, 4. Juni 2019
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Literaturmachos und tausend Teetassengespräche

Florian Vetsch ist Mitglied der Programmkommission der Solothurner Literaturtage. Hier seine Tagebuchnotizen zur 41. Ausgabe. Mit vielen Frauen. Und Musik für den sommerlichen Boogaloo.

Judith Schalansky und Lucas Gisi. (Bild: Sabina Christ/Samuel Mühleisen)

Donnerstag, 30. Mai

Tuckere im Zug bei blendendem Wetter nach Solothurn, blättere in Michelle Steinbecks Debütroman Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch aus dem Jahr 2016, bleibe, während die halbe Schweiz an mir vorbeigleitet, bei Sätzen hängen wie «Ich lausche und denke und trete hinaus» oder «Es ist ein Lebensgefühl, das Rauchen» – solche Sätze sind doch einfach herrlich, geben Luft.

Ich freue mich auf Michelle Steinbecks Lesung an den 41. Solothurner Literaturtagen (SLT), an denen ich als Mitglied der zehnköpfigen Programmkommission (PK) mitwirke. Denn ihr neuer Gedichtband Eingesperrte Vögel singen mehr heiterte meine Lektüre von über 30 (bisweilen recht strengen) Büchern im Vorfeld der Literaturtage merklich auf.

Jedes Mitglied unserer PK bewältigt ein solches Pensum; insgesamt wurden denn über 300 Titel gesichtet. PK-Mitglied kann man für maximal drei Jahre sein. Alle als Buch oder PDF vorliegenden Texte werden von zwei PK-Mitgliedern unabhängig voneinander gelesen und beurteilt; differiert die Einschätzung, so liest ein drittes, manchmal sogar noch ein viertes PK-Mitglied den Text. Trotz dieser Massnahmen und trotz der individuellen Sorgfalt brüskiert die Auswahl jedes Jahr, was, recht bedacht, schlichtweg unvermeidlich ist…

In Solothurn angekommen, checke ich im Literaturbüro und im bahnhofsnahen Drei-Sterne-Hotel Ambassador ein, wo mir im Foyer der «Tagblatt»-Journalist Hansruedi Kugler und der Autor Martin R. Dean herzlich begegnen; Martin wird an den Literaturtagen aus seinem neuen Roman Warum wir zusammen sind lesen.

Nach dem Bezug des Dachzimmers mit Raucherbalkönlein schiebe ich rüber ins Künstlerhaus S11; dort präsentiert Beat Brechbühl – ein Jubilar, wird er doch heuer im Sommer 80! – die Bücher und Blätter aus dem Atelier Bodoni des Waldgut-Verlags: eine auf drei Stockwerke verteilte Augenweide!

Um 18 Uhr steigt im Landhaus die Eröffnungsfeier. Den sympathischen musikalischen Rahmen schafft Pink Spider aka Valerie Koloszar, eine One-Woman-Band: 

 

Die gesamte Eröffnungsfeier bestreiten heuer ausschliesslich Frauen. Das ist ein Statement, hat Kalkül. Reina Gehrig, die Geschäftsführerin der SLT, kommentiert das so: «Bei anonymen Jurierungen werden mehr Texte von Frauen ausgezeichnet, sind die Texte nicht anonymisiert, mehr Texte von Männern. Aber es geht auch um die Verlage, die Buchhandlungen und die Bibliotheken. In der Literaturbranche arbeiten sehr viele Frauen, aber ganz oft sind die Entscheidungsträger oder die Chefs immer noch die Männer. Doch viele haben genug von den ‹Literaturmachos›. Bei Ingeborg Bachmann hiess es noch: Für Frauenliteratur ist das ganz gut. An dem Punkt stehen wir zum Glück nicht mehr. Aber das Geschlecht spielt immer noch eine Rolle.»

Mir tut die Erfahrung, welche Frauen jahrzehntelang gemacht haben, gut, nämlich das eigene Geschlecht für einmal nicht auf der Bühne repräsentiert zu sehen.

