, 8. November 2021
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Die Kellerin

Aus dem Novemberheft: Wer ist die Kellerin? Sie zapft die alten Fässer der Geschichte frisch an, denn sie verabscheut das Abgestandene. von Hildegard E. Keller

In mittelalterlichen Klöstern hatte eine Nonne das Amt der Kellerin, Kellnerin oder Kellererin inne. Das konnte nicht irgendein Nönnlein sein, denn die Kellerin hatte die Schlüssel zu den Vorratskellern, zapfte Weinfässer an und füllte ihren Mitschwestern das Krüglein. Das verantwortungsvolle Amt, in einer Handschrift um 1450 beschrieben, erforderte ein unbestechliches Herz. Solche Erkenntnisse gewann ich auf Expeditionen ins Mittelalter, die mich zur Professur in Amerika führten.

In unserer Bloomingtoner Universitätsbibliothek bestaunte ich sehr oft die Pergamentseiten dieser Handschrift. Es ist das erste erhaltene Pflichtenheft für Frauen, schön illustriert und in süddeutschem Dialekt verfasst. Wie die Handschrift in die USA kam? Durch eine Serie von Zufällen, die spannend sind, doch führen sie vom Amt der Kellerin weg. An der Indiana University war ich Professorin für mittelalterliche Literatur. Wer an die Vorsehung glaubt, behauptet, dass ich als in St.Gallen geborenes, auf den Namen Hildegard getauftes Mädchen dazu prädestiniert gewesen sein muss.

Ich glaube, dass meine Neugier an Kellern mitverantwortlich ist. Für all das, was man in ihnen ver- und manchmal auch entsorgt, hatte ich stets eine treffliche Nase. Schon als Kind stieg ich gern in Keller hinunter, um in die Fülle der Vergangenheit einzutauchen. Manchmal roch es nach saurem Most, nach Militärkleidung oder nach Verpackungskartons von Haushaltsgeräten.

Hildegard E. Keller, 1960, Schriftstellerin und Dozentin für Storytelling an der Universität Zürich, ist Geschäftsführerin der bloomlightproductions.ch. Die in Amerika gegründete Firma ist seit 2017 ein Zürcher Jungunternehmen. hildegardkeller.ch editionmaulhelden.com maulhelden.ch

Tatsächlich zählen Kellergerüche zu meinen frühen Erinnerungen. Der Keller im Häuschen mit der steilsten aller Wendeltreppen, in dem meine Grossmutter Sauerkraut in Steinguttöpfen und Grundbirnen lagerte, die so verschrumpelt wie ihre Hände waren. Der Kohlekeller des Mietshauses, in dem wir wohnten und aufpassen mussten wie Häftlimacher, dass die böse Abwartin uns nicht erwischte. Der Keller im Alleeschulhaus von Wil, wo wir Erstklässler die Griffel spitzen mussten, bis die Schiefertafel ein Jahr später ausrangiert wurde. Der Keller meines Hauses in Amerika, die Wände mit grossen Sandsteinquadern aus den Indiana-Quarries gebaut, war bei Tornado-Alarm überlebenswichtig. Die Keller auf der ganzen Welt gehören zur selben Familie. Sie riechen alle ähnlich.

Ich liebe die Keller von Archiven und Bibliotheken. Besonders gern steige ich zu Gottfried Kellers Nachlass hinunter, der im vielleicht sechsten Kellergeschoss unter der Zürcher Altstadt liegt. In den Schachteln liegen auch Kellers Portemonnaies. In einem sah ich ein winziges Zehnernötli, säuberlich gefaltet, als hätte Keller sein Geld nur in Puppenstuben und Zwergenkneipen ausgegeben. Die Leute von Seldwyla, das ist eine kleine Welt, die Keller erschaffen hat. Noch heute erzählen seine verschrumpelten Figuren so grandios von verpasster Grösse, dass man sich lebhaft ausmalen kann, was für ein Kleinkaff er mit dem Stoff, den er in der aktuellen Schweiz fände, basteln würde. Wie die wahren Meister wächst Keller über seine Zeit hinaus. Er zeigt, dass der Keller der Geschichte ein fantastisches Labor ist.

Und schon ist der Keller eine Metapher geworden, schliesslich ist ein Dichter ins Spiel gekommen. Brückenschläge machen das dichterische Denken aus, hatte Hannah Arendt gesagt. Dieser Keller der Geschichte ist ein Bild, das beim Denken hilft. Warum verschwinden die einen im Dunkel, während andere im Bewusstsein und präsent sind, mehr als zu Lebzeiten? Bei meinen Grabungen, die ich seit rund 30 Jahren mache, habe ich viele gefunden, die ans Licht zurückwollen. Nur wir Lebenden können ihnen die Chance geben, dass sie uns begegnen.

In Amerika outete ich mich als Künstlerin. Seither grabe ich freier. Früher oder später, so glaube ich aus Erfahrung, drängt etwas Ureigenes aus dem Verborgenen ans Licht. Die eigene Farbe will ins Hier und Jetzt.

Unter Staub und Schutt fand ich Juwelen wie die aus dem Tessin stammende argentinische Schriftstellerin Alfonsina Storni, deren Werkausgabe ich in der Edition Maulhelden erstmals ins Deutsche übersetzt habe. Und auch bei der Intellektuellen Hannah Arendt hält man das, was im grellen Licht der Öffentlichkeit steht, schon für die ganze Arendt, dabei blieben relevante Kräfte in ihrem Wesen und Werk praktisch unbeachtet. Im Roman Was wir scheinen bin ich mit ihr ins Dunkel hinabgestiegen, in aller Freiheit der Fantasie, die das narrative Auffrischen einer Geschichte unterstützt.

Im Keller der Geschichte konnte ich Schätze finden, zuerst als Wissenschaftlerin und heute mehr als Künstlerin. Diese Arbeit hat eine politische Dimension. Es ist ja kein Zufall, wer oder was (und auch, was von wem) vergessen geht. Dazu gehören Künstlerinnen und Denkerinnen, deren Dichten, Denken und Handeln in ihrer Zeit weder wünsch- noch denkbar waren. Aber das ist ein eigenes Thema, ebenso spannend wie die Frage, was geschieht, wenn man im Keller der Geschichte Fässer anzapft, deren Existenz man vergessen wollte, und den Trank als neuen Wein in neuen Krügen serviert. Ich zapfe gern alte Fässer frisch an. Ich bin durch und durch Kellerin der Geschichte und verabscheue das Abgestandene.

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