, 15. August 2022
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Würde, Würde, Feedbackbürde

Sobald unsere Kolumnistin Anna Rosenwasser über das Thema Kritik nachzudenken versucht, grätscht irgendein Rolf rein und schreit: «Cancel Culture!». Dabei geht es eigentlich um etwas anderes.

Ich finds schwierig, über das Thema Kritik nachzudenken. Wie wir kritisieren und wie wir mit Kritik umgehen. Sobald ich darüber nachzudenken versuche, grätscht irgendein Rolf rein und schreit: «Cancel Culture!». Dabei geht es mir nicht darum. Sondern um die Frage: Wie kritisieren wir einander?

Es wäre jetzt mega einfach zu sagen: Fair kritisieren ist wichtig. Respektvoll. Konstruktiv. Als wäre Kritik ein Haus, das man konstruiert, mit solidem Fundament und sorgfältig aufgestellten, stützenden Säulen. Konstruktiv! Und ich weiss, ich klinge jetzt ein bisschen wie ein Arsch, aber: konstruktive Kritik, njä.

Klar würden wir in einer idealen Welt alle sehr konstruktiv kritisieren. Dann würde die Kritik angenommen, das Problem würde behoben und alle würden sich gern haben. Würde, Würde, Feedbackbürde. Denn was ist, wenn die Empfängerinnen der Kritik schon ewig nichts unternommen haben, wenn man sie nett darum bittet? Was ist, wenn der Urheber des Problems seit Jahren abfuckt in dem, was er tut, ohne Verantwortung zu übernehmen? Was ist, wenn wir unser Haus nicht auf einer ebenbürdigen Wiese bauen, sondern auf einem chaotischen Misthaufen? Würde, Würde, Ebenbürde.

Anna Rosenwasser, 1990, wohnt in Zürich und ist freischaffende Journalistin. (Illustration: Lukas Schneeberger)

Wenn wir über Kritik reden, gehen wir oft von einer gewissen Zeitlosigkeit aus: als hätte es nie ein Davor gegeben, also keine Zeit, in der ein Misthaufen angehäuft wurde. Wenn ein Mensch dir Unrecht angetan hat, du ihn dafür kritisierst und er seinen Fehler einsieht und sich seither verbessert hat, wird deine nächste Kritik an ihn wohl geduldiger und konstruktiver ausfallen, als wenn er dir immer wieder wehgetan und einen Scheiss auf deine Rückmeldung gegeben hat. Das macht wütend, und dann kritisiert man eben wütend.

Einen grossen Teil meines Lebens habe ich Wut falsch verstanden. Ich dachte, sie sei ein unliebsames Gefühl, das einen an gescheitem Handeln hindert. Heute sehe ich Wut anders: Wut ist dazu da, aufzuzeigen, wann eine Grenze überschritten worden ist. Und sie gibt einem die Energie, sich dagegen zu wehren. Wütende Kritik zu erhalten, kann auch heissen: Die Person fühlte sich bisher nicht genug gehört. Sie hat wahrscheinlich schon unzählige Male versucht, sich zu wehren, und nie ist was passiert. Geduld ist ein Privileg: Ich habe die Energie, geduldig Kritik an Demütigungen zu äussern, wenn ich nicht jeden Tag selbst gedemütigt werde.

Vor einer längeren Zeit hat mich mal ein Mitmensch für mein Handeln kritisiert. Der Inhalt der Kritik war berechtigt, aber der Ton war mega, mega wütend. How dare you, so mit mir zu reden, dachte ich und sagte ihr das auch. Ich fands so daneben, in welchem Ton dieser Mensch mit mir redete. Erst ein, zwei Jahre später habe ich gecheckt: Den Ton meines Gegenübers zu massregeln, war für mich eine willkommene Ablenkung davon, dass ich für meinen Fehler hätte Verantwortung übernehmen müssen.

Letztens entschuldigte ich mich bei dieser Person, viel zu spät. Aber ich glaube, eine späte Entschuldigung ist besser als keine. Kritik hat eben nicht nur eine Vergangenheit. Sondern idealerweise auch eine Zukunft. Irgendwie müssen wir ja dafür sorgen, dass wieder eine solide Wiese entstehen kann.

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