, 3. August 2018
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Ein Apfel voller Zeit

45 Minuten Fliessbandvirtuosität zur Frage, wieviel Erlebnis in 15 Sekunden passt: Das bietet das phänomenale Strassentheater «15 Sekunden» der Compagnie Trottvoir bis Sonntag auf dem St.Galler Gallusplatz.

Auf dem Gallusplatz steht ein Laufband. Schlichte Bühnenbilder versprechen meistens komplexe Inhalte. Am Anfang passiert nichts, ausser dass das Band in gleichmässiger Geschwindigkeit durchläuft. Dann wird ein kleiner Betonwürfel von links nach rechts bewegt. Es dauert 15 Sekunden und 14 Meter, bis er auf der anderen Seite ankommt und verschwindet. Danach passiert wieder kurz nichts, gefolgt von einem Ei, einem Apfel, grösseren Betonwürfeln und Musik.

Schon die ersten Minuten des Stücks 15 Sekunden der Compagnie Trottvoir präsentieren sämtliche physikalischen und philosophischen Rätsel der Welt in poetischer Reduktion. Deren Lösung hebt man sich am besten für den Nachhauseweg und die nächsten Tage auf, denn Zeit zur Analyse bleibt in 15 Sekunden nicht. Zwar bleibt die Laufbandgeschwindigkeit konstant, nicht aber die der darauf stattfindenden Performance.

Es werden Papierflieger gebaut, das Ei gebraten, Einladungen und Absagen verteilt, das Ei gegessen, Anekdoten erzählt und in Highspeedstakkato laute Fragen und Gedanken zum Zeitgeist collagiert. Das Grundthema, das den ganzen 45 Minuten Strassenperformance zugrunde liegt, ist so einfach wie riesig: Es geht um Zeit. Um einen Apfel voller Zeit, einen Knochen voller Zeit, Menschen voller Zeit und Zeitspartipps voller Zeit. Es geht darum, wieviel davon man wofür braucht (die Antwort ist immer 15 Sekunden) und in was für einer Zeit wir leben.

Staunen, Lachen, Rührung

Die Lösung aller Zeitfragen ist als Inszenierung mindestens so vielfältig wie die Auswahl an Ratgebern zu Achtsamkeit und Zeiteffizienz, die in jeder grossen Buchhandlung darauf warten, von gestressten Lesern ausgeräumt und paradoxerweise gegen Zeit (und Geld) getauscht zu werden.

Compagnie Trottvoir: 15 Sekunden.
Weitere Aufführungen auf dem Gallusplatz St.Gallen:
3. und 5. August, jeweils 16 und 20 Uhr

trottvoir.ch

Man merkt schnell, dass die Compagnie künstlerisch breit aufgestellt ist. Theater, Zirkus, Musik, gesellschaftspolitische Reflexionen und skurriler Humor werden zu einer eigenen neuen Sprache verdichtet. Dabei wird die Kurzlebigkeit der einzelnen Auftritte niemals langweilig oder trivial. So geschmeidig wie die Themen übers Laufband choreografiert werden, verschiebt sich auch die kollektive Publikumsreaktion. Staunen, Lachen, Lächeln, Betroffenheit und Rührung.

Das schafft das Stück vor allem deshalb, weil es durchgehend authentisch bleibt. Es sind keine übernommenen Texte und Rollen, die neu eingefärbt werden, sondern von Grund auf aus eigenen Erfahrungen und Ansprüchen gebaute Szenen. Und das spürt man die ganzen 45 Minuten lang.

Plädoyer für die Strasse

2012 hat das Kollektiv mit seinem ersten Stück La Valise Plätze in Frankreich, Italien, Slowenien, Kroatien und Bosnien bespielt. Seitdem entstanden mehrere Stücke, die jeweils im Sommer auf öffentlichen Plätzen in der Schweiz aufgeführt wurden. Die Strasse bietet viele Vorteile als Bühne: Sie ermöglicht statusunabhängig allen Menschen Zugang zur Kunst und belebt den an manchen Stellen vorübergehend eingeschlafenen bis komatös-verkapitalisierten öffentlichen Raum.

Ausserdem ist es der Compagnie Trottvoir ein Anliegen, auf die in der Schweiz noch junge Kunstsparte «zeitgenössischer Zirkus» aufmerksam zu machen und sie mitzugestalten. Ein weiterer Grund für Aussenaufführungen ist die Risiko-Atmosphäre durch spontan partizipierende Kirchenglocken, Hunde, Babys und Wetterwechsel.

So vielfältig wie die Darstellungsformen sind auch die Lebensläufe der beteiligten Artistinnen und Artisten: Theaterpädagogik, Soziale Arbeit, Fakirkunst, Grafik, Film, Schlagzeug, Schauspiel, Akrobatik und Milchtechnologie. Drei von ihnen studieren an der Academy for Circus and Performance Art in Tilburg, Niederlande. Kennengelernt haben sie sich nicht alle gleichzeitig, aber nach und nach aus logischen Gründen der Wegverzweigungen durch Leidenschaft für Bühne, Strasse und Ausdruckkunst. 15 Sekunden ist in kollektiver Zusammenarbeit mit der Regisseurin Caroline Schenk entstanden.

 

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