Im Solheure an der Aare erwartet alle ein Apéro riche. Gespräche bis in die Nacht. Der aus Wien angereiste Autor Andreas Niedermann meint nach dem Eindunkeln zurecht, jetzt übernehme der breitflächige, langsam sich vorwärtsschiebende Fluss, auf dessen schwarzer Fläche einzelne Lichter oszillieren, die Stadt; jeder Fluss habe seinen eigenen Geruch, so auch die Aare, kühl und faulig, algendurchsetzt.

 

Fr, 31. Mai

Frühstück um halb neun. Der Sommer rückt vor.

Treffe um halb elf den Autor Ernst Halter vor dem Poesiesalon. Um elf wird der Saal verdunkelt. Der 81-jährige Dichter versetzt die Zuhörerschaft bereits mit dem ersten Set in Trance. Seine Poesie wirkt so stark, dass die Zeit wie im Nu verfliegt. Es herrscht eine ungemeine Konzentration im Raum. Eine kollektive Vertiefung, Versenkung, Meditation. Der Beamer projiziert diese zwei Gedichte aus seinem jüngsten Band Zwiegesicht auf die Leinwand:

Am Punkt

Diese Stille in dir
gleich dem Unerschaffenen Licht
und der Nacht von Verbrechern
als wärest du ausgesondert und abgeführt
du weißt nicht und weißt doch
wohin
Was ist und immer schon war
jetzt greift es dich
Gebet Kugel und Kuss
wie nicht mehr von hier
in dir
diese Stille

Trauer

Der Tropfen Tau war’s
heute morgen
sprühte er den blauen Blitz
von irgendeinem Blatt
erlosch und fiel
Durch leere Hände
blickte ich ihm nach
die Zeit hinab
und sah
als gäb es ihn
doch nicht für uns
den Gott am Werk

Ernst Halter illustriert das, worum es ihm hier geht, mit einem Buchenblatt, einem simplen Buchenblatt, das er als 18-Jähriger einmal auf einem Spaziergang gefunden habe und bei dessen Betrachtung für ihn die Zeit jäh stillgestanden sei; von da an habe er gewusst, dass er Schriftsteller werden wolle. Solche Augenblicke, solche Durchbrüche, seien aber äusserst selten, kämen im Leben eines Menschen – wenn überhaupt – vielleicht zwei-, dreimal vor…

Das zweite Set vergeht so rasch wie das erste. Ein langer Applaus und eine ebensolche Schlange am Signiertisch ehren den junggebliebenen Autor, der sich Zeit für jede Widmung nimmt und dabei vor Charme sprüht.

Beim Kaffee erzählt er vom 23. Juni 1967, dem Tag, als er Erika Burkhart (1922–2010) zum ersten Mal begegnet sei, von den «tausenden Teetassengesprächen», welche die beiden im Haus Kapf in Aristau, dem einstigen Sommersitz der Äbte von Muri, geführt hätten, davon, dass er nur dank ihr künstlerisch «in die Tiefe» gestossen sei…

Bevor ich um 15 Uhr dem Gespräch von Ernst Halter und Sascha Garzetti in der Säulenhalle des Landhauses beiwohne, erstehe ich im sympathischen Antiquariat Das Poetariat an der Löwengasse u.a. Heathcote Williams‘ gigantisches Langgedicht Kontinent der Wale, ein grossformatiges Buch mit zahlreichen Fotos und Zeichnungen, sowie eine leicht in der Hand liegende Ausgabe von Friedrich Rückerts Gedichten, eingeleitet von Oskar Loerke, im Duodez-Format, Leinen mit Goldschnitt und Lesebändchen, bordeauxrot…

Um 17 Uhr blase ich in der Säulenhalle zum Dialog zwischen Andreas Niedermann und Willi Wottreng, den beide gekonnt und würdevoll bis zur letzten Minute durchziehen.

Abendessen mit Gertrud und Willi Wottreng bei bester Stimmung im griechischen Restaurant Akropolis.

