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Es ging ums tägliche Überleben
Lotti Stauber kennt man als langjährige, engagierte Sozialarbeiterin in Herisau und im Appenzeller Hinterland. Weniger bekannt ist: In der Endphase des Algerienkriegs wirkte sie von 1959 bis 1962 im Auftrag der französischen Hilfsorganisation La Cimade südlich von Algier. Gabriele Barbey hat die über 90-Jährige zu mehreren Gesprächen getroffen und ihr «Tagebuch aus Algerien» gelesen.

Schülerinnen vor Lotti Staubers Wohnbaracke in Sidi Nâamane. (Bild: Lotti Stauber, nach 1960)
«Winziges kann man bewirken, immerhin. Aber als Einzelperson ist man machtlos, das habe ich gesehen», sagt Lotti Stauber, gut 90-jährig, in ihrer hellen, gemütlichen Dachwohnung in Herisau. Ja, sie habe wohl das berühmte Helfersyndrom verspürt, wollte für Menschen tätig sein und habe deshalb sehr motiviert die Schule für Soziale Arbeit SSAZ in Zürich besucht. Die SSAZ war um 1950 gerade neu organisiert, am Puls der Zeit und eine Institution, in deren Umfeld Stauber in Kontakt kam mit Frauen, die sich hartnäckig für das Frauenstimmrecht auf Bundesebene einsetzten und die sie zu ihrer Abschlussarbeit anregten und berieten.
Diese Diplomarbeit, heute noch in den grössten Bibliotheken der Deutschschweiz ausleihbar, trägt den Titel Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit – notabene eingereicht im Dezember 1953 und nach wie vor aktuell. Von Staubers Tätigkeiten in der Schweiz soll hier aber nicht weiter die Rede sein. Im Gespräch führt sie uns nach Algerien, und zwar in die Zeit zwischen 1959 und 1962, in die Schlussphase des Algerienkriegs.
Nach Algerien, ausgerechnet!
Wie kam eine 31-jährige Schaffhauserin 1959 dazu, freiwillig in ein Land im Krieg zu reisen? In ein nordafrikanisches Land, das seit 1830 von Frankreich kolonialisiert worden war, mit einer mehrheitlich aus Europa stammenden Bevölkerung in den Städten im Norden, die zunehmend das Land verliess, neben einer dünnen algerischen Oberschicht, die sich gut im kolonialen System eingerichtet hatte – und einer im Laufe des Kolonialismus enteigneten und in den 1950er- Jahren umgesiedelten Landbevölkerung arabischen und berberischen Ursprungs. Anfang der 1960er-Jahre waren 85 bis 95 Prozent der algerischen Bevölkerung Analphabeten. Zu dieser Zeit habe sich die breite Schweizer Öffentlichkeit, so Stauber, wenig für Algerien interessiert, dies sei natürlich in Frankreich ganz anders gewesen.
Schon als sehr junge Frau, als sie noch in ihrer Heimatstadt Schaffhausen im kaufmännischen Bereich tätig war, verbrachte Stauber ihre Ferien in Aufbaulagern des Weltkirchenrats in Frankreich. Dort kam sie auch in Kontakt mit La Cimade, einem französischen evangelischen Hilfswerk, das 1939 von Frauen gegründet worden war, um jüdische Kinder über die Grenze bei Genf zu bringen. Stauber wurde also 1958 gefragt, ob sie nicht in Algerien arbeiten würde. Doch, ja! Aber zuerst brauchte sie ihren Pass. Ihre Familie nämlich wollte sie, die Unabhängige, Hartnäckige, nicht nach Algerien ziehen lassen, der Bruder versteckte sogar ihren Pass. Da habe sie mit der Polizei gedroht, das wirkte!
Zuerst musste sie in Paris beweisen, wie belastbar sie war: Sie wurde in einem arabischen Quartier eingesetzt, arbeitete in einem Altkleiderlager, gab Kurse für Erwachsene, vor allem Männer, lernte während mehreren Monaten die schwierigen Lebensverhältnisse der Menschen aus Nordafrika kennen, die vermehrt seit den 1950er-Jahren aus wirtschaftlichen und politischen Gründen ins «Mutterland» Frankreich emigrierten.
