, 19. Oktober 2023
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Die Otto-Raggenbass-Strasse ist Geschichte

Der Konstanzer Gemeinderat hat die Umbenennung einer nach Otto Raggenbass benannten Strasse beschlossen. Grund dafür ist die Nähe des ehemaligen Kreuzlinger Statthalters zum Nationalsozialismus. von Urs Oskar Keller

Die Otto-Raggenbass-Strasse verschwindet schon bald aus dem Stadtbild von Konstanz. (Bild: Urs Oskar Keller)

Die nach dem Ostschweizer Otto Raggenbass benannte Strasse in Konstanz ist Geschichte. Sie heisst neuerdings Emma-Herwegh-Strasse, benannt nach einer Freiheitskämpferin (siehe Hinweis am Ende des Texts). Zwar sind die neuen Strassenschilder noch nicht montiert, Raggenbass‘ Name also noch zu lesen, doch spätestens Ende Jahr dürfte die Umbenennung auch optisch vollzogen sein.

«Eine Raggenbass-Strasse ist nicht gerechtfertigt», sagte der Konstanzer Historiker Arnulf Moser schon 2010. Damals hielt er den öffentlichen Vortrag «Der selbsternannte Held – Otto Raggenbass und die Stadt Konstanz». Moser forscht seit vielen Jahren über den Thurgauer Otto Raggenbass (1905–1965) und seine Verwicklungen mit dem Nationalsozialismus. Er wies dem früheren Bezirksstatthalter in Kreuzlingen (von 1938 bis 1945) nach, dass er jüdische Flüchtlinge zurückgeschickt, jüdische Schulkinder aus Konstanz zurückgewiesen, Fluchthelfer bestraft und Entlassung von deutschen Grenzgängern empfohlen hatte. Mehr dazu findet man auch in Reto Wissmanns Beitrag «Otto Raggenbass aus verschiedenen Perspektiven» in Buch Kreuzlingen 1874–2000 aus dem Jahr 2001.

 Neue Wege im Umgang mit der NS-Vergangenheit

In den 1980er-Jahren beschloss die deutsche Grenzstadt Konstanz, neue Wege im Umgang mit der NS-Vergangenheit zu gehen. Für die beiden Fluchthelfer Ernst Bärtschi (1903–1983) und Pauline Gutjahr (1878–1957) aus Kreuzlingen wurden 1986 Wege im Konstanzer Stadtteil Petershausen benannt (auf Initiative des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB). Ganz in der Nähe gibt es auch einen Platz für den Widerstandskämpfer Johann Georg Elser.

Otto Raggenbass (Bild: Archiv Urs Oskar Keller)

Otto Raggenbass (Bild: Archiv Urs Oskar Keller)

In der Grenzstadt Konstanz mit heute rund 86‘000 Einwohner:innen gab es unter den vielen Strassen auch solche mit «erhöhtem Diskussionsbedarf». Einige waren nach Antisemiten, Rassisten und Nationalsozialisten benannt. Im November 2011 tagte eine gemeinderätliche Arbeitsgruppe für Strassenbenennungen zum Schweizer Otto Raggenbass und zu Otto von Emmich (1848–1915), Kommandierender General des X. Armee-Korps im Ersten Weltkrieg. Es war kein offizieller Ausschuss des Gemeinderates, sondern ein Gremium, in dem auch Nichtmitglieder des Gemeinderates sassen. Später prüfte ein wissenschaftlicher Beirat das Wirken von Namensgeber:innen öffentlicher Orte während der Zeit des Nationalsozialismus. Expert:innen arbeiteten an der Erstellung eines umfangreichen Berichts.

Sechs Personen mit zweifelhafter Vita wurden in den vergangenen acht Jahren benannt. Nach Jahren des Stillstands kam 2022 endlich Bewegung in die Diskussion: Erstmals beriet der Konstanzer Gemeinderat im November 2022 die Angelegenheit, doch erst diesen Sommer beschloss er die Umbenennungen der sechs Strassennamen, darunter auch der Otto-Raggenbass-Strasse.