Schlendere an der Aare entlang. Eine Fledermaus wirbelt ins anbrechende Dunkel, ein Schwan schart drei braungefiederte Junge um sich, habe auch Enten und Störche tagsüber am Flussufer gesehen; die Aare prägt die Atmosphäre dieser Stadt. Schlürfe an der Hafebar einen Mojito, schüttle Milena Moser die Hand, quatsche mit Nell Zink über die Eröffnung. Rausche bettwärts, wiederum übers Akropolis, wo ich, während die Angestellten bereits das Geschirr von den Tischen räumen und die Stühle für den morgigen Tag zurechtrücken, zu einem Schlummertrunk unter freiem Himmel bis nach Mitternacht im Rückert lese:

Fuhren wir herab den Main,
still und frohgemut,
lag des Abends heller Schein
vor uns auf der Flut.

Immer auf den hellen Schein
geht der Nachen zu,
treten wird er nun hinein
in dem nächsten Nu.

Aber weiter rückt der Schein
stets von Ort zu Ort,
und die Fahrt ihm hinterdrein
geht im Dunkel fort.

 

Samstag, 1. Juni

Frühstück um acht. Die Hitze ist los.

Will um zehn im Landhaussaal Judith Schalansky hören und sehen. Wie bei allen Veranstaltungen ist die Besucherzahl extrem hoch; total besuchen in diesem Jahr wiederum an die 18‘000 Menschen die SLT.

Zum Glück treffe ich auf Gallus Frei-Tomic vom «Literaturblatt», sodass ich ihm mein Exemplar von Schalanskys sagenhaftem Buch Verzeichnis einiger Verluste anvertrauen kann, um es später signieren zu lassen, da ich mich bereits nach einer halben Stunde aus dem Saal stehlen muss, um im Poesiesalon um 11 Uhr Monika Schnyders Lesung zu betreuen.

Der Moderator Lucas Gisi und Judith Schalansky betreten die Bühne, richten sich ein, Lucas breitet den roten Teppich aus und das Genie der zeitgenössischen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur setzt zur Lesung an, räumt aber vorab ein, dass sie noch nie so früh eine Lesung gegeben habe und um diese Tageszeit gewohnt sei, die fünfte Tasse Kaffee, die «besonders schmackhaft» sei, zu trinken. Diese Bemerkung baut die Barrieren der Bewunderung ab.

Zum Titel ihres jüngsten Buchs, das bis ins letzte Detail der Gestaltung und Bindung ein von der Autorin hergestelltes Gesamtkunstwerk ist, erläutert sie, dass der Ursprung der Poesie, neben der Magie, im Verzeichnis liege und die Liste formal gewissermassen den Anfang der Poesie bilde. Dann liest Judith Schalansky als augenzwinkernde Referenz an den Genius loci das in den Walliser Alpen angesiedelte Stück Guerrickes Einhorn: mit hoher Bannkraft, suggestiv, wortmächtig, satzpotent. Sie versetzt dem Moderator einen Elektroschock mit der Frage, ob er bei der Lektüre den Subtext der Geburt mitgelesen habe, verzeiht ihm allerdings sofort, weil nur zwei von insgesamt zwölf Übersetzern denselben überhaupt gesehen hätten…

Um elf denn gibt Monika Schnyder im Poesiesalon Einblicke in ihren neuen Gedichtband Auch Götter haben Gärten. Eine «saubere Büez von der Schnyderi», wie ich in Anspielung auf das altgriechische Wort «poiesis» bemerke, das so viel bedeutet wie «Herstellen, Schaffen, Machen». Der schöne Titel des Bandes stammt aus dem Wolkengedicht CUMULUS:

wolken sind federn feder
boas sind faune gehörnte gnome
sind seelen urtiere geplusterte
putten türme und kuppeln
minarette skelette die büchse der
pandora nebelkammern wassertanks
sind kontinente auf reisen blüten
sträucher und bäume auch götter
haben gärten

Wolken als Gärten der Götter… Man sollte so schreiben können, wie die Wolken Formation um Formation hervortreiben… Eine weitere Konklusio aus dem Gespräch mit der Dichterin war, dass das seit 300 Millionen Jahren überlebende Silberfischchen, der «zuckergast», wie Schnyder das Tierlein in Anspielung auf seinen lateinischen Namen «lepisma saccharina» nennt, den Dreh raus hat, im Unterschied zu den viel mächtigeren und grösseren, aber längst ausgestorbenen Dinosauriern.