In Marseille bestieg Lotti Stauber 1959 das Schiff, mit einem Liegestuhlplatz auf Deck reiste sie nach Algier, 20 Stunden über das Mittelmeer, in ein Land, wo einer der vielen blutigen Kolonialkonflikte nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte. Juristisch war Algerien allerdings keine Kolonie, sondern ein Teil des französischen «Mutterlandes», eingeteilt in die drei Departemente Oran, Algier, Constantine. In Algier durfte Stauber für ein paar Tage in der Villa eines der Cimade wohlgesinnten Professorenpaares wohnen – es war ein gediegener Anfang; dann kam die raue Realität.
Die lebendigsten Erinnerungen hat Stauber an Sidi Nâamane. Es war 1960 eines der vielen Regruppierungsdörfer in dieser Gegend, etwa 150 Kilometer südlich von Algier. Solche «villages de regroupement» waren eigentliche Flüchtlingsdörfer, wohin die französische Kolonialmacht in den 1950er-Jahren etwa zwei Millionen Menschen der algerischen Landbevölkerung zwangsumsiedelte – zwecks besserer Überwachung und um sie als Zufluchtsorte für die algerischen Widerstandskämpfer unbrauchbar zu machen, wie auch Stauber in ihrem Tagebuch am 13. Januar 1962 schrieb.
Arbeit in Nordafrika – auch bei Schneefall und eisigem Wind
«Im Deux-Chevaux von Marguerite sind wir nach Sidi Nâamane hinaufgefahren», erzählt Stauber, die in Algerien auch Charlotte genannt wurde. Zusammen mit der etwa 40-jährigen Krankenschwester aus Bordeaux wurde sie von La Cimade dorthin geschickt. Die Lage des Orts auf etwa 700 Metern über Meer empfand sie als angenehm, auch weil es lichten Wald hatte.
In dieser Siedlung betrieben die beiden Frauen während etwa eineinhalb Jahren als sogenannte Équipières der Cimade eine Hilfsstation: Sie pflegten Kranke, gaben Schule, betreuten Frauen, leisteten pflegerische, erzieherische und ökonomische Hilfe. Denn nur so könne in einem Entwicklungsland wirklich geholfen werden; davon war Stauber überzeugt und hielt diesen Grundsatz auch in ihrem Tagebuch fest. Unterstützt wurden sie von einem arabischen Pfleger, einem Militärarzt und später auch von einem amerikanischen Kriegsdienstverweigerer, einem sogenannten Paxboy.

Picknick in Médéa. Lotti Stauber (2. von rechts) im Kreis anderer Cimade-Mitarbeiterinnen, um 1962. (Fotografin unbekannt)
Gegen Ende des Kriegs – die Niederlage der Franzosen war absehbar, das französische Militär hatte sich teilweise bereits zurückgezogen – ging das Cimade-Team aber auch in die verstreuten Häuser in der gebirgigen Umgebung. Sie verteilten Nahrung, leisteten Erste Hilfe, nahmen schwer Kranke auf die Station mit oder versuchten, schlimme Fälle in einem Militärspital unterzubringen – was nur dank Marguerites Hartnäckigkeit gelungen sei.
Die Umstände schilderte Stauber am 13. Januar 1962 in ihrem Tagebuch so: «Wir fahren mit einem voll beladenen Camion hinauf. Es schneit ununterbrochen und ein eisiger Wind weht über den Grat. Wir können nicht bis an die Lehmhütten heranfahren, sondern müssen unsere Säcke auf Maulesel laden, die mühsam durch den knietiefen Schmutz waten.»
Mädchen- und Frauenleben in Sidi Nâamane
So lebten Lotti-Charlotte und Marguerite im Dorf Sidi Nâamane: Sie wohnten in zwei Baracken, hatten fliessendes Wasser, Butan- Gas, einen mit Benzin betriebenen Kühlschrank, Schlaf-Pritschen und Latrinen hinter den Büschen.
