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«Der Brief, der mein Leben verändert»
Hêjas Asylgesuch wurde abgewiesen, der Rekurs läuft. Sein politisches Engagement für Freiheit, Demokratie, Frauenrechte und die Sache der Kurd:innen verfolgt ihn bis in die Schweiz.

«Der türkische Staat ist auf Brutalität gebaut, ich wollte nicht ins Gefängnis», sagt Hêja. (Bilder: Sangmo)
«Ich beobachte oft die Menschen, wie sie morgens zum Briefkasten gehen», sagt Hêja*. «Sie holen die Zeitung, gucken nach, ob sie eine Rechnung erhalten haben oder ob das bestellte Paket schon angekommen ist. Keine grosse Sache. Für mich und auch für andere geflüchtete Menschen hat der Briefkasten eine ganz andere Bedeutung. In unseren Augen flackert jeden Morgen Hoffnung. Es könnte etwas darin sein, das unser Leben ändert. Vielleicht schreibe ich eines Tages ein Buch über meine Briefkastenbeobachtungen.»
Er lacht zwar, wenn er das sagt, aber bis jetzt blieb sein Briefkasten leer. Hêja wartet seit über einem Jahr auf diesen einen Brief, der hoffentlich sein Leben verändert. Seit einigen Monaten lebt er zusammen mit zwei anderen jungen Asylsuchenden in einer Wohngemeinschaft im Ausserrhodischen. Alle drei warten auf Post vom Migrationsamt.
Hêja, 27, ist Kurde aus der Türkei und seit knapp zwei Jahren in der Schweiz. Er hat einem Schlepper Geld gezahlt, damit er ihm ein Touristenvisum organisiert. Dann ist er mit dem Flugzeug nach Frankreich geflogen und von dort aus in die Schweiz weitergereist, wo er ein Asylgesuch gestellt hat. Zuerst wurde er nach Basel-Stadt überwiesen. In sechs Monaten hat er dort sieben verschiedene Asylunterkünfte von innen gesehen. Und eine Strafe kassiert, weil er an einer 1. Mai-Demo teilgenommen hat. Die Busse dafür ist er bis heute am Abstottern.
Seit etwa einem Jahr ist Hêja in der Ostschweiz, zuerst war er im mittlerweile geschlossenen Asylzentrum Landegg, danach ging er ins «neue» Zentrum Sonnenblick ob Walzenhausen. Nur wenige Wochen nach dessen Eröffnung im Februar 2021 haben rund 20 Aktivist:innen aus St.Gallen und Basel eine Demo dort organisiert, weil es wiederholt zu Suizidversuchen von Asylsuchenden gekommen ist aufgrund der Zustände im Zentrum. Auch Hêja hat demonstriert, er hat kaum gute Erinnerungen an Walzenhausen. «Es war eine schwierige Zeit», sagt er. «Ich bin froh, dass ich in der WG jetzt ein halbwegs selbständiges Leben führen kann.»
«Der türkische Staat ist auf Brutalität gebaut»
Hêja ist in Şırnak nahe der irakischen Grenze geboren und in Istanbul aufgewachsen. «Dort hatte ich ein bewegtes, sehr vielseitiges Leben», erzählt er. «Uni, Arbeit, Politik, Kultur und Partys haben sich abgewechselt. Im Studium habe ich mich vor allem auf die Fächer Mathe und Physik konzentriert, in meiner Freizeit habe ich mich mit meinen Freund:innen politisch engagiert. Wir waren oft auf Demos und Protesten, in der Hoffnung, etwas im Land zu bewirken»
Seine Flucht hatte politische Gründe. Hêja beschreibt es so: «Stell dir vor, du bist jung, du studierst in der türkischen Hauptstadt, hast politische Ideale, glaubst an Demokratie und Gerechtigkeit. Und irgendwann stellst du fest, dass das türkische Regime überhaupt nichts mit diesen demokratischen Werten am Hut hat. Deine Kultur wird unterdrückt, die kurdische Sprache verboten. 2011 beim Roboski-Massaker in meiner Heimat Şırnak wurden 34 kurdische Zivilist:innen getötet. Ich habe gegen die türkische Regierung und ihre faschistische Politik protestiert, weil sie meine Freund:innen bombardiert hat, dafür wurde ich verhaftet und vier Monate lang im Gefängnis gefoltert. Ich habe mich für Frauenrechte, Menschenrechte und die kurdische Sache eingesetzt. Und dann wirst du wegen deinem politischen Engagement festgenommen, gefoltert und verurteilt. Der türkische Staat ist auf Brutalität gebaut. Egal, was du versuchst, du kannst nicht auf einem legalen Weg für deine und die Rechte anderer kämpfen. Ich war 25 und wollte nicht ins Gefängnis. Im Gefängnis kann ich nicht kämpfen, draussen schon. Meine Freunde, die im selben Prozess wie ich verurteilt wurden, haben sieben Jahre bekommen. Wäre ich dortgeblieben, wäre es mir gleich ergangen. Ich konnte zwar mein Leben retten, aber ich denke oft an meine Freunde.»
Die Situation in der Türkei und den kurdischen Gebieten in Syrien und dem Irak ist seit Jahren desolat. Unzählige Aktivist:innen, Intellektuelle, Politiker:innen, Kulturschaffende und Jurist:innen sitzen, zum Teil ohne Anklage, in Haft. Es gibt Berichte von Angriffen mit türkischen Chemiewaffen auf kurdische Gebiete, so auch im Oktober 2021 (mehr dazu hier), und immer wieder bombardiert die türkische Luftwaffe die autonomen Gebiete um Kurdistan und Rojava. Während die Ukraine im weltweiten Fokus steht, startete Ankara eine neuerliche Offensive gegen die Kurd:innen in Nordirak.