Beim Mittagessen vor dem Kreuz verkommt mir Gallus Frei-Tomic und drückt mir das Verzeichnis einiger Verluste, von Judith Schalansky signiert und mit einem Stempel versehen, wieder in die Hände: das schöne Buch mit den Schwarz auf Schiefergrau gehaltenen Tafeln, welche die Idee, etwas Abwesendes anwesend sein zu lassen, ganz konkret umsetzen.

Um 13 Uhr höre ich wiederum im Poesiesalon Michelle Steinbeck, die wie eine junge Königin zu Throne sitzt und ihre irreverenten Verse aus Eingesperrte Vögel singen mehr ins Publikum streut, darunter das Gedicht, das Reina Gehrig bei der Eröffnungsfeier augenzwinkernd in die Runde geworfen hat:

warum ich die literaturtage hasse
ich hasse die literaturtage weil ich mir fett die birne verbrannt hab
ich hasse die literaturtage weil ich nicht eingeladen wurde
ich hasse die literaturtage weil ich nicht eingeladen wurde aber alle anderen schon

Pablo Haller – «Michelle Steinbecks Verse knallen ins Jetzt» – moderiert die Lesung äusserst kurzweilig. Als er die Autorin nach ihrer Arbeitsweise und ihren Vorbildern fragt, stellt sich heraus, dass Michelle Steinbeck, neben der auf babelsprech.org publizierten Lyrik, Raymond Carver und Daniil Charms mag, aus ihren Träumen schöpft, «wahnsinnig viel schreibt» und – was längst nicht alle vermuten würden – ihre Verse «sehr bearbeitet», obschon sie gerade wie aus der Hüfte geschossen daherkommen. So schmissig gebärdet sich Sprache nicht von allein, o nein! Da steckt mehr dahinter, harte Arbeit. Auch bei diesem zynischen Beispiel, das in Solothurn auf Plakaten die Runde macht:

kapitalismus, einfache rechnung

jemand kauft einen riesigen fernseh
+
jemand schläft in dessen karton
=
win win

Michelle Steinbeck und Pablo Haller. (Bild: Sabrina Christ/Samuel Mühleisen)

Später am Nachmittag geht es mit Andreas Niedermann auf die Bühne des Stadttheaters. Als ich ihm kurz zuvor scherzhaft zuflüstere, ich würde erwägen, bei der Anmoderation zu sagen, dass seine Töchter später einmal mit den Temptations singen könnten: «Papa was a rolling stone», wehrt er ab: «Das nicht auch noch!»

Das Publikum im Foyer und auf den Balkonen versetzt sich in Hochspannung, als ich die Protagonistin von Niedermanns Kriminalroman Blumberg schildere: «Isa Blumberg, 53 Jahre alt, Journalistin, Ex-Punkerin, Ex-Alkoholikerin, Mutter eines katholischen Priesters, lebt in einer aus den Fugen geratenen lesbischen Beziehung, ist taff, aber dennoch verletzlich, hat einen untrüglichen Sinn für Gerechtigkeit und bringt zudem eine gewisse Tätlichkeitsbereitschaft mit, eine Neigung zu Gewaltausbrüchen. Das nenne ich einen Charakter!» (Mehr dazu hier.)

Andreas Niedermann auf der Aussenbühne. (Bild: Pablo Haller)

Niedermann ist in Form, breitet seinen Basso continuo über die ersten Seiten seines «Roman noir» aus, rockt den Saal, erntet für jede gelesene Passage einen Applaus, manchen Zuruf gar, schlägt sich auch im Gespräch gewinnend, wobei er zur Zufriedenheit aller verrät, dass er an einem zweiten Blumberg-Fall arbeite, der in Österreich und in der Schweiz spiele und im Bilgerverlag erscheinen werde.

Beim traditionellen Autorenessen im Kreuz dankt Reina Gehrig ihrem Team und schon ist das Buffet eröffnet, die erfolgreiche Vitaminisierung der Zunft der Schreibenden kann beginnen.

