, 10. August 2018
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Feueratem, Piratenburg, Jamsession

Die ersten Strandfestwochen in Rorschach dauern noch bis Sonntagabend: ein Spaziergang durch die verschiedenen Utopien von Angstfreiheit bis Freejazz.

Bilder: jk

Auf dem zweitobersten Würthbalkon steht eine Frau und raucht oder telefoniert. Genau kann man das aus Uferdistanz nicht sehen. Unten auf der Wiese setzen sich die Teilnehmenden der «Sunset Yoga Session» in Position. Himmel und See sind hell. Wenig Wolken und viele Boote blitzen darin auf. Einem Dalmatiner werden immer wieder grosse Hölzer in den See geworfen, aber der Hund fällt nicht darauf rein. Er rennt euphorisch bis zum Abgrund, bleibt dort abrupt stehen und schaut ihnen nach.

Letzte Stunde brütende Hitze und Licht vor dem konzeptionell genutzten Sunset. Die Session beginnt, der Leiter sagt: «Guet, startemer. Üses Hütige Thema isch Fearlessness, also Angstfreiheit, aber da tönt englisch eifach besser.» Sie beginnen mit Atemübungen, denn: «De Füür-Atem macht eu wacher als jede Kafi.»

Später wird gedehnt. «E beweglichi Wirbelsüüle isch e Zeiche vo Jugendlichkeit. Bim Yoga misst me s’Alter ade Beweglichkeit vo de Wirbelsüüle.» Danach gehts richtig los, es wird in alle Richtungen geboxt, gejoggt und Angst losgeworden.

Pittoreske Postmoderne

Währenddessen passiert auf dem restlichen Festgelände noch keine grosse Action. Eine Atmosphäre des Friedens und Vergnügens schwebt ums Ufer. Fast ganz Rorschach wirkt an diesem späten Dienstagnachmittag wie ein impressionistisches Sonntagsgemälde. Ein einziges Schlendern, Baden, Burger essen.

Das laut Eigenwerbung schönste Schiff auf dem Bodensee, die Hohentwiel, liegt am Ufer und wird mit Passagieren und deren Gläser mit kühlem Weisswein gefüllt. Enten und Pedalos treiben irgendwo hin. Der Hüpfburgenpark ist – aber das liegt vermutlich an der fortgeschrittenen Tageszeit – nur halblebendig. Am beliebtesten ist nach unrepräsentativer Kurzbeobachtung die riesige schwarzrote Piratenrutschburg.

Um 20 Uhr ist Jazz angekündigt: Claude Diallo und das Ostschweizer Jazzkollektiv (OJK) laden zur Jamsession. Immer mehr Gäste versammeln sich um die Seebühne. Die Sonne geht und die Stimmung steigt, beides in steiler werdenden Kurven.

Die Bühne gehört dem Jazz, der Jazz gehört allen

Der in Trogen lebende und weltweit in verschiedenen Formationen spielende Pianist Diallo am E-Piano, die Rorschacher Drumlegende Andy Leumann am Schlagzeug und E-Bass-Virtuose Benjamin Leumann am sechsseitigen Bass. Sie stellen an diesem Abend die Hausband und spielen ein paar Stücke grossen Jazz zum Aufwärmen, danach wird gejammt. Die Bühne steht dabei allen offen, die ihr Instrument dabeihaben, beherrschen und die jeweils angekündigten Jazz-Standards kennen.

Als erster Gast betritt Malcolm Green die Bühne und begeistert das Publikum sofort. Er singt, freestyle-moderiert und spielt Saxofon abwechslungsweise oder parallel mit weiteren Kollektiv-Mitgliedern. Dann ein überraschender und brillanter Auftritt einer (mir unbekannten) Sängerin, die spontan dazu kommt und bis dahin noch nicht Teil des Kollektivs war.

Genau darum geht es beim OJK: einen Regionalen Verbund von Jazzliebenden und -spielenden, der jederzeit offen ist für Zuwachs.

Leuchtende Punkte

Die Sternstunde der Jazz-Jams war ungefähr 2014 im Variété Tivoli. Die anfangs noch überschaubare Anzahl von Mitmusizierenden stieg seither stetig. Mittlerweile umfasst das Jazzkollektiv fast 500 Leute. Dabei sein kann jede und jeder, solang es einen Heimat- oder aktuellen Wohnortsbezug zu einem der Ostschweizer Kantone (SG, TG, AR, AI, GR) gibt. Neu sind auch Mitglieder aus Lichtenstein, Vorarlberg und Baden Würtemberg mit engem Bezug zur Ostschweizer Jazzszene dabei.

Strandfestwochen:
bis 12. August, Hafenareal Rorschach
strandfestwochen.ch

Die Jams finden regelmässig in Wolfhalden, Altnau und St.Gallen statt und unregelmässig an anderen Orten, wie hier. Wichtig ist, dass es jedes Mal eine für den Abend neu zusammengewürfelte Konstellation von Spielenden ist und die Szene in lebendigem Austausch bleibt.

Es ist beeindruckend, wie geschmeidig die Musik weitergeht, während die Bandbesetzung ständig wechselt. Jeder auf- und abtretende Musiker wird von Claude Diallo herzlich begrüsst und verabschiedet, zum Teil mit zusätzlichen Anekdoten wie: «Da isch de Lukas, er isch no nie i sim Lebe ine Flugzüg gstige. Schaad fürd Welt, er isch nämlich en sehr guete Musiker.»

Die Sonne ist mittlerweile ganz verschwunden. Dafür sind die Lichterketten, Sterne und weit entfernten Bootssignale umso heller. Schaut man sich die Szenerie extra verschwommen an und hört dabei möglichst deutlich zu, macht alles viel Sinn. Jazz wäre visualisiert wahrscheinlich eine irre Ansammlung farbiger und unterschiedlich stark leuchtender Punkte, die einzeln betrachtet völlig verschiedene Hintergründe und Bestimmungen haben, vermengt aber ein faszinierendes und keiner weiteren Erklärung bedürftiges Gesamtbild ergeben.

Empfehlungen für die verbleibenden Strandfesttage: Heute um 21 Uhr James Gruntz im Carmen Wüth Saal, am Samstag kostenloses Test-Stand-up-Paddlen, am Sonntagmittag zwei Führungen durch den Würth-Skulpturengarten und dazwischen wie gewohnt Hüpfburgen, Yoga, Essen, Trinken, Tanzen und Enten beobachten.

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