, 11. April 2022
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Köstliches Spiel mit dem Feuer

100 Prozent Swiss Quality. 100 Prozent Bünzlitum. 100 Prozent Feuer im Dach. Wohin führt das denn heutzutage? Christina Rast inszeniert Max Frischs «Biedermann und die Brandstifter». Das «Lehrstück» öffnet die Augen und ist an Brisanz, Absurdität und amüsanter Wirkung kaum zu übertreffen. Von Viviane Sonderegger

Exzellent: Diana Dengler in ihrer Rolle als Gottlieb Biedermann. (Bilder: pd)

Einmal Hand aufs Herz: Was würden Sie tun, wenn Brandstifter an Ihre Türe klopfen und gemütlich Ihr Unwesen auf dem Dachboden treiben? Und dazu noch die ganze Nacht schnarchen? Vor dergleichen üblen Machenschaften wird in allen Zeitungen gewarnt. Doch ob man es nun liest oder nicht: «Es kommt ja sowieso.»

Präsentiert man sich also von der besten Seite und macht sich den Feind zum Freund oder ist man ein humorloser Spiesser und ruft die Polizei? «Aufhängen müsste man sie!», eigentlich. Doch ein Frühstücks-Ei, drei Minuten gekocht, ist ungeachtet dessen das Mindeste an Manieren, was man als gesitteter Hauseigentümer seinen Gästen entgegenbringen kann.

Nächste Vorstellungen: 11., 13. April, 6., 10., 12., 13. Mai, Um!bau Theater St.Gallen

U30-Termin: Am Mittwoch, 13. April, gibts Ticket, Drink und Gedankenaustausch mit den Beteiligten für alle unter 30 zum Einheitspreis von 25 Franken. Buchung: kasse@theatersg.ch

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Der Appenzeller Alpenbitter und das Silberbesteck gehören ebenfalls auf den Tisch. Dabei weg mit der Protzerei, einfach einmal casual. «Man will ja schliesslich niemanden kränken». «Klassenunterschiede sollte es sowieso nicht geben», propagiert der wohlhabende Haarwasserfabrikant Gottlieb Biedermann (Diana Dengler), der mit offenen Augen sein eigenes Grab schaufelt.

Die passive Strategie des Nicht-Handelns in Anbetracht einer Bedrohung, selbst unter dem eigenen Dach, ist bisweilen die bequemste, doch die feigste und letztlich die fatalste. Die berühmte Parabel von Max Frisch ist wieder brandaktuell und wird im Theater St.Gallen mit raffiniertem Auge fürs Detail auf die Spitze getrieben.

Ein gespiegeltes Sittengemälde – Swiss made

Mit dem 1958 uraufgeführte Stück Biedermann und die Brandstifter nahm Max Frisch die Schweizer Wegschau-Strategie kritisch unter die Lupe, damals vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges. Mit dem Untertitel Lehrstück ohne Lehre spielt Frisch bewusst mit Brechts Theorie des epischen Theaters. Brechts berühmter Satz «Erst kommt das Fressen, dann die Moral» scheint ebenfalls Spuren im Frisch-Drama hinterlassen zu haben, in dem eine Gans-Verköstigung über die Angst und die böse Vorahnung hinwegtäuschen soll. Einfach nur köstlich!

Ebenfalls wie bei Brecht werden die Figuren in Christina Rasts Inszenierung nicht als Individuen, sondern vielmehr grösser als Projektionsflächen gedacht. Der Text wird von Rast auch als Metapher verstanden. Dies erlaubt vielfältige Blicke über die «Guckkastenbühne» hinaus, was der Inszenierung eine kaum übertrumpfbare Brisanz verleiht.

Hinsichtlich der momentanen Krisensituation, und damit ist schon gar nicht mehr die Corona-Pandemie gemeint, werden die Grundwerte der Schweizer Politik und der Bevölkerung wieder einmal mehr auf die Probe gestellt. Müssen diese verteidigt werden? Schließlich haben wir «alles Recht, auch nichts denken zu müssen». Mit viel Witz, Sentimentalität und absoluter Wahrheit enthüllt das Stück eine bitter ernste Wirklichkeit.

Ein Lehrstück durchaus mit einer Lehre. Um sich von der Biedermann-Taktik zu lösen, braucht es einen «Schock-Moment, um wieder zur Vernunft zu kommen». So rät es im Stück ein in Samt gekleideter Dr. phil. (Marcus Schäfer) in einer der vielen Publikumsansprachen.

Diesem Effekt zuliebe werden Türen energisch zugeschletzt, die einzelnen Szenen durch das repetitive Kuckucksuhr-Geläute oder schrilles Telefonklingeln unterbrochen, eingeklemmte Finger bejammert, kurioses Gelächter ständig provoziert und die zweite Hälfte nach der Pause beginnt – Spoiler-Warnung – mit einem lauten Knall. Trotz des Krawalls entsteht kein Verfremdungseffekt. Im Gegenteil: Man wird immer weiter hineingezogen.

Die Fassade bröckelt

Die Absurdität nimmt ihren Lauf, nachdem es bei den Biedermanns an die Türe klopft: Sepp Schmitz (Tobias Graupner). In Schwingerhosen. Schwergewicht. Obdachlos. Anna, das Mädchen für alles (Birgit Bückler), öffnet. Mit ebenfalls steifem, aber deutlich weniger angespanntem, eher ödem Gestus führt sie die kleinkarierten Anordnungen des Paares aus. Zum Glück hat sie für genügend Klopapier gesorgt. Dies nur als weitere Anekdote.