Staubers Aufgabe war vor allem sozialpädagogischer Art: Sie beschäftigte die Mädchen zwischen acht und zwölf Jahren, die im Gegensatz zu den Buben nicht zur Schule gehen durften. Ja, es kam vor, dass die Buben Steine warfen gegen die Baracke, in denen Lehrerin Stauber sich mit den Mädchen aufhielt. Sie gab den arabisch sprechenden Mädchen Französischunterricht, selber versuchte sie Arabisch zu lernen, habe es aber wieder aufgegeben. Nachmittags ging sie mit den Mädchen spazieren, machte Handarbeiten. Wolle und Stoffe brachte sie aus der Schweiz mit; die Cimade zahlte den Équipières einen Flug in die Heimat für kurze Ferien, denn schliesslich machten sich die Angehörigen in Europa Sorgen. So erinnert sich Stauber, dass ihre Mutter in Schaffhausen Handarbeitsmaterial für die algerischen Mädchen gesammelt hatte, das ihre Tochter dann auf dem Rückflug nach Algerien mitnahm.
Die Mädchen in Sidi Nâamane durften auf der Station duschen, das war revolutionär! Und es zeigte sich, dass die Familien, deren Mädchen ein wenig lesen und rechnen konnten, höhere Brautpreise – in Form von Schafen, Ziegen, etwas Geld – erzielten als die ungebildeten. Sobald sie 13- oder 14-jährig waren, wurden die Mädchen verheiratet. Dazu notierte Stauber in ihrem Tagebuch vom 15. Februar 1962: «Dann beginnt das Leben einer Sklavin: Eingeschlossen in ihre vier Wände bereitet sie nach uralter Weise das Brot und den Couscous und bringt so viele Kinder als möglich zur Welt. Sie darf das Haus nur mit Erlaubnis ihres Mannes und verschleiert verlassen.»
Kollegin Marguerite webte, neben ihrer Arbeit als Krankenschwester, mit den algerischen Frauen an drei Webstühlen. Die entstandenen Arbeiten waren für den Verkauf in Paris gedacht.
«Was sich bewegt, wird beschossen» – das hatte das in Sidi Nâamane stationierte französische Militär den Équipières der Cimade klar gemacht, die in nur 200 Metern Entfernung in Wohnbaracken lebten. Das Militär überwachte das Dorf samt Umgebung; nachts wurde alles mit Scheinwerfern abgeleuchtet. Charlotte und Marguerite, «als einzige Europäerinnen in einem muselmanischen Dorf» (Tagebuch vom 24. Februar), sollten Auffälliges auf dem Posten melden und wurden im Gegenzug protegiert. Der Militärposten war auch der einzige Ort, wo sie telefonieren konnten. Ausserdem schrieb man ihnen vor, dass sie sich immer in einen militärischen Konvoi einzureihen hätten, wenn sie im 2CV oder im Kastenwagen der Cimade unterwegs waren.
Daran hielten sich Marguerite und Charlotte jedoch nicht. Sie leisteten sich eine gewisse Entscheidungsfreiheit. «Nein, als Frauen sind wir nie belästigt worden, nie», sagt Stauber dezidiert auf eine entsprechende Frage im Gespräch. Aber die Beziehung zum französischen Militär sei kühl gewesen, vor allem nachdem Marguerite auf ihrer Pflegestation verräterische «Torturen», Spuren von Folter, an der algerischen Bevölkerung zu sehen bekommen hatte. Und die Zeit der französischen Kolonisation war absehbar. Angesichts eines zarten, noch kriegsunerfahrenen Leutnants fragte sich Stauber in ihrem Tagebuch am 3. Februar 1962: «Ist es unsere Aufgabe, ihm klar zu machen, dass der Krieg bereits entschieden ist?»
Die beiden Équipières halten die Stellung – bis nach der Unabhängigkeitserklärung
Am 24. Februar 1962 teilte man den Cimade-Frauen mit, dass die französischen Truppen aus der Region abziehen würden; dort lebende Europäer wurden aufgefordert, mit ihnen die Gegend zu verlassen. Stauber notierte gleichentags: «Solange die Bevölkerung unser bedarf, sehen wir keinen Grund wegzugehen.»
In Algier spitzte sich die Situation weiter zu, Stauber erwähnt im Tagebuch vom 27. Februar die Organisation de l’armée secrète OAS, eine französische Terrororganisation der ultrarechten Militärs, die bedingungslos und mit brutaler Gewalt an Algerien als Teil Frankreichs festhielt: «Das Sekretariat der Cimade in Algier wurde durch die OAS bedroht und musste geschlossen werden. Die Post funktioniert nicht mehr, die Telephonlinien sind zerstört.» Auch wenn die beiden Frauen sich nun doch auf verlorenem Posten fühlten, blieben sie. Auf politischem Parkett unterzeichneten am 18. März 1962 die Delegationen von Frankreich auf der einen Seite und des Front de libération nationale FLN auf der anderen Seite die Verträge von Évian, die Grundlage r ein unabhängiges Algerien.