Wenig Widerstand von Anwohner:innen

Im Vorfeld der betreffenden Gemeinderatsitzung gingen unzählige Vorschläge für neue Strassennamen aus der Bevölkerung ein. Von den Anwohner:innen der sechs Strassen und die dort ansässigen Unternehmer:innen gab es wenig Widerstand. Für sie sei dies ein sehr gravierender Eingriff, weil Personalausweise, Schilder, Geschäftsunterlagen und vieles mehr neu gemacht werden müssten, sagte der Konstanzer Oberbürgermeister Ulrich Burchardt (CDU) bei der Gemeinderatssitzung Ende Juni. Er persönlich war gegen die Entscheidung.

Die Stadtverwaltung wurde beauftragt, mögliche Entschädigungen für Unternehmen und Betriebe zu prüfen, die von der Strassenumbenennung betroffen sind. «Die Umbenennung der Strassen wird voraussichtlich im Herbst dieses Jahres vollzogen, sobald die Entscheidung über mögliche Entschädigungen für betroffene Gewerbetreibende im Gemeinderat gefallen ist», teilt Walter Rügert, Pressereferent der Stadt Konstanz, mit. Unter den neuen Strasenschildern sollen dann auch Ergänzungstafeln angebracht werden, welche die jeweilige Person öffentlich einordnen und die Umbenennungen erläutern.

Dokumente zur Besatzungszeit sind inzwischen zugänglich

Solange die Archive in Frankreich, in denen diverse Akten zur Besatzungszeit lagern, noch nicht frei seien, lasse sich keine definitive Aussage zum Fall Otto Raggenbass machen, kritisierte dessen Familie schon länger. «Herr Moser hat ja nur einen kleinen Aspekt herausgenommen. Vieles ist ungenau. Er ist sicher ein Kenner der Sache, das habe ich bei einem Vortrag im Rosengartenmuseum von ihm auch öffentlich gesagt», erklärte Otto Raggenbass‘ Sohn, der frühere Benediktinerpater und Jurist Thomas «Niklas» Nikolaus Raggenbass (1954) vor einigen Jahren.

Dieses Argument lässt Historiker Anulf Moser inzwischen nicht mehr gelten: «Die französischen Akten zur Besatzungszeit sind inzwischen sehr wohl zugänglich. Sie waren zuerst im Besatzungsarchiv in Colmar, jetzt sind sie Teil des Archivs des französischen Aussenministeriums in Paris. Herr Klöckler vom Stadtarchiv Konstanz hat sie für seine Forschungen zur Besatzungszeit benutzt.»

Niklas Raggenbass und seine Schwester Dorena (1957), bis vor einigen Monaten parteilose Stadträtin in Kreuzlingen, möchten zu diesem Entscheid der Stadt Konstanz keine öffentliche Stellungnahme abgeben, teilten sie auf Anfrage mit.

 

Eine Frau geht vorneweg: Die rabiate Republikanerin Emma Herwegh

Emma Charlotte Herwegh (1817–1904, geborene Emma Siegmund), war eine deutsche Revolutionärin während der Erhebungen von 1848/49 in Frankreich und dem deutschsprachigen Raum, wo sie als einzige Frau an der Seite von 850 Freiheitskämpfern mit Wort und Tat für ein freiheitliches und demokratisches Deutschland kämpfte. Die Revolution scheiterte, sodass sie die Zeit bis zu ihrem Tod 1904 in Paris als als politisch Verbannte und steckbrieflich gesuchte «Verräterin» verbrachte.

Herwegh war ausserdem eine frühe Vorkämpferin der Frauenrechtsbewegung. Für die Männer ihres bürgerlichen Umfelds hatte sie nur Verachtung übrig. Am liebsten wäre sie selbst ein Mann, notiert Emma Herwegh in ihr Tagebuch. Sie gäbe alles dafür: «Alles, damit ich so auftreten könnte, wie’s die innere Stimme mich heischt und der Frauenrock mir verbietet.»

1843 heiratete sie in Baden AG den Dichter Georg Herwegh. Von 1843 bis 1848 führte sie einen Salon in Paris und machte Bekanntschaft mit Heinrich Heine, Karl Marx, Michail Bakunin, George Sand, Victor Hugo und anderen. Von 1853 bis 66 lebte sie in Zürich, wo sie mit Gottfried Keller verkehrte und enge Kontakte zu italienischen Emigranten und deutschen Sozialdemokraten pflegte. Früh begeisterte sie sich für die republikanische Bewegung. (uok)

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