Mit Shelley Kästner stimme ich mich anschliessend bei einem langen Gespräch draussen im Solheure auf die morgige Lesung ein. Um 22 Uhr spielen King Pepe & The Queens im Poesiesalon auf; ihr neues Album Karma OK ist beim Gesunden Menschenversand erschienen; Schreie, Stampfen, wildes Klatschen fordern kurz nach 23 Uhr eine Zugabe ein, und der alte King Pepe-Song Gebei erwischt alle:

Wer wird cho wänn i gange bi?
Und wer laat ächt die angere ii?
Wer singt äs Lied, wer löscht Datei?
Und wer nimmt näär mini Gebei mit hei?

 

Danach legt ein DJ Funk-Nummern auf, die von allem Anfang an in die Knie gehen. Die PK-Mitglieder, die Welschen wie die Deutschschweizer, auch eine Handvoll Autoren und Festivalbesucherinnen, alte wie junge, schrammen übers Parkett, legen den Boogaloo hin, stürzen sich in den Jungbrunnen des Tanzens und frönen mit immer mehr Entfesselten dem immer wilderen Veitsdienst, etwa zu Going Back To My Roots von Odyssey:

 

 

Oder zu James Bowns energetischem Weckruf Get Up Offa That Thing:

 

 

Nach anderthalb Stunden auf der Tanzfläche bin ich bachnass, trolle mich gegen Viertel nach eins ins Ambassador, dusche, schaue noch etwas fern, sinke in einen tiefen Schlaf…

 

Sonntag, 2. Juni

Frühstück um neun mit Shelley Kästner. Wir kommen klar, haben die Struktur der anstehenden Lesung im Kopf: Shelley wird drei Biografien aus ihrem Buch Jewish Roulette vortragen, auf jede folgt ein kurzer Austausch. Meinen schwarzen Kittel kann ich heute nicht tragen, er ist noch feucht von der gestrigen Tanzwut, und so greife ich zur hellen Leinenjoppe.

Um 11:50 Uhr drängen Shelley und ich am Publikum vorbei hinter die Bühne, wo die Technikerin Lola mit ihrer Crew wie gestern Abend bei der Lesung von Andreas alles im Griff hat und den Laden schmeisst. Um zwölf ist das Theater voll und los gehts mit meiner Anmoderation, in der es u.a. über Jewish Roulette heisst:

21 Gespräche bilden die Grundlage dieses Buches, 21 Viten werden darin auf rund 170 Seiten erfasst, 21 Kurzbiografien, deren kleinster gemeinsamer Nenner ihre Zugehörigkeit zum Judentum ist. Die Biografien jedoch sind so individuell und verschieden, wie Menschenleben nur individuell und verschieden sein können. Der Untertitel von Jewish Roulette lautet denn «Vom jüdischen Erzbischof bis zum atheistischen Orthodoxen». Natürlich will dieser Untertitel die Spannbreite der dargestellten Existenzen aufzeigen, doch muss man sich diese Begriffe einmal auf der Zunge zergehen lassen: «Vom jüdischen Erzbischof bis zum atheistischen Orthodoxen» – beides sind Existenzen, die gleichsam eine Contradictio in adiecto leben, einen Widerspruch in sich selbst formulieren, Existenzen, in denen eklatante Gegensätze zum Tragen kommen. Doch so, wie wir Menschen leben, setzen sich, wie sehr wir uns auch dagegen wehren mögen, immer wieder Widersprüche durch, denn unsere Existenz lässt sich nicht auf eine einzige Zugehörigkeit reduzieren.

Von solchen einseitigen Reduzierungen lebt die Rhetorik des Hasses, der Ausgrenzung, die Rhetorik der gesellschaftlichen Spaltung, die sowohl von extremistischen religiös fundierten Strömungen als auch von rechtspopulistischen bis rechtsextremen Parteien und Gruppierungen betrieben wird. Deshalb ist es wichtig, Empathie, Verständnis, Nähe zu fördern, und das tun die 21 versammelten Gespräche – sie zeigen, dass es den Juden, die Jüdin schlichtweg nicht gibt, so wenig wie es den Moslem, die Muslima, die Christin, den Christen gibt, um nur die drei monotheistischen Wüstenreligionen zu erwähnen. Shelley Kästners Buch Jewish Roulette ist in einer von identitären Strömungen verunsicherten Zeit Balsam, ein Buch voller Denk- und Merkzettel für uns alle, egal welche Herkunft wir haben mögen. Denn es kommt ja, wie Gabrielle Alioth einmal geschrieben hat, «nicht darauf an, woher wir kommen, sondern was wir tun.» Und in einer Zeit, in welcher antisemitische Übergriffe verbaler wie gewalttätiger Natur auch in Europa wieder kommun zu werden drohen, ist Shelley Kästners Jewish Roulette ein bedeutendes Buch.