Sie spielt somit im humoristischen Kontrast zur hysterischen Babette Biedermann (Anna Blumer), die im rosaroten Damenkostüm empört und gestresst ist über die herausfallenden Plakate aus den Wänden. Schließlich sind sie patentiert! Die offenen Löcher in der Fassade enthüllen die schein- und auch heilige Privatsphäre des Ehepaars und lassen erkennen, dass die letzte Stunde bald geschlagen hat. Durch die starke Geräuschkulisse (Patrik Zeller) werden die Dialoge mal scharf akzentuiert, mal breit unterstrichen und beim Publikum gezielt Emotionen getriggert.

Zum Glück genügend WC-Papier: Dienstmädchen Anna (Birgit Bücker) und Babette Biedermann (Anna Blumer).

Was bereits zu Beginn des Stücks offenkundig ist, bestätigt sich nach dem letzten Glockenschlag zweifellos: Der äussere Schein trügt und die Figuren verbrennen sich an ihren eigenen Idealen. Ein Spiel entfacht sich auf mehreren Ebenen durch simultane Szenen im Container-Bühnenraum, mit überraschend moderner Hirsch-Tapete (Franziska Rast). Ein Drittel Dachboden. Zwei Drittel Wohnzimmer.

Aus der Holztruhe schleichend oder an der Türe lauschend und pochend: Den Schauspielenden gelingt mittels geschickter Ausstattung (Franziska Rast) ein Spannungsaufbau hin zur unausweichlichen Katastrophe, in der das Kartenhaus letztlich in sich zusammenfällt.

Die Beleuchtung (Andreas Enzler) generiert dabei zusätzlich verschiedene Stimmungsräume, in denen es blitzt und donnert, der kalte Zigarettenrauch bedrohlich hochsteigt oder die bleichen Gesichter der Figuren gnadenlos ausgeleuchtet werden. Und im Blaulicht sticht die grelle neongelbe Aufschrift «BENZIN» an den Fässern hervor, die von Kellner Eisenring (Anja Tobler) auf den Dachboden geschmuggelt werden. Doch selbst für die offensichtlichsten Warnsignale ist man auf der Bühne blind. «Man hat eben gerade andere Sorgen.» Ein Paradebeispiel und ein Spiel mit dem Feuer. Die Inszenierung greift zwar auf viele Klischees zurück, doch sie werden subtil gebrochen und offensichtlich enthüllt. Es gelingt eine ideale Balance.

It takes two to Tango

Für eine Balance sorgt auch die Frauen-Power-Besetzung einiger männlicher Rollen. Eine feine Demaskierung der überzeichneten Charaktere, die dem Stück neue Inszenierungsimpulse liefert. Aufgeweckt und urkomisch. Beklemmend, wie die Verwandlung noch immer mehr gescheut wird, als das Unheil.

Zum Löschen ist es zu spät. Doch reicht es noch für ein kurzes Tänzchen. Eine weitere Absurdität: Der Tango lebt von seiner Spontanität und Improvisation. Zwei Skills, die dem biederen Pärchen definitiv nicht im Blut liegen. Das knisternde Zusammenspiel fasziniert und macht das Stück erlebbar.

Besonders die Leistung von Diana Dengler in der Hosenrolle löste an der Premiere lebendige Publikumsreaktionen aus. Die Rolle ist ihr wie auf den Leib geschnitten. Den Biedermann verkörpert sie von Kopf bis Fuss mit einer solch lieblichen Finesse und erstaunlichen Präzision, sodass sie für die kleinkarierte Figur mehr als einen Funken Verständnis und Menschlichkeit zu erregen vermag. Exzellent!

«Dene wos guet geit, giengs besser…»

Als Korrelat des Publikums fungieren die sechs roten Zipfelmützen, die sich am Bühnenrand lieber besaufen und sich eine Backpfeife nach der anderen gönnen, anstatt den Brand zu löschen. Der a capella Feuerwehrschor (Tabea Buser, Pascale Pfeuti, Matthias Albold, Christian Hettkamp, Bruno Riedl, Marcus Schäfer) sieht natürlich die Gefahr, doch sie werden auch nicht gerufen. In Reih’ und Glied treten sie als kollektive Einheit auf.

Herr und Frau Biedermann umgeben vom nicht alarmierten Feuerwehr-Chörli.

Synchronisierte Totalität. Patriotischer geht’s nicht. Unglaublich, dass wir noch an die Brandlöscher glauben. Warum also unnötig den Alarm auslösen? Hätte sich die trostsuchende Witwe Knechtling (Matthias Albold) doch nur schneller wieder unter dem weissen Tuch befreit. Resigniert und alleine zurückgelassen verlässt sie die Bühne. Nicht mit Mani Matters Zündhölzli-Lied, sondern mit seinem philosophischen Lyrics über das soziale Dilemma zwischen Egoismus und Solidarität. Ein subtiler Schlüsselmoment.

Der wurde leider überhört. Eine irrwitzige Komödie oder bittere Groteske also? Das Theater St.Gallen findet den idealen Mittelweg. Es gibt viel zu lachen. Eine objektive Distanz zum Stück ist jedoch kaum möglich. Das Publikum wird zum integralen Bestandteil des Stücks. 100 Prozent erlebbar. 100 Prozent belehrbar.

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