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Land der Gegensätze
An den diesjährigen Kurzfilmtagen Winterthur steht der Kaukasusstaat Georgien im Fokus: ein Land, in dem prowestliche Orientierung, kritische Positionen und orthodoxe Traditionen aufeinandertreffen.

Filmstill aus «Winter Which Was Not There».
Gastland im Oktober an der Frankfurter Buchmesse, «Land im Fokus» jetzt an den Winterthurer Kurzfilmtagen: Kuratorinnen und Kuratoren im deutschsprachigen Raum scheinen Georgien für sich entdeckt zu haben. Den Kaukasusstaat als «mehrheitlich unerforschte und für Westler scheinbar exotische Gegend» zu bezeichnen, wie im Katalog der Kurzfilmtage geschrieben steht, mutet etwas gar ethnologisch-stereotyp an.
Doch für wen Georgien tatsächlich «terra incognita»ist, der kann einiges entdecken. Und genau dies ist die Absicht von Delphine Jeanneret und Laura Walde, den Kuratorinnen des diesjährigen Länderschwerpunkts: «Als Land im Fokus kommt kein Land infrage, das dem Schweizer Publikum allzu bekannt ist», erklärt Laura Walde, «vielmehr soll es Neuentdeckungen bieten.»
Kurzfilmtage Winterthur: 6. bis 11. November, verschiedene Orte, zahlreiche Gesprächsrunden mit Filmschaffenden.
Und solche gibt das kleine Land zwischen Asien und Europa auf jeden Fall her: Die Kunstszene der Hauptstadt Tiflis boomt, und die Schwarzmeerküste versprüht einen ganz eigenen Charme.
Doch das ist bloss eine Seite des Landes. Wie zeigt sich die politische Dimension des Programms? «Uns interessiert der Innenblick», so Laura Walde, «und dieser ist stets politisch. Die Filmschaffenden befassen sich mit politischem Aktivismus, Kriegstragödien, Machtstrukturen und Traditionen. Zwei Filme etwa greifen das Thema Transsexualität auf – keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem die orthodoxe Kirche derart dominant ist.»
Federico Fellini habe den georgischen Film einst als «seltsames Phänomen» bezeichnet. Er sei «speziell, philosophisch heiter, anspruchsvoll und gleichzeitig kindlich rein und unschuldig. Er hat alles, was mich zum Weinen bringt, und ich sollte erwähnen, dass es nicht leicht ist, mich zum Weinen zu bringen.»
Die erste goldene Ära der georgischen Filmgeschichte, die in den 1950er-Jahren begann und zwei Jahrzehnte andauerte, ist im Programm «Georgian Rebels» vertreten. Es vereint Werke renommierter Regisseure, deren Karrieren in den 1960er-Jahren ihren Anfang nahmen: Giorgi Schengelaia, Otar Iosseliani und Mikheil Kobakhidzé. Letzterer besticht mit dem Film Quolga, («Regenschirm», 1967): Ein Bahnarbeiter und seine Frau leben ein abgeschiedenes Leben, bis eines Tages ein schwebender Regenschirm die harmonische Zweisamkeit des Paares stört … Georgischer Humor mischt sich mit Einflüssen der Nouvelle Vague zu einer poetisch-skurrilen Liebeskomödie.
In den 1990er-Jahren wurden praktisch keine Kurzfilme mehr produziert. Die Sezessionskriege nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 um die abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien bestimmten den Alltag und stürzten das Land in politische Unruhen und Wirtschaftskrisen. 2003 löste die Rosenrevolution prowestliche demokratische und wirtschaftliche Reformen aus. Die Spannungen im Land blieben aber bis heute zahlreich: Junge, westeuropäisch ausgerichtete Städterinnen stehen erzkonservativen Vertretern der orthodoxen Kirche oder älteren Menschen gegenüber, die ihr Leben zu einem grossen Teil in der Sowjetunion verbracht haben. Dazu die vielen Menschen, die bei den bewaffneten Konflikten 1991 und 2008 vertrieben wurden. Bis heute leben sie in provisorischen Unterkünften, sozial schlecht gestellt und mit fragilen Zukunftsaussichten.
All dies spiegelt sich in den Kurzfilmblöcken wieder, die seit der Jahrtausendwende entstandene Werke von – oft weiblichen – Filmschaffenden vereinen. «Impressions of Home» zeigt Spielfilme, die in die Welt von Jugendlichen in unterschiedlichen Familienverhältnissen im urbanen und ländlichen Georgien von heute eintauchen, während «Recording Georgia» auf jüngere gesellschaftliche und politische Ereignisse in Georgien fokussiert – gezeigt werden da auch Filme wie «Prisoner of Society» über eine junge Transfrau, die in Georgien nicht gezeigt werden.