Auch hier erntet jeder Text einen Applaus, und die Autorin bestreitet das Gespräch mit Raffinesse. Dank ihrer jahrelangen Schauspielerfahrung ist Shelley Kästners Bühnenpräsenz eine Wucht, ihr Vortrag packend. Und trotz des betroffen machenden Themas gelingt es ihr, humorvolle Momente aufblitzen zu lassen; zu Recht schreibt sie nach der Performance in mein zerlesenes Exemplar von Jewish Roulette: «Wir haben zusammen gelacht und andere zum Lachen gebracht – was will man mehr?» Ein begeistertes, dankbares Publikum verlässt den Saal. Bis Shelley alle Signaturen bewältigt hat, verstreicht gegen eine halbe Stunde…

Wir essen im Kreuz, wo Willi Wottreng und seine Gattin sich unter einem Sonnenschirm bei einem Glas entspannen. Um drei schlägt Willis Stunde in der Säulenhalle. Trotz harter Konkurrenz durch den gleichzeitig ein Stockwerk höher lesenden Klaus Merz zieht seine «wahre Geschichte» von dem Irokesen-Chief Deskaheh weit über hundert Personen an. Vorab bemerke ich u.a. dazu:

In Ein Irokese am Genfersee entwickelt Willi Wottreng eine Rahmenhandlung, um die Geschichte von Deskaheh zu erzählen: Bei einem Antiquitätenhändler stösst die Staatsanwältin Ursula Haldimann auf eine interessante Fotografie aus den 1920er-Jahren; sie zeigt einen waschechten Häuptling am Stubentisch einer Zürcher Familie; Ursula Haldimann, die als Kind stets Winnetou, aber nie die farblose Nscho-tschi spielen wollte und die in ihrer Jugend mit einer Schwadron wilder motorradfahrender Stadtindianer unterwegs war, Ursula Haldimann springt an und beginnt zu recherchieren. Deskaheh, dessen bürgerlicher Name Levi General lautete, war von Haus aus Bauer, Fischer und Holzfäller. Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert starben Berufe wie Trapper, Wildjäger, Medizinmänner langsam aus. Geld lockte die Stammesmitglieder, König Alkohol verbreitete seinen verderblichen Einfluss.

In dieser schwierigen Zeit wurde Levi General nicht nur zum Deskaheh, zum Chief der Cayugas, gewählt , sondern auch zum Sprecher und Gesandten der Konföderation der Six Nations, also des Bundes der Irokesenstämme Mohawk, Oneida, Seneca, Onondaga, Tuscarora und Cayuga. Warum gerade er? Deskaheh hatte den Logos, er sprach alle sechs Stammesdialekte sowie Englisch, er redete ruhig, aber überzeugend, argumentierte präzise und scharfsinnig. Diese Qualitäten entschieden darüber, ob einer zum Chief taugte – nicht etwa seine Körperkraft oder gar sein Besitz.

Zweimal reiste Levi General, der auch mit einer Schreibmaschine umzugehen wusste, nach Europa: 1921 nach London und im Sommer 1923 für anderthalb Jahre nach Genf. Beide Male versuchte er, dem Anliegen der Irokesen internationale Unterstützung zu verschaffen: Ihr Gebiet, ca. zehn Quadratkilometer beidseits des Grand River im Südwesten Ontarios, Kanada, war kein Reservat, sondern ein Geschenk der britischen Krone für ausserordentliche Verdienste in den Kriegen gegen die amerikanischen Sezessionisten – das war ihr Land, das sie freiwillig bezogen hatten, was ein Bündnisvertrag aus dem Jahr 1784 zwischen den Six Nations und König George III. belegt; in diesem Gebiet wollten die Irokesen die Autonomie bewahren, doch wurde diese von der kanadischen Regierung immer wieder verletzt. Deskaheh hoffte auf die Anerkennung der Great League of Peace, wie sich das Bündnis der Six Nations selber nannte, als selbständigen Staat.