«Auch wenn ich nicht mehr in der Türkei bin, werde ich weiter gegen diese Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit kämpfen», sagt Hêja bestimmt. Er würde sich wünschen, dass die westlichen Länder Erdoğan und seine Politik genauso sanktionieren, wie sie es im Moment mit Russland tun. «Dann wäre die Situation vielleicht eine andere.» Für ihn ist klar: «Der Westen hat auch seinen Teil zur faschistischen Politik Erdoğans beigetragen. Amerika toleriert die Ungerechtigkeit des türkischen Staats gegenüber Andersdenkenden seit Jahren – aus purem Eigeninteresse. Aber Schweigen ist auch eine politische Position. Wer schweigt, akzeptiert.»
«Ich war psychisch am Ende»
Von den türkischen Behörden kann er, wenig überraschend, keine Hilfe erwarten, auch wenn deren Kooperationsbereitschaft ihm hier in der Schweiz einiges erleichtern würde. Hêjas Asylgesuch wurde vor eineinhalb Jahren abgelehnt mit der Begründung, dass seine Aussagen widersprüchlich seien. «Die Bedingungen in der Einvernahme waren sehr unangenehm», erinnert er sich. «Ich war nervös, psychisch am Ende. Ich konnte mich nicht richtig ausdrücken und formulieren, was mit mir passiert war.»
Es gebe zwar Prozessakten bei der türkischen Justiz, sagt er, aber diese seien unter Verschluss. «Die türkischen Behörden wollen die Dokumente nicht herausgeben. Und die Schweizer Behörden wiederum glauben mir nicht, dass ich in der Türkei wegen meiner politischen Aktivitäten aktenkundig bin. Es ist ein Teufelskreis.» Mithilfe einer HEKS-Rechtsberaterin hat Hêja Beschwerde gegen den Negativentscheid eingelegt, das war vor eineinhalb Jahren. Seither leert er jeden Morgen den Briefkasten in der Hoffnung auf einen positiven Bescheid.
Ausschaffung ist kein Thema, solange der Rekurs noch läuft. In der Zwischenzeit versucht sich Hêja so gut es geht in der Ostschweiz einzuleben. Zum Leben bekommt er rund 350 Franken pro Monat von der Gemeinde. Er würde gerne weiterstudieren, «Mathe und Physik, am liebsten an der ETH», doch das ist schwierig, solange sein Aufenthaltsstatus ungeklärt ist. Stattdessen behilft er sich mit YouTube-Videos und Bibliotheksbesuchen.
Warten mit Nietzsche
Es gebe einen Haufen guter YouTube-Kanäle zum Deutsch lernen, erklärt Hêja und strahlt. «Mal geht es um Kultur, dann um Politik, dann wieder um Geschichte – alles sehr interessant und auf Einsteigerniveau. Dabei bin ich auch schon über lustige kulturelle Unterschiede gestolpert: Ich wusste zum Beispiel bis vor Kurzem nicht, dass es Unglück bringt, wenn man jemandem zu früh zum Geburtstag gratuliert.»
Jeden Abend geht er mit Deutsch-YouTube im Ohr ins Bett und am Morgen steht er damit wieder auf. «Nachdem ich beim Briefkasten war, mache ich mir Frühstück und dann geht es in den Deutschkurs, täglich eineinhalb Stunden.» Die Nachmittage verbringt Hêja gerne in der Bibliothek. Dass er dort manchmal misstrauisch beäugt oder sogar weggescheucht wird, wenn er jemanden um Hilfe bittet, stört ihn mittlerweile nicht mehr. «Ich unterstelle niemandem Rassismus. Vielleicht war die Person einfach gerade mit eigenen Dingen beschäftigt. Und ich erlebe auch immer wieder schöne Begegnungen in der Bibliothek.»
Schon als Jugendlicher war er fasziniert von Literatur und insbesondere von den deutschen Philosophen. «Leider verhindert die Sprachbarriere den Zugang zu schönen Dingen», sagt Hêja. «Ich würde so gerne gewisse Bücher in der Originalsprache lesen. Und Nietzsche! Ich liebe Nietzsche, diesen verrückten Mann.» Er würde sich gerne intensiver mit europäischer Literatur, Kunst und Geschichte auseinandersetzen, vielleicht eines Tages ein Buch schreiben – «nicht nur über Briefkästen».
Überraschung zu Newroz
Am Wochenende macht Hêja Dinge, die viele 27-jährige tun. Er trifft Freund:innen, spielt Theater, macht Spaziergänge. Zu Newroz, dem Neujahrsfest am 20. März, hat er die kurdische Community in Fribourg besucht – und fiel fast vom Hocker, als er da zufällig einen jungen Mann traf, mit dem er als Kind in der Türkei oft gespielt hatte. «Für einen kurzen Moment habe ich vergessen, dass ich geflüchtet und in der Schweiz bin. Das war ein ganz neues Gefühl.»
Die kurdische Gemeinschaft ist ihm wichtig, gerade auch weil sie in der Türkei so bedroht ist. Es tue gut, sich in der Muttersprache zu unterhalten, gemeinsam Witze zu machen, zusammen zu essen, sagt Hêja. «Vor allem, wenn man in einem fremden Land ist, gibt einem das Kraft und Hoffnung. Was nicht heisst, dass ich nicht gerne in der Schweiz bin. Ein schönes Land, auch wenn ich aufgrund meiner psychischen Verfassung erst langsam in der Lage bin, es wirklich zu betrachten. Ich hoffe sehr, dass ich hierbleiben und mein Leben endlich selber in die Hand nehmen darf.»
*Name der Redaktion bekannt