ihm hinterherkommen probieren würde! Wieder was gelernt.
Nach dem Kraftwerk und der kleinen, unglaublich filigranen, alten geschwungenen Steinbrücke von Maxunceti sind wir alle. Ich geh mit den Hunden heim. Wir schlafen alle eine Runde. Maxunceti: ein winziger Ort voller Leben. Wir blieben einen Moment, und nicht nur, weil Tamro es sich wünscht. Ich lasse mich durchtränken von der Gastfreundschaft und dem schlichten Miteinander hier.
Ruth Wili, Jahrgang 1981, war bis Ende 2016 als Inspizientin am Theater St.Gallen tätig. Anfang 2017 ist sie aufgebrochen zu einer Fussreise von St.Gallen ans Schwarze Meer. Mit dabei: ihr Hund Homer – und, in Bulgarien zugelaufen, Pluto, Hund Nummer zwei. Auf saiten.ch berichtet Ruth Wili von ihren Erfahrungen, inzwischen angekommen im Sehnsuchtsland Georgien.