Im Gespräch verrät Willi Wottreng, der, je länger die Lesung dauert, desto mehr Sympathie im Publikum für Deskaheh und seinen Roman gewinnt, dass er selbst für seine Recherchen von der erwähnten Fotografie aus den 1920er-Jahren ausgegangen sei, von dieser hier:

Auch berühren wir die zärtliche Beziehung zwischen Deskaheh und der Übersetzerin Hedwige Barblan, die politisch bedeutende Rolle der Frauen bei den Irokesen, die Parallelen des Schicksals dieses Stammes mit demjenigen der Fahrenden, der Jenischen und Sinti, für die sich Wottreng als Geschäftsführer der Organisation Radgenossenschaft engagiert. So zieht die Geschichte von Deskaheh bald alle in den Bann.

Doch um 16 Uhr kann ich getrost sagen: mission accomplished, durchatmen jetzt, Zeit für ein Bier im Kreuz…

Auschecken dann im Ambassador. Mit Shelley im Zug bis Zürich, mit Andreas bis St.Gallen gefahren, eine Handvoll Biere als Tranksame im Gepäck und viele, viele Bücher im Kopf, die ich noch lesen will, darunter Lukas Hartmanns Roman Der Sänger, den mir Shelley empfohlen, und Lawrence Osbornes Roman Denen man vergibt, den mir Andreas ans Herz gelegt hat, zuerst aber werde ich mich über Michelle Steinbecks verrücktes Walfisch-Vater-Buch hermachen.

Und nicht vergessen: Nach den Literaturtagen ist vor den Literaturtagen. Sich umschauen denn, was Neues erscheint.  Die Vorbereitungen für 2020 werden mit dem Debriefing der PK der SLT Mitte Juni beginnnen…

 

Titel:

Atelier Bodoni: Die 150 ersten Bodoni Blätter in Bleihandsatz gesetzt und gedruckt auf den Handpressen des Atelier Bodoni. Waldgut. Frauenfeld 2016

Beat Brechbühl: Farben, Farben! – Gedichte. Waldgut. Frauenfeld 2017

Martin R. Dean: Warum wir zusammen sind – Roman. Jung und Jung. Salzburg 2019

Ernst Halter: Zwiegesicht – Gedichte. Wolfbach. Zürich / Rossdorf 2019

Lukas Hartmann: Der Sänger – Roman. Diogenes. Zürich 2019

Shelley Kästner: Jewish Roulette – Vom jüdischen Erzbischof zum atheistischen Orthodoxen – 21 Gespräche. Salis Verlag. Zürich 2018

Andreas Niedermann: Blumberg – Kriminalroman. Songdog. Wien 2018

Lawrence Osborne: Denen man vergibt – Roman (aus dem Englischen von Reiner Pfleiderer). Klaus Wagenbach Verlag. Berlin 2017

Friedrich Rückert: Gedichte. Pantheon-Ausgabe, S. Fischer Verlag. Berlin o.J. (1911)

Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste. Suhrkamp. Frankfurt am Main 2018

Monika Schnyder: Auch Götter haben Gärten – Gedichte. Wolfbach. Zürich / Rossdorf 2019

Michelle Steinbeck: Eingesperrte Vögel singen mehr – gedichtet und geträumt. Voland & Quist. Dresden / Leipzig 2018

Michelle Steinbeck: Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch – Roman. Lenos. Basel 2016

Heathcote Williams: Kontinent der Wale (aus dem Englischen von Hans J. Becker). Zweitausendeins. Frankfurt am Main 1989

Willi Wottreng: Ein Irokese am Genfersee – Eine wahre Geschichte. Bilgerverlag. Zürich 2018

Sascha Garzetti: Mund und Amselfloh – Gedichte. Wolfbach. Zürich / Rossdorf 2018

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