«Ende Feuer! Aber statt Freude lebt der Terror im Dorf», notierte Stauber in Sidi Nâamane tags darauf, als der Waffenstillstand verkündet wurde. In der folgenden Nacht klopften zwei Offziere der Armée de libération nationale ALN (der bewaffnete Arm des FLN) an die Barackentüren von Marguerite und Charlotte und baten die beiden, ihre Arbeit zugunsten der Bevölkerung weiterzuführen. Dies wurde aber ab Anfang Mai zunehmend schwieriger, die Abrechnung der neuen Machthaber mit den Kollaborateuren, all jenen, die mit Frankreich zusammengearbeitet hatten, war im Gange.
Die Machtübernahme durch den FLN geschah keineswegs naht- und gewaltlos. Am 1. Juli 1962 bestätigten die Algerier und Algerierinnen die Unabhängigkeit von Frankreich, mit über 90 Prozent der Stimmen. Stauber erlebte, wie den Frauen die fertig verpackten Oui-Zettel übergeben wurden und kommentierte diese Beobachtung in ihrem Tagebuch so: «Sie hatten das Kuvert nur noch in die Urne fallen zu lassen. Gleichberechtigung? Wunderbar. Aber vielleicht auf etwas andere Weise!»
Letzte Lichtblicke in der Kasbah von Algier
Schockiert sahen die Cimade-Frauen eines Morgens, dass in die Schulhausbaracke eingebrochen worden war. Alles war gestohlen. Stauber weinte mit den Mädchen – die danach verschwanden und nicht mehr auftauchten. Es wurde klar: Die Zeit der Cimade-Équipe in Sidi Nâamane war abgelaufen. Marguerite ging auf Heimaturlaub und Stauber in ein neues Cimade-Engagement in der Stadt Médéa, auf fast 1000 Metern über Meer. Es war noch nicht ihre letzte Station in Algerien; aber gegen Ende Jahr spürte sie dann doch Heimweh in dieser wirren Übergangszeit, in der sich trotz der erlangten Unabhängigkeit nichts zum Guten zu wenden schien.
Bevor Stauber beschloss, in die Schweiz zurückzukehren, blieb ihr noch Zeit für nicht ganz ungefährliche Abstecher in die Altstadt, die Kasbah von Algier. Sie erinnert sich gerne an Besuche bei Trödlern, sie waren ein Lichtblick. So hatte sie dort eine Geige kaufen können und in der Stadt Blida, einer ihrer weiteren Stationen, auch vor Publikum gespielt. Noch heute, 56 Jahre später, hat Stauber den schönen Klang dieser Geige im Ohr; mit ihr im Gepäck flog sie im Dezember 1962 zurück in die Schweiz.
Ungefähr ein Jahr später wollte sie es nochmals wissen und reiste für private Ferien nach Algier. Im Stadthotel wimmelte es allerdings von Ungeziefer, weshalb sie dann doch wieder in ein Cimade-Zimmer zu dem Professoren-Paar zog, das weiterhin in Algier lebte, anders als die Mehrheit der geflohenen Algerien-Franzosen. Aber Stauber war grundsätzlich enttäuscht und sah keine Verbesserungen. Und im Gegensatz zu ihren vorherigen Engagements in einem Team war es ihr jetzt als Privatperson und als Frau kaum möglich, allein herumzureisen. Es war ihr letzter Algerienbesuch, dieses Kapitel hatte sie damit abgeschlossen.
PS: Nach den Gesprächen mit Lotti Stauber fällt auf, dass nie von Religion die Rede war; immerhin hatte sie unter dem Dach der Cimade gearbeitet, einer französischen Organisation, die auf evangelischem Gedankengut aufbaut. Auf eine entsprechende Frage erinnert sich Stauber, dass sie in der Adventszeit mit den algerischen Mädchen ein Weihnachtslied gesungen habe. Aber sonst meint sie: «Religion war kein Thema, es ging ums tägliche Überleben».
Dieser Beitrag erschien im Januarheft von